Mit der eigenen Vergangenheit leben (eBook)

Eine Philosophie für den Aufbruch

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
256 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28094-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mit der eigenen Vergangenheit leben - Charles Pépin
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Eine Philosophie, die Mut macht: Wie die eigene Vergangenheit zur Kraftquelle wird.
Die Vergangenheit vergeht nicht. Sie ist immer präsent. Wie ist es möglich, eine fruchtbare Beziehung zu den eigenen Erinnerungen aufzubauen? Die Neurowissenschaften bestätigen heute, was die Philosophie schon lange weiß: Das Gedächtnis ist dynamisch und beweglich. Unsere Erinnerungen sind nicht starr, sie ähneln einer Partitur, die es zu interpretieren gilt.
Der Philosoph Charles Pépin bringt antike Weisheiten, kognitive Wissenschaften, neue Therapieformen und Klassiker der Philosophie zusammen. Das individuelle Glück hängt mit der Fähigkeit zusammen, gut mit der eigenen Vergangenheit zu leben. Sie kann zu einer Kraftquelle für die Zukunft werden - das beweist dieses vor Optimismus sprühende Buch.

Charles Pépin, geboren 1973, ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Bei Hanser erschienen zuletzt Die Schönheit des Scheiterns (2017), Sich selbst vertrauen (2019) und Kleine Philosophie der Begegnung (2022). Charles Pépin lebt in Paris.

Einleitung


Mit dem Bohneneintopf oder den Rinderrouladen, die wir an Sonntagen mit so großer Freude zu kochen pflegen, mit diesen Gerüchen und Geschmäckern knüpfen wir an unsere Kindheit an, an unsere Oma, die sie so vorzüglich zuzubereiten wusste.

In unserem Verhältnis zur Arbeit, unserem zuweilen übertriebenen Perfektionismus, werden wir wieder zu dem Jugendlichen von damals, der sich vor den Vorhaltungen des Vaters oder eines autoritären Lehrers fürchtete.

In unserer Art zu lieben, um jeden Preis daran zu glauben, lassen wir den Idealismus unserer Mutter fortleben; das, was wir mit unseren Kinderaugen von der Liebe gesehen haben.

In den Werten, an die wir glauben, und in den Dingen, die uns wichtiger sind als alles andere, überdauern die Spuren unseres Herkunftsmilieus, unserer Erziehung und unserer einschneidenden Begegnungen.

Sogar wenn wir uns in Betrachtung versenken, sind wir nicht einfach nur im gegenwärtigen Augenblick: Die Landschaft, die uns mitten ins Herz trifft und wie durch Zauberhand mit der Welt versöhnt, das Licht der Sommerabende, das wir so gern wiederfinden, der Wein, der uns gleich beim ersten Schluck auf eine Reise schickt — all das zu lieben, ihre Schönheit zu genießen, ihre Kraft zu spüren, haben wir gelernt.

Alles, was wir sind, unsere guten wie unsere schlechten Seiten, unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Träume und Ambitionen, aber auch unsere Ängste und Sorgen, unsere Freuden und Leiden, unsere Reaktionen, unsere Weltsicht und natürlich unsere Gewohnheiten: All dies entspringt unserer Vergangenheit. Und in allem ist die Vergangenheit gegenwärtig. Wir glaubten, sie läge hinter uns, dabei macht sie sich kontinuierlich bemerkbar.

Diese Vergangenheit, die nicht vergeht, hält sich noch hartnäckiger im Kern jener Dinge, die wir bedauern oder bereuen, in der Erinnerung an unsere Fehlschläge, an jene Momente, die sich uns eingebrannt haben und sich immer dann in Erinnerung rufen, wenn uns Zweifel befallen. Aber sie hält sich auch, wiewohl eher im Hintergrund, in der Erinnerung an schöne Dinge, an unsere ersten Gefühlswallungen, unsere prägendsten Entdeckungen, unsere Erfolge.

Egal, ob wir glücklich oder unglücklich sind, unsere Vergangenheit kehrt unentwegt zurück. Sie lädt sich ungebeten in unsere Gegenwart ein: bei der Arbeit, auf der Straße, zu Hause, unerwartet, zurückgerufen durch eine flüchtige Sinnesempfindung. Ein kurzes Verweilen, und schon taucht sie aus den Tiefen unserer Geschichte auf und spült einen Schwall von Erinnerungen hoch, die uns in sanfte Nostalgie oder bittere Melancholie versetzen. Mitunter überfällt sie uns auch, gnadenlos, intensiv, blendend wie der Blitz eines alten Traumas, der uns ins Wanken bringt, allzu oft im ungünstigsten Moment. Eine unglückliche, schmerzhafte Erinnerung oder eine Verletzung, die wir am liebsten vergessen würden, kommt immer wieder hoch, als wären wir dazu verdammt, diese Szene endlos zu durchleben. Wir möchten uns von der unglücklichen Vergangenheit frei machen und die glücklichen Tage wiederkehren lassen, doch meistens scheitern wir mit dem einen wie mit dem anderen. Je mehr wir vergessen wollen, desto mehr Kraft verleihen wir den Erinnerungen, die uns zusetzen. Je mehr wir vergangene Freuden wiederaufleben lassen wollen, desto bitterer die Nostalgie. Ein seltsames Ding ist die Vergangenheit: Sie lässt sich nicht rückgängig machen und sucht doch fortwährend unsere Gegenwart heim. Wie die Antlitze unserer Verstorbenen, wenn sie uns besuchen.

Es wäre ein Fehler zu glauben, dass das Gestern allein der Vergangenheit angehört. In Wirklichkeit vergeht die Vergangenheit nicht; wir bestehen zu weitaus größeren Teilen aus Vergangenheit als aus Gegenwart. Jeder erlebte Augenblick schließt sich eilends der Vergangenheit an, die sich endlos weiter aufbläht wie ein Segel bei Rückenwind. In der Gegenwart sind wir nur Passanten: Je weiter wir im Leben voranschreiten, desto reicher an Erlebtem sind wir. Daher ist es für uns essenziell, gut mit unserer Vergangenheit zu leben und den richtigen Abstand zu ihr zu finden. Um uns selbst besser zu kennen und zu verstehen, um zu wissen, was wir geerbt haben, aber vor allem, um nicht ins Grübeln und Wiederkäuen zu verfallen wie diejenigen, die nicht mit, sondern in ihrer Vergangenheit leben und manchmal auch in Neurosen oder Ressentiments gefangen sind.

Ohne die Lichtmomente des Gestrigen sehen wir nichts vom Morgigen, und das immer größer und stärker werdende Segel treibt uns irgendwohin. Unser Leben entgleitet uns, wir werden zu blinden Passagieren.

Um zu begreifen, wie unsere Vergangenheit in der Gegenwart auf uns einwirkt, müssen wir untersuchen, wie unser Gedächtnis funktioniert. Denn hier befindet sich unsere Vergangenheit: in uns, nicht hinter uns. Lange Zeit haben wir irrigerweise das Gedächtnis auf einen simplen Erinnerungsspeicher reduziert, inzwischen wissen wir aber dank der Fortschritte der Neurowissenschaften, dass es viel mehr ist: Unser Gedächtnis ist komplex und beweglich, es ist das pochende Herz unseres Gehirns, das sich seinerseits durch Plastizität und die Fähigkeit auszeichnet, sich ständig selbst umzustrukturieren und unablässig neue Nervenverknüpfungen anzulegen. Dieses neue Verständnis des Gedächtnisses, das die heutige Kognitionswissenschaft etabliert hat, bricht mit dem Bild, das wir uns bis dato von den Erinnerungen gemacht haben: als Daten, die auf einer Festplatte gespeichert werden. Auch die Erinnerungen sind lebendig; sie werden regelmäßig abgerufen, bekräftigt, zementiert, zuweilen neu erschaffen und sogar erfunden.

Unser Gedächtnis gleicht einem neuen Kontinent, wo faszinierende Entdeckungen auf uns warten: Unsere Vergangenheit ist zugleich ein Schicksal, das umarmt, und ein Material, das bearbeitet werden will, und unsere Erinnerungen sind eher erfinderische Rekonstruktionen als objektive Daten. Die Revolution der Neurowissenschaften eröffnet uns vollkommen neue Felder: Wir haben die Möglichkeit, auf vergangenes Unglück zurückzublicken, um das Toxische daran zu neutralisieren, und die Möglichkeit, verlorenes Glück in die Gegenwart zu holen, um es wieder zu genießen. In unsere Vergangenheit eingreifen zu können, ist keine Fiktion, sondern wissenschaftlich erwiesen und stellt vor allem eine existenzielle Möglichkeit für uns alle dar. Die vielversprechende Revolution hat bereits zu neuen psychotherapeutischen Methoden der sogenannten Gedächtnisrekonsolidierung geführt. Wenn wir die Funktionsweise unseres Gedächtnisses besser verstehen, können wir auf unsere Vergangenheit und damit auch auf unsere Gegenwart einwirken, auf unser Vermögen, uns vorwärts zu bewegen. Während Freud oder Lacan uns aufforderten, die Vergangenheit zu akzeptieren, da sie nicht zu ändern sei, legen uns die neuen, neurowissenschaftlich ausgebildeten Therapeuten nun nahe, unsere Vergangenheit zu verändern, um offen für die Zukunft zu sein.

Im Lichte dieser außergewöhnlichen Reise in unser Gehirn werden wir nicht nur manche antike Weisheit wiederfinden und ihre verblüffende Aktualität ermessen, sondern auch jüngere Philosophen, angefangen bei Friedrich Nietzsche über Henri Bergson bis hin zu Hannah Arendt, die die wesentliche Bedeutung des Gedächtnisses — und des Vergessens — für die Entwicklung der Persönlichkeit, den Erfolg unseres Handelns und für unser Glück erkannt haben. Wir werden uns auf sie stützen und dank ihnen lernen, wie wir mit unserer Vergangenheit besser leben können. Daneben werden wir aus Literatur und Kunst schöpfen: die Proust’schen Reminiszenzen, die schöpferische Fantasie von Hervé Le Tellier, die traumartigen Inszenierungen von David Cronenberg und David Lynch, die Schriften von Jorge Semprun und Simone Veil über die Lagererfahrung, die Schilderung der Trauer um ihren Mann von Joan Didion, die ergreifenden Melodien von Barbara bis hin zum vielseitigen Talent von Zlatan Ibrahimović. Denn diese Künstlerinnen und Künstler des Worts, des Bilds oder des Balls machen für uns nachvollziehbar, was uns die Neurowissenschaften lehren: Obwohl unsere Vergangenheit uns zu dem gemacht hat, was wir sind, sind wir nicht einfach das, was sie aus uns gemacht hat; wir haben keinen Grund, uns von unserer ...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2024
Übersetzer Caroline Gutberlet
Sprache deutsch
Original-Titel Vivre avec son passé
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Schlagworte Didier Eribon • Dynamische Rekonstruktion • Gedächtnis • Glücklich leben • gut altern • Hartmut Rosa • Henri Bergson • Schöpferische Rekapitulation • Sigmund Freud • Stoiker • toxische Vergangenheit • Vergangenheit neu denken
ISBN-10 3-446-28094-4 / 3446280944
ISBN-13 978-3-446-28094-6 / 9783446280946
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