Nach der Ausbeutung (eBook)
272 Seiten
Europa Verlag
978-3-95890-603-7 (ISBN)
- Plädoyer für eine Aufhebung der Trennung zwischen Natur- und Sozialwissenschaften
- Basiert auf der Grundlage heutigen Wissens und erschließt zugleich Neuland für zukünftige Diskussionen
- Propagiert »Mitweltperspektiven« statt überkommener Herrschafts- und Ausbeutungssysteme
Mensch und Natur neu denken
Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass sich die Erde in einem gewaltigen Transformationsprozess befindet. Die globale Klimakatastrophe hat einen Punkt erreicht, an dem die Lebensfähigkeit vieler Ökosysteme und Arten, und auch das Überleben des Menschen, auf dem Spiel steht. Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass es eine radikale Veränderung im Verhältnis zwischen dem Menschen und der nichtmenschlichen Welt geben muss, wenn wir eine lebendige Zukunft des Planeten sicherstellen möchten.
Wie können wir unser Wissen über die Welt erweitern und so gestalten, dass es die Verletzlichkeit des Lebens respektiert und den Menschen als Teil einer planetarischen Lebensgemeinschaft begreift? Welche Konsequenzen hat ein solcher Ansatz für Wissenschaft, Gesellschaft und Politik? Dies sind die Fragen, denen Kocku von Stuckrad in seinem neuen Buch nachgeht.
Dabei argumentiert er auf der Grundlage heutigen Wissens und erschließt zugleich Neuland für zukünftige Diskussionen. Das Buch ist in gut zugänglichem Stil geschrieben und bietet im Anhang Hinweise zur weiteren Vertiefung des Gelesenen. Durch die Einbeziehung poetischer »mitweltworte« des Autors und anderer Zeugnisse aus Kunst und Literatur stellt das Buch zudem ein Beispiel dafür dar, wie Wissen entstehen kann, das sich Ausbeutungsregimen verweigert und in seiner Bewegung immer suchend und verletzlich bleibt.
Kocku von Stuckrad ist ein Religionswissenschaftler, der sich mit zahlreichen Arbeiten zur Geschichte von Philosophie, Religion und Naturwissenschaft in Europa und Nordamerika international einen Namen gemacht hat. Dabei interessiert er sich insbesondere für neue Formen von Spiritualität heute und die Übergänge zwischen Wissenschaft, Religion, Kunst und Politik. Nach Lehrtätigkeiten an den Universitäten Bremen, Erfurt, Bayreuth und Amsterdam ist er seit 2009 Professor für Religionswissenschaft an der Universität Groningen. Kocku von Stuckrad war Präsident der Niederländischen Vereinigung für Religionswissenschaft und ist seit 2018 Co-Direktor der Initiative »Counterpoint: Navigating Knowledge«.
»Ein aufrüttelndes, radikales und auch schönes Buch, das zusätzlich poetische Zeilen des Autors enthält sowie Beschreibungen seiner Wanderungen in Nordskandinavien, wo er sich immer wieder tief mit der „nichtmenschlichen Welt" zu verbinden sucht.«
Rüdiger Sünner Info3 Verlag Zeitschrift September 2024
Kapitel 1
Geschichte der Ausbeutungsregime: Wie
konnte es so weit kommen?
schadensmeldung
entborgene welt
entborgte geborgte verborgte welt
gewalt der sprache gewalt
des denkens gewalt
des handelns
entrissene zerbrochene erbrochene welt
nicht klagend nur wartend
bergen tut not
Es ist kalt und windig. Völlig erschöpft lasse ich meinen Rucksack von der Schulter gleiten. Er ist schwer, mit Proviant für drei Wochen Wanderung. Ich werfe mich neben ihn ins Gras, erleichtert, dass wir diese Flussüberquerung hinter uns haben. Wenn man im Sarek-Nationalpark in Nordschweden unterwegs ist, ist man ganz dem Wetter und der Landschaft überlassen. Da es keine Wege oder Brücken gibt, können sich Flussdurchquerungen als Überraschung herausstellen, und manchmal muss man einen ganzen Tag am Fluss entlanglaufen, um eine gute Stelle zu finden, vielleicht sogar nach ganz oben, wo der Fluss aus dem Gletscher herauskommt. Diesmal war das Wasser nur knietief und trotz der starken Strömung hatten wir keine Probleme, den Fluss zu durchwaten.
Ich besuche diese Landschaft seit 40 Jahren, mein Leben ist mir ihr verwoben. In den letzten Jahren fällt mir auf, dass die Gletscher immer kleiner werden und sich das Wasser in den Flüssen verändert. Seit 65 Millionen Jahren prägen die Berge, Wälder, Flüsse und Gletscher das Bild der Landschaft hier, doch wie lange wird es sie noch geben? Es tut weh, wenn man feststellt, dass ein Menschenleben ausreicht, um massive Veränderungen im Ökosystem zu beobachten, Veränderungen, die maßgeblich von Menschen ausgelöst wurden und werden. Auf meinen langen Wanderungen im Sarek, im ständigen Zwiegespräch mit der Landschaft in mir und um mich herum, spüre ich Scham und Dankbarkeit, Trauer und Hoffnung zugleich. Ich fühle mich verletzlich, und ich fühle die Verletzlichkeit dieser Landschaft. Ich fühle die Winzigkeit des Menschen gegenüber der Größe des Lebens – das gibt mir Hoffnung, trotz der Wut und der Verzweiflung über das, was Menschen diesem Leben antun.
Vielleicht ging es den Menschen in Island ähnlich, die im August 2019 zusammenkamen, um das Begräbnis von Okjökull zu begehen. Okjökull ist der erste Gletscher in Island, der für tot erklärt wurde. Offiziell geschah dies 2014, als sein Eis nicht mehr dick genug war, um sich fortzubewegen. Etwa 700 Jahre lang hat Okjökull als Gletscher gelebt, aber jetzt ist nur noch ein kleiner Fleck Eis auf einem Vulkan übrig. Mehr als 100 Personen nahmen an der Zeremonie teil, darunter Premierministerin Katrin Jakobsdottir, Umweltminister Guðmundur Ingi Guðbrandsson und die ehemalige irische Präsidentin Mary Robinson. Es gab Lesungen, Reden, eine Schweigeminute und die Anbringung einer Gedenktafel mit einem »Brief an die Zukunft« (s. Abbildung 1). Darauf steht: »Dieses Denkmal soll zeigen, dass wir wissen, was geschieht und was zu tun ist. Nur ihr wisst, ob wir es getan haben.« Die Inschrift, verfasst vom isländischen Autor Andri Snaer Magnason, endet mit dem Datum der Zeremonie und der Angabe der Konzentration von CO2 in der Erdatmosphäre – 415 ppm (parts per million).
Abbildung 1: »Ein Brief an die Zukunft« auf der Gedenktafel für den isländischen Gletscher Okjökull, August 2019
Wie konnte es so weit kommen? Das ist der Leitgedanke dieses ersten Kapitels.
Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass sich die Erde in einem gewaltigen Transformationsprozess befindet. Die globale Klimakatastrophe hat einen Punkt erreicht, an dem die Lebensfähigkeit vieler Ökosysteme und Arten und auch das Überleben des Menschen auf dem Spiel stehen. Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass es eine radikale Veränderung im Verhältnis zwischen dem Menschen und der nichtmenschlichen Welt geben muss, wenn wir eine lebendige Zukunft des Planeten auch für den Menschen sicherstellen möchten. Die Zeremonie für Okjökull im Jahr 2019 bringt dies sehr eindringlich zum Ausdruck. Es reicht angesichts existenzieller Bedrohungen nicht mehr, lediglich Krisenmanagement zu betreiben, ohne die strukturellen Ursachen der globalen Krisen ernsthaft anzugehen. Und die reichen weit in unsere Gesellschaften und unsere Geschichte hinein.
Die heutige Situation ist das Ergebnis von Denkmodellen, die den Menschen künstlich, aber systematisch vom Rest des planetarischen Lebens abgegrenzt haben. Die Trennung zwischen »Natur« und »Kultur« ist dabei von entscheidender Bedeutung. Sie ist tief in unsere Lebenswelten eingeschrieben und beeinflusst selbst scheinbar banale Dinge des Alltags. Das wurde mir noch einmal klar, als ich Helen Macdonalds jüngstes Buch Vesper Flights las. Darin schreibt sie: »Absichtlich die falschen Tiere zu füttern – Spatzen, Tauben, Ratten, Waschbären, Füchse – ist eine Übertretung sozialer Normen, die dazu führen kann, dass man von aufmerksamen Nachbarn angezeigt wird, die sich um die Unordnung, die Gesundheit oder den Lärm sorgen oder von bloßer Empörung getrieben sind.« In ihren Essays darüber, wie wir die Welt der Tiere und Pflanzen erleben, sie beschreiben und mit ihr interagieren, legt Macdonald gnadenlos unsere Vorurteile und tief verwurzelten Wahrnehmungsgewohnheiten offen. Diese Gewohnheiten beeinflussen, wie im oben zitierten Beispiel, sogar unsere Vorstellungen darüber, welche Tiere wir im Winter füttern sollten. Macdonald erklärt dies damit, dass in Gärten und Hinterhöfen »die imaginären Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen häuslichem und öffentlichem Raum« überbrückt werden.1
Die Assoziation von »Natur« mit passiven, materiellen, irrationalen, sinnlichen und emotionalen Eigenschaften, während »Kultur« für aktive, dominante, zivilisatorische und geistig-rationale Eigenschaften steht, hat sich über viele Jahrhunderte zu einem Grundpfeiler europäischen Weltverständnisses entwickelt. Dies ist einer der Gründe, warum man in Europa davon ausgegangen ist, dass die Natur zivilisiert, erzogen und kontrolliert werden muss. Auf der anderen Seite hat man die »wilde« Natur als das erhabene »Andere« der menschlichen Zivilisation auch idealisiert.
Die Stilisierung des Menschen als über dem Rest der natürlichen Welt stehend ging einher mit verschiedenen Ausbeutungsregimen, allen voran der patriarchalischen und der kapitalistischen Weltordnung, die das Leben auf unserem Planeten heute bestimmen. Auch die koloniale Ausbeutung nichteuropäischer Gesellschaften ist Teil dieser Weltordnung, die durch philosophische, religiöse, wissenschaftliche und politische Denkweisen über Jahrhunderte gestützt wurde. Wie das alles zusammenhängt, möchte ich in diesem Kapitel umreißen. Es geht mir darum, einen schonungslosen Blick auf den angerichteten Schaden zu werfen, mit dem wir es zu tun haben. Erst dann können wir Strategien entwickeln, um tiefgreifende Veränderungen zum Positiven zu bewirken. Das wird Okjökull nicht wieder lebendig machen, aber vielleicht können wir vom Tod des Gletschers lernen.
Die toxische Trennung von »Natur« und »Kultur«
Sind Nationalparks wie der Sarek in Schweden Natur oder Kultur? Ist Okjökull ein Naturdenkmal, das aufgrund der Einwirkungen von Kultur verschwunden ist? Macht nicht erst die menschliche Kultur etwas zu einem Naturdenkmal?
Die Trennung von Natur und Kultur gehört zu den einflussreichsten Entscheidungen europäischen Denkens und Handelns. Schon in frühgeschichtlicher Zeit entwickelte sich in den Gebieten des Mittelmeerraums und Vorderasiens die Auffassung, dass der Mensch als ein Handelnder der Natur gegenübersteht und diese nach seinen Vorstellungen formt und gestaltet. Man kann vielleicht sogar noch weiter zurückgehen und dieses Denken in der Entstehung von Ackerbau und Tierhaltung verorten, einer »kulturellen« Revolution, die die bisherige Lebensform des Sammelns und Jagens grundlegend veränderte. In dieser Zeit – also vor rund 12.000 Jahren – bildete sich jenes Verständnis, das noch heute unser Denken dominiert. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, wie stark wir die Begriffe Ackerbau und Landwirtschaft mit »Kultur« verbinden, während all das, was »unkultiviert« ist, als der »Natur« zugehörig gilt. Wir »kultivieren« das Land, wir unterscheiden »Kulturlandschaften« von natürlichen Landschaften (oder isolieren diese als »Naturschutzgebiete«), und in der Land-Wirtschaft werden Tiere zu »natürlichen Ressourcen«, die nach menschlichem Gutdünken gezüchtet und getötet werden können.
Es zeigt die lange Vorgeschichte dieses Denkens, dass die Begriffe »Natur« und »Kultur« auf die lateinischen Worte natura und cultura zurückgehen. Schon in der griechisch-römischen Antike hatten die Begriffe ähnliche Bedeutung wie heute in praktisch allen europäischen Sprachen. Und die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur war Gegenstand philosophischen Denkens. Dabei gab es durchaus unterschiedliche Meinungen zur Frage, wie die Natur genau zu verstehen sei, ob als dem Menschen letztlich unverfügbare Welt unter der Herrschaft der Göttinnen und Götter oder aber als ein Bereich der Wirklichkeit, den der Mensch ergründen und damit auch kontrollieren und verändern kann. Letzteres wird von Aristoteles (384–322 v.u.Z.) vertreten, der im ersten Satz seiner berühmten Metaphysik schreibt:...
Erscheint lt. Verlag | 8.8.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie | |
Schlagworte | Erde • Gesellschaft • globale Klimakatastrophe • Konsequenzen • Mensch und Natur neu denken • Ökosysteme und Arten • Politik • Transformationsprozess • Überleben des Menschen • Wissenschaft • Zukunft des Planeten |
ISBN-10 | 3-95890-603-6 / 3958906036 |
ISBN-13 | 978-3-95890-603-7 / 9783958906037 |
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Größe: 3,3 MB
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