»Er hat dich noch nicht mal angefasst« (eBook)
208 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3267-3 (ISBN)
Franziska Saxler hat selbst Erfahrungen mit struktureller Gewalt gemacht: an der Universität als Promovierende in der Psychologie. Daraufhin hat sie mit anderen Betroffenen #metooscience gegründet und eine neue Doktorarbeit begonnen. Thema: sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. In ihrem Buch beleuchtet sie die Macht- und Diskriminierungsstrukturen im Arbeitsleben. Sie zeigt auf, was ein toxisches Arbeitsumfeld ausmacht, und ermöglicht Betroffenen, den Machtmissbrauch zu erkennen und erste Schritte zur Heilung zu unternehmen.
Franziska Saxler hat einen Bachelor-Abschluss in Psychologie und Wirtschaftspsychologie sowie einen Master-Abschluss in Psychologie erlangt und arbeitet an ihrer Doktorarbeit. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Mechanismen der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und interkulturelle Geschlechterforschung. Sie nutzt ihr fundiertes Wissen auch in ihrer Tätigkeit als Yoga-Lehrerin und angehende Psychotherapeutin, um praktische Erfahrungen und theoretisches Wissen im Bereich der Traumaarbeit zu verbinden.
»Dieses mutige Buch entlarvt giftige Machtstrukturen und ebnet den Weg für diejenigen, die bisher geschwiegen haben.« Emilia Roig
Vom Traumjob in die Hölle
Es war kurz nach Mitternacht, und ich lag schon im Bett, als mich eine WhatsApp-Nachricht erreichte. Mein zukünftiger Chef wünschte mir frohe Weihnachten und schrieb, dass sich am Lehrstuhl schon alle sehr auf mich freuten. Dass er mir schon vor meinem Start am Lehrstuhl schrieb, erschien mir wie ein gutes Zeichen.
Schnell überprüfte ich mein WhatsApp-Profilbild. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass er mir dort schreiben könnte. Zum Glück war das Bild unbedenklich, ein Selfie von mir und meiner Schwester, fröhlich, auf keinen Fall unangemessen. Ich schaute mir sein Bild an, auf dem er vor einem Foto von einem Mann posierte. Beide eine Kippe im Mund, beide rissen ihre Augen weit auf. Aber war das nicht Klaus Kinski? Dieser exzentrische Schauspieler und Regisseur, der für seine herausragenden künstlerischen Leistungen ebenso bekannt war wie für seine Wutausbrüche und für den Kindesmissbrauch an seinen beiden Töchtern?
»Ist das ironisch oder ernst gemeint?«, fragte ich mich. Immerhin ist Sören H.1 ein renommierter Professor, der hohes Ansehen in der Forschungsgemeinschaft genießt. Außerdem hatte er bereits zugestimmt, dass ich im Rahmen meiner Dissertation auch Genderforschung betreiben könnte. Jemand, der dem Thema gegenüber aufgeschlossen ist, konnte so ein Bild doch höchstens gesellschaftskritisch meinen, dachte ich mir und schob die Gedanken an Klaus Kinski beiseite.
Ich konnte es kaum erwarten, mein Doktorat anzufangen. Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, nach meinem Master eine Pause zu machen und nach Indien zu reisen – aber das Stellenangebot hatte meinen Plan schnell über Bord geworfen. Die Doktoratsstelle war meine große Chance; es an diesen Lehrstuhl in meiner Lieblingsstadt geschafft zu haben, erfüllte mich mit Stolz. Die Menschen, die dort arbeiteten, sind für ihre herausragende Forschung bekannt, und ich hatte insgeheim schon seit Jahren mit dem Lehrstuhl geliebäugelt. Das unbezahlte Praktikum an der Uni und die Tage, an denen ich mir einen Wecker für fünf Uhr morgens gestellt hatte, um neben meiner Tätigkeit als Hilfskraft an der Universität noch genug Zeit zum Lernen zu haben, hatten sich gelohnt. Auch dass ich einen Zweijahresvertrag mit 70 Prozent Gehalt bekam, war etwas Besonderes: Meistens bekommen Doktorand:innen in Deutschland trotz Vollzeitarbeit nur Gehalt für 50 oder höchstens 60 Prozent ihrer Stunden.
Ich freute mich auf meine Kolleg:innen. Mit einer Kollegin tauschte ich mich bereits über mögliche Genderprojekte aus und hoffte, dass wir bald ein Projekt zusammen aufsetzen würden. Es sollten einige Monate vergehen, bis mir meine Kollegin gestand, dass sie die E-Mail, die ich ihr geschickt hatte, an meinen zukünftigen Doktorvater weitergeleitet hatte. Ich wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass es zwischen den beiden üblich war, sich über die Kolleg:innen am Lehrstuhl intensiv auszutauschen. Meine Kollegin leitete ihm oft alle möglichen Details über mich und andere Kolleginnen weiter: Fotos von mir, von denen ich nicht wusste, dass sie aufgenommen, geschweige denn mit ihm geteilt wurden, oder Informationen aus meinem Privatleben, die ihm ohne meine Zustimmung zugetragen wurden. Auf meine Mail über mögliche gemeinsame Forschungsprojekte mit meiner Kollegin hatte Sören H. mit 23 Smileys geantwortet. »Mensch, wie lieb die auch schreibt!«, kommentierte er die Mail. »Man möchte die gleich auf der Weihnachtsfeier mit Eierlikör abfüllen.«
Einen Monat später war es endlich so weit. Mein erster Arbeitstag, ich platzte fast vor Aufregung. Sören H. machte zunächst eine Tour durch die Gebäude mit mir und klopfte an verschiedene Türen, um mich überall vorzustellen. Dabei lief er in den Büros der Kolleg:innen auf und ab, während diese in der Regel hinter ihrem Schreibtisch verweilten, teilweise verlegen, teilweise amüsiert. Gelegentlich fasste er ungefragt Dinge an oder kommentierte Fotos. Ich spürte die Anspannung, die die Kolleg:innen in seiner Gegenwart zu haben schienen, wusste diese aber nicht einzuordnen. »Das war ja wie bei Stromberg«, platzte es aus mir heraus, als wir mit unserer Bürotour fertig waren. Er lachte laut und sagte, dass ich aber eine ganz Freche sei.
Einige Kolleg:innen waren nicht da, deshalb gab er mir bei einem Spaziergang am Kanal noch mal einen Überblick – es waren Kommentare über die Belegschaft, die ich im Ton und in der Bewertung unangenehm und irritierend fand.
Im Treppenhaus begegneten wir einer weiteren Kollegin. »Das ist die Karen. Karen, bist du jetzt endlich schwanger?«, fragte er sie. Sie starrte ihn schockiert an, lachte aufgeregt, ließ die Frage aber unkommentiert. Es war ersichtlich, dass ihr die Situation unangenehm war. Sobald sie außer Hörweite war, erklärte er mir, dass er gefragt habe, weil sie kürzlich geheiratet hatte und es offensichtlich sei, dass sie nun schwanger werden wolle. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, und dachte verlegen an meine eigene bevorstehende Hochzeit. Ich hatte keineswegs vor, während der Dissertation schwanger zu werden, und überlegte, ob ich ihm das sagen sollte, aber irgendwie ging es ihn ja auch nichts an. Ein paar Wochen später bekam ich Wind davon, dass er tatsächlich ähnliche Schlussfolgerungen in Bezug auf mein Privatleben getätigt hatte. Nur wenige Tage nach Beginn meiner Anstellung sagte er zu zwei Kolleginnen, dass er mich falsch ausgesucht habe. Da ich jetzt heiratete, würde ich direkt schwanger werden und ihm folglich gar nichts mehr bringen.
Ich fand damals nur wenige Worte für das, was da passierte. Ich wusste, dass etwas falschlief, dass das Verhalten meines Doktorvaters sexistisch war. Nur die Ohnmacht, die ich als Reaktion darauf verspürte, die konnte ich mir nicht erklären. Begriffe wie Machtmissbrauch, geschlechterbezogene und sexualisierte Belästigung oder Mobbing waren mir zwar vorher schon über den Weg gelaufen, mein Konzept davon war aber unvollständig, geprägt von falschen Vorstellungen, von Mythen. Mir fehlte die Sprache, um auszudrücken und einzuordnen, was ich erlebte, und so schwieg ich länger, als mir lieb war.
Der Begriff »sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz« ist in Deutschland erst seit den 1960er-Jahren gebräuchlich, was daran liegt, dass das damit assoziierte Verhalten weitestgehend normalisiert war und ist. Menschen, die vor dieser Zeit belästigt wurden, konnten nur schwer beschreiben oder einordnen, was ihnen passiert war. Wenn sie es dennoch versuchten, wurden ihre Erfahrungen in der Regel als harmlose Flirts abgetan oder nur als problematisch anerkannt, wenn sie mit körperlicher Gewalt einhergingen. Belästigende verstanden deshalb oft nicht, wie unangemessen ihr Verhalten war. Sie mussten nicht reflektieren, warum ihr Verhalten problematisch war, sondern profitierten davon.
Das änderte sich erst, als immer mehr Menschen begannen, Belästigung beim Namen zu nennen und darüber zu sprechen, dass sie unter solchem Verhalten litten. Darüber, dass es sie belastete und daran hinderte, in Ruhe ihrem Job nachzugehen. So wurden gesellschaftliche Debatten losgetreten, die übergriffiges Verhalten diskutierten und problematisierten. Im Jahr 1977 erschien der erste Artikel zum Thema mit dem Titel »Angequatscht, betatscht, vernascht« im Stern-Magazin. Acht Betroffene kamen dort zu Wort. Die Frauen, die in dem Artikel namentlich vorkamen, waren nach Veröffentlichung des Artikels Anfeindungen, weiteren Belästigungen, obszönen Telefonanrufen und Drohungen ausgesetzt. Weil sie es gewagt hatten, über ihr eigenes Erleben zu sprechen. Eine von den Frauen ist Annelie, mit der ich für dieses Buch sprechen durfte. Sie ist die erste Frau, die in Deutschland gegen Belästigung am Arbeitsplatz geklagt hat. Im Kapitel »Mythos Belästigung« erzählt sie von den Attacken, denen sie ausgesetzt war.
Erst 14 Jahre später ließ die damalige Bundesfrauenministerin Angela Merkel eine erste bundesweite Studie zum Thema Belästigung durchführen. Mit dem Ergebnis, dass sexualisierte und geschlechterbezogene Belästigung am Arbeitsplatz ein epidemisches Ausmaß angenommen hatte. Drei von vier Frauen hatten demnach sexualisierte Belästigung erlebt. Jede zweite Frau gab an, anzüglichen Bemerkungen ausgesetzt zu sein, also geschlechterbezogene Belästigung zu erleben. Jeder fünften Frau wurde schon einmal unerwünscht an die Brust gegrapscht, und jede zehnte Frau hatte eine Aufforderung zu sexuellem Verkehr durch Vorgesetzte oder Kollegen erlebt.2 Ein Jahr später legte Merkel den ersten Entwurf eines Gesetzes gegen sexuelle Belästigung vor, wofür sie viel Spott erntete. Die Bild am Sonntag veröffentlichte ein unvorteilhaftes Foto von ihr und titelte hämisch: »Würden Sie diese Frau einstellen?«
Auf meinen ersten missglückten Arbeitstag folgten Monate, in denen mein Chef meine persönlichen Grenzen immer wieder herausforderte oder überschritt. So bat er mich zum Beispiel eines Morgens, ihn mit meinem Auto bei sich zu Hause abzuholen, damit wir gemeinsam zur Arbeit fahren könnten. Als ich bei ihm angekommen war, erreichte mich folgende Nachricht per Whatsapp: »Ich habe ewig viel von dir geträumt komischerweise! Das ist...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2024 |
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Reihe/Serie | Reihe: Wie wir leben wollen |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Bewerbung / Karriere |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft | |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Psychologie | |
Schlagworte | Diskriminierung • Doktorarbeit • Forschung • Geschlecht • Gewalt • LGTBQ • Machtmissbrauch • Opfer • Sexismus • Sexualisierte Gewalt • Täter • toxisch • Übergriff • Universität • Vorgesetzte |
ISBN-10 | 3-8437-3267-1 / 3843732671 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3267-3 / 9783843732673 |
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