Das Licht der letzten Tage (eBook)
288 Seiten
O.W. Barth eBook (Verlag)
978-3-426-44642-3 (ISBN)
ALEXANDER BATTHYÁNY, geb. 1971, ist Direktor des Viktor-Frankl-Forschungsinstituts für theoretische Psychologie und personalistische Studien an der katholischen Pázmány Péter Universität in Budapest und lehrt an den Universitäten von Wien und Moskau. Er leitet das Viktor-Frankl-Institut in Wien und hat zahlreiche Fachpublikationen veröffentlicht, die in zwölf Sprachen übersetzt wurden.
ALEXANDER BATTHYÁNY, geb. 1971, ist Direktor des Viktor-Frankl-Forschungsinstituts für theoretische Psychologie und personalistische Studien an der katholischen Pázmány Péter Universität in Budapest und lehrt an den Universitäten von Wien und Moskau. Er leitet das Viktor-Frankl-Institut in Wien und hat zahlreiche Fachpublikationen veröffentlicht, die in zwölf Sprachen übersetzt wurden.
2.
Verlust und Übergang
Vergessen, Demenz und Person
Zwar nimmt im Allgemeinen die Gedächtnisleistung für neu erworbene Informationen mit dem Alter ab; aber das Wissen um unsere Identität und die identitätsstiftenden, länger zurückliegenden Erinnerungen bleibt uns meist auch noch bis ins hohe Alter erhalten. Die Altersforschung sagt uns, dass für viele ältere Menschen diese private Welt der Erinnerungen eine Art Rückzugsgebiet ihres eigenen Lebens ist. Unsere Lebensgeschichte, Entscheidungen und Handlungen verdichten sich so zu dem, was wir geworden sind: Was mit unserer Geburt als Möglichkeit ins Leben trat, wird zuletzt als biografisch gewordene Wirklichkeit aus diesem Leben treten. Das bleibt für die meisten bis zum Ende: Wir sterben als jemand, nicht als etwas.
Nicht wenige von uns kennen aber auch Fälle, in denen Menschen aufgrund einer Demenz- oder anderweitigen neurologischen Erkrankung schon zu Lebzeiten ihre eigene private Welt der Erinnerung, manchmal sogar ihre bisherige Wesensart, gleichsam wegbricht: Der Kunsthistoriker etwa, der noch vor wenigen Jahren viel beachtete Bücher über die italienische Renaissancemalerei verfasst hat, vergisst aufgrund eines schnell wachsenden Gehirntumors alles, was er je über dieses Thema wusste. Bald wird er auch seine eigene Frau und seine Kinder nicht mehr erkennen. Die Mutter und Großmutter, die ihre Familie stets mit ihrer Liebe und Wärme umsorgt hat, verliert mit fortschreitender Demenz allmählich das Interesse an ihren Kindern und Enkelkindern, kann sich bald nicht mehr an deren Namen erinnern und vergisst schließlich, dass sie überhaupt Kinder und Enkelkinder hat:
»Papi, ich bin’s, Scotty … dein jüngster Sohn.«
Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Worte einmal würde aussprechen müssen – Worte, die von Schmerz und Traurigkeit erfüllt sind. Ich musste noch lernen, die Tatsache zu akzeptieren, dass mein Vater mich nicht mehr erkannte. Er hatte mein Gesicht vergessen. Er hatte meinen Namen vergessen. Und dieses Vergessen war für mich viel schwieriger, als ich erwartet hätte. […] Nichts hatte mich auf dieses neue Kapitel in meinem Leben vorbereitet, in dem es hieß, einen Vater lieben und für ihn sorgen zu lernen, der sich nicht mehr an seinen eigenen Sohn erinnern konnte.6
Angehörige und im Frühstadium der Erkrankung auch die Betroffenen selbst sehen sich angesichts dieses Krankheitseinbruchs oft einem doppelten Leidensdruck ausgesetzt: Alles ändert sich, Alltag und Existenz.
Zum einen muss das alltägliche Leben mit den und für die Betroffenen bewältigt werden. Das ist belastend genug. Aber die eigentlichen Fragen beginnen dann, wenn man zur Ruhe kommt, wenn das Tagwerk erledigt ist. Die ersehnte Entspannung will sich nicht recht einstellen; die Gedanken kreisen, die Unruhe wächst. Man sieht ja dem tagtäglichen Verfall eines geliebten Menschen zu; das ist schmerzhaft genug. Aber eigentlich sieht man noch viel mehr: Man sieht, wie anfällig und hinfällig menschliches Leben insgesamt sein kann. Das wirft Fragen auf, und diese Fragen gehen weit über die Bewältigung des Alltags hinaus. All das Reden vom Sterben als Ort menschlicher Würde und Sinnhaftigkeit, all die Hoffnungen, von denen etwa unsere Religionen und Weisheitstraditionen sprechen, erscheinen zunehmend fragwürdig, wenn doch das große Vergessen alles rauben zu können scheint, was der Mensch einst geworden und gewesen ist. Genau genommen erscheint damit alles fragwürdig: »Ist das alles, was von uns bleibt?«, fragen die Angehörigen. »Und wenn das wirklich alles sein sollte, welchen Sinn kann dann irgendetwas von dem, was vorher war, noch haben, je gehabt haben?«
Manche sagen uns, dass mit diesen (unbeantworteten) Fragen auch die letzten verbleibenden Quellen des Trostes zu versiegen drohen – ihr Glaube an eine Seele, ihre religiösen oder metaphysischen Hoffnungen auf eine menschliche Bestimmung, die größer und umfassender ist und von den Auswirkungen der Demenz und ähnlicher Erkrankungen unberührt bleibt: »Aber wie kann ich Trost im Glauben an eine Dimension des Geistes finden, wenn mir die Erkrankung meines Angehörigen so deutlich vor Augen führt, dass diese Dimension vielleicht gar nicht existiert? Wenn ich täglich mitansehen muss, wie zerbrechlich diese vermeintlich geistige Dimension angesichts der Übermacht einer körperlichen Erkrankung letztlich ist?«, fragen sie.
Um Leben und Tod
Greifen wir diese Fragen auf. Wir müssen dafür etwas ausholen; denn es geht hier bei näherem Hinsehen nicht mehr nur allein um das konkrete Schicksal der Demenzkranken. Die Demenz ist so gesehen nur ein Test- oder der Ernstfall unseres Menschenbilds. Die dahinterliegende Frage berührt uns alle: Wenn etwa die Unversehrtheit des Ichs der Demenzkranken so sehr von der Unversehrtheit ihrer Gehirnfunktionen abzuhängen scheint, muss man dann nicht folgerichtig annehmen, dass auch das Ich, der Geist, die Persönlichkeit der Nichterkrankten letztlich ebenso abhängig – vielleicht gar nur ein Produkt – von intakter Gehirnaktivität sind? Dass folglich jede Vorstellung einer »Seele« und jegliches Nachdenken über die Möglichkeit eines künftigen Schicksals dieser Seele jenseits des Körperlichen, wie sie etwa von religiösen Traditionen in den Raum gestellt wird, tatsächlich hoffnungslos antiquiert und naiv sind? Mit einem Mal, so scheint es, steht damit nicht nur das Erlebte und Erinnerte, das zuletzt die Krankheit raubte, infrage, sondern auch der Erlebende selbst. Was also sagt uns all dies über das Schicksal des Ichs, insbesondere im Hinblick auf Tod und Sterben?
Eine nüchterne Bilanzierung dessen, was uns die Auswirkungen der Demenzerkrankungen über unser Wesen zunächst mitteilen, scheint auf den ersten Blick tatsächlich nicht viel Raum für etwas eigenständiges Seelisches zu lassen. Damit aber wird auch etliches fragwürdig, was viele von uns gemeinhin in Bezug auf das Wesen des Ichs annehmen oder glauben oder hoffen, glauben zu können: dass unser Ich mehr ist als nur ein Produkt oder eine Fiktion der komplexen Maschinerie unseres Gehirns. Dass etwas an uns geborgen ist, auch wenn der Organismus uns nicht mehr tragen kann. Dass wir nicht Funktion von etwas sind, sondern nach wie vor jemand – auch lange noch, nachdem sich alle Funktion eingestellt hat.
Das Sterben des Sokrates
Die meisten spirituellen und religiösen Traditionen – und damit jene Traditionen, die über lange Zeit in hohem Maße unsere Kulturgeschichte und mit ihr unser Selbst- und Weltverständnis geprägt haben – gehen davon aus, dass wir etwas Unzerstörbares, in manchmal nur geahnte Sinnzusammenhänge Eingebundenes, Ewiges und Wahres in uns tragen und bewahren, das über Krankheit und womöglich auch über den Tod hinaus Bestand hat – unsere gewohnte Sprache sagt: die Seele. Wir erfahren sowohl die überwältigende Mannigfaltigkeit und Schönheit der Natur als auch ihre Gefahren: Sie erschafft und sie trägt unser Leben und bedroht es zugleich auf vielfältigste Weise. So hofften wir und glaubten oft daran, dass es außerhalb von Zeit und Raum eine andere, sicherere, uns in Geborgenheit haltende Welt gibt, aus der wir kommen und in die wir schließlich zurückkehren werden. Religionsgeschichte und -psychologie sagen uns, dass dieser Glaube früher nahezu allgegenwärtig gewesen ist. Er gab uns die Hoffnung, dass das Ich letzten Endes und im eigentlichen Wesenskern unverlierbar, dass es behütet ist – dass es nicht vollständig Alter, Krankheit und Tod unterworfen ist.
Eines der bekanntesten und wohl berührendsten, auch schönsten und heroischsten Zeugnisse dieser Hoffnung verdanken wir Sokrates. Sokrates – einer der ersten Menschen in der Geschichte, von dem berichtet wird, er sei seiner kompromisslos vertretenen Weisheit wegen zum Tode verurteilt worden – bereitet seine Schüler auf sein Ende vor. Sich selbst muss er, so scheint es, nicht mehr darauf einstimmen: Wer so spricht, begegnet dem eigenen Tod auf Augenhöhe:
Und so ist denn dieses, ihr Männer, wohl wert, bemerkt zu werden, dass wenn die Seele unsterblich ist, sie auch der Sorgfalt bedarf nicht für diese Zeit allein, welche wir das Leben nennen, sondern für die ganze Zeit, und das Wagnis zeigt sich nun eben erst recht furchtbar, wenn jemand sie vernachlässigen wollte. Denn wenn der Tod eine Erledigung von allem wäre: so wäre es ein Fund für die Schlechten, wenn sie sterben, ihren Leib loszuwerden, aber auch ihre Schlechtigkeit mit der Seele zugleich. Nun aber diese sich als unsterblich zeigt, kann es ja für sie keine Sicherheit vor dem Übel geben und kein Heil, als nur wenn sie so gut und vernünftig geworden ist als möglich. Denn nichts anderes kann sie doch mit sich haben, wenn sie in die Unterwelt kommt, als nur ihre Bildung und Nahrung, die ihr ja auch, wie man sagt, gleich so, wie sie gestorben ist, den größten Nutzen oder Schaden bringt, gleich am Anfang der Wanderung dorthin.7
Daraufhin beginnt...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2024 |
---|---|
Übersetzer | Horst Kappen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität |
Schlagworte | Alexander Batthyány • Geschichten vom Sterben • Jenseits Erfahrung • Leben nach dem Tod buch • Nahtod • Nahtod Buch • nahtoderfahrung buch • Nahtoderfahrungen • Nahtoderfahrungen Berichte von Menschen • nahtoderfahrung wahre begebenheit • Nahtoderlebnisse • nahtod forschung • Sterben • Sterben Buch • Terminale Geistesklarheit • terminale Luzidität • Tod • tod buch |
ISBN-10 | 3-426-44642-1 / 3426446421 |
ISBN-13 | 978-3-426-44642-3 / 9783426446423 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,7 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich