Die verwundbare Demokratie (eBook)
304 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-28095-3 (ISBN)
Während Populisten überall auf der Welt die freiheitliche Rechtsordnung aushebeln, halten wir unsere Demokratie noch immer für unverwundbar. Die Feinde der demokratischen Vielfalt missbrauchen unter dem Vorwand, die wahren Interessen des Volkes zu vertreten, das Recht. Was droht Deutschland? Maximilian Steinbeis, Jurist und streitbarer Experte für alle Fragen zur Verfassung, zeigt am Beispiel Thüringen, wie Populisten den freiheitlichen Staat zerstören könnten, indem sie Gesetze und Institutionen missbrauchen: Schulen und Universitäten, Justiz und Polizei, Medien und Kunst. Es bleibt nur noch wenig Zeit, unsere Freiheit gegen diese Angriffe zu verteidigen. Maximilian Steinbeis schärft unser Bewusstsein für die Bedrohungen, denen unsere freie Gesellschaft ausgesetzt ist.
Maximilian Steinbeis, Jahrgang 1970, studierte Jura und arbeitete zunächst als Redakteur für das Handelsblatt, daneben veröffentlichte er auch literarische Texte. Seit 2009 betreibt er den Verfassungsblog, wo internationale Autor:innen wissenschaftliche Fragen im Grenzbereich von Politik und Recht diskutieren. Zuletzt erschienen: Mit Rechten reden. Ein Leitfaden (mit Per Leo und Daniel-Pascal Zorn, 2017), Die Zauberlehrlinge. Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch (mit Stephan Detjen, 2019).
„Die 300 Seiten sind, so viel vorweg, auch dank vieler Helfer exzellent recherchiert und betont sachlich gehalten; den Alarm läuten hier die Erkenntnisse, rhetorische Verstärkung war nicht nötig. Jedenfalls empfiehlt sich das Buch als Pflichtlektüre für Politikseminare, besser noch für Parteizentralen und Landesregierungen.“ Wolfgang Janisch, Süddeutsche Zeitung, 22.07.24
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Vor der Regierung
Recherche: Hannah Katinka Beck und Juliana Talg
Nach der Wahl
Was nun folgt, ist ein Gedankenexperiment — oder die Beschreibung einer neuen politischen Realität. Angenommen, am Abend des 1. September 2024 um kurz nach 18 Uhr steht fest, dass bei den Landtagswahlen im Freistaat Thüringen eine autoritär-populistische Partei mit Abstand am meisten Stimmen geholt hat. Bei knapp 35 Prozent bleibt der blaue Balken stehen. Der rote und der schwarze Balken nehmen sich daneben wie Stummel aus, von dem grünen, dem gelben und dem anderen roten ganz zu schweigen. Und auch die neu hinzugekommenen Farben haben am Ende nichts an dem Ergebnis ändern können. Der autoritäre Populismus hat diese Wahl mit großem Abstand gewonnen.
In Thüringen, wie in allen Bundesländern und im Bund, bemisst sich die Zahl der Sitze im Landtag proportional zum Stimmenanteil:1 Ein gutes Drittel der Stimmen heißt ein gutes Drittel der Sitze. Das ist noch keine Mehrheit, aber deutlich mehr, als die anderen Parteien erreichen konnten. Die Abgeordneten der autoritär-populistischen Partei werden die größte Fraktion im neuen Landtag sein.
Noch sind viele von ihnen aber noch gar keine Abgeordneten. Noch ist der neue Landtag zwar gewählt, aber noch nicht zusammengetreten.2 Es gibt ihn sozusagen noch gar nicht. Das Parlament existiert immer nur auf Zeit, es konstituiert sich nach jeder Wahl neu. In Deutschland ist allerdings heutzutage, anders als etwa in Großbritannien, verfassungsrechtlich dafür gesorgt, dass es zu jedem Zeitpunkt ein Parlament gibt. Die alte Wahlperiode endet erst, wenn der neu gewählte Landtag zusammentritt.3 Es gibt keine parlamentslosen Zeiten. Der Streich, den Boris Johnson dem britischen Parlament im Brexit-Streit mit der »prorogation of Parliament« gespielt hat,4 wäre in Deutschland legal nicht möglich. Es gibt immer ein Parlament, es ist nur nicht immer das gleiche. Der alte Landtag bleibt nur existent, bis der neue zusammentritt. Was er als Gesetz beschlossen hat, bleibt von ihm übrig. Alles andere — Mandate, Ämter, Gremien, Beschlüsse — verfällt der sogenannten Diskontinuität.5
Der neue Landtag tritt also zusammen zu seiner sogenannten konstituierenden Sitzung. Das hat binnen 30 Tagen nach der Wahl zu geschehen,6 also noch bevor der September vorüber ist. Der Plenarsaal in Erfurt füllt sich mit alten und vielen neuen Gesichtern. In den Wochen seit der Wahl hat die Landtagsverwaltung den Plenarsaal umgebaut und die Sitzreihen entsprechend den neuen Größenverhältnissen neu arrangiert. Der mit deutlichem Abstand größte Block an Sitzen findet sich nun ganz rechts. In der ersten Reihe nimmt Björn Höcke Platz.
Diese konstituierende Sitzung braucht eine Leitung. Es gibt ja keinen Landtagspräsidenten mehr. Das Amt der Präsidentin des alten Landtags Birgit Pommer (Linke) ist mit dem Zusammentritt des neuen beendet. Diese Lücke wird traditionell nach einer Regel gefüllt, die betont und bewusst unpolitisch ist: Niemand soll da eine Mehrheit für sich organisieren müssen, keine Minderheit überstimmt werden. Diese Sitzungsleitung soll ja eine reine Formalität sein und bleiben. Deshalb übernimmt diese Rolle traditionell die Person unter den Abgeordneten, die am ältesten ist. Allerdings ist es ebenso Tradition, dass diese:r sogenannte Alterspräsident:in zur Eröffnung des neuen Parlaments eine feierliche Rede hält, und Teil dieser deutschen Tradition ist ihr Missbrauch: Für die Eröffnung des Reichstags am 6. Februar 1932 hatte die NSDAP den fast 83-jährigen ehemaligen Infanteriegeneral Karl Litzmann in ihren Reihen, der, wie schon im vorherigen Reichstag die Kommunistin Clara Zetkin,7 diese Rede zur Agitation nutzte und Adolf Hitler als »den Mann« pries, »der allein befähigt ist, unser Vaterland zu retten«, und »in dem Millionen von Volksgenossen den größten und besten der lebenden Deutschen erkennen«.8 Als sich 2017 abzeichnete, dass die AfD in den Bundestag einziehen und dieses Amt einem adeligen Ostpreußen mit fragwürdigen Ansichten über den Holocaust zufallen würde, änderte die Mehrheit im Bundestag die Regeln. Seither ist es nicht mehr die älteste Person an Lebens-, sondern an Mandatsjahren, die diese Rolle übernimmt. Anstatt klar zu benennen, dass man damit einer Politisierung dieses aus guten Gründen rein formellen Amts durch die AfD vorbeugen wollte, taten Union und SPD so, als sei ihnen an der »Erfahrung« der Alterspräsident:in gelegen; eine Ausflucht, die die Grünen-Abgeordnete Britta Haßelmann mit gewissem Recht als »verschwiemelt« bezeichnete.9 Seither waren es mit Hermann Otto Solms (2017) und Wolfgang Schäuble (2021) altgediente Politiker der Mitte, die den Bundestag eröffneten, und die AfD durfte sich dafür in jeder Eröffnungssitzung des Bundestags immer wieder neu darüber erregen, dass die Mehrheit nur wegen ihr mit einer alten Parlamentstradition gebrochen hat.10 In Thüringen hielt man das bisher nicht für nötig. Dort leitet nach der Geschäftsordnung des Landtags11 weiterhin die älteste Person nach Lebensjahren die Eröffnungssitzung.12 Schon 2019 war das ein AfD-Abgeordneter. Und 2024 könnte es auch eine:r sein.
Wichtiger als die Rede ist aber die Wahl der neuen Landtagspräsident:in, die die Alterspräsident:in zu leiten hat. Das ist ein Amt, von dem man im Normalfall selten Notiz nimmt, das aber, wie wir gleich sehen werden, in unserem Szenario noch sehr relevant werden kann. Zunächst ist diese Wahl auch für den neuen Landtag existenziell wichtig: Solange sie nicht über die Bühne gegangen ist, kann er nicht arbeiten. Mit der Wahl einer Präsident:in konstituiert sich der neue Landtag.13 Erst dann ist er arbeitsfähig, kann er Beschlüsse fassen und die neue Ministerpräsident:in wählen, erst dann kann in Thüringen regiert und Politik gemacht werden.
Auch dafür gibt es eine Konvention: Den Parlamentspräsidenten nominiert nach, wie es so schön heißt, »altem Parlamentsbrauch«14 stets die stärkste Fraktion. Das ist eine Regel, die man nicht vor Gericht einklagen kann, die aber im Normalfall dafür sorgt, dass man die Frage nicht politisch beantworten muss. Das passt zum Amt, denn die Parlamentspräsident:in soll keine politische Macht ausüben, sondern das Parlament als Ganzes vertreten und dafür sorgen, dass alle Abgeordneten, egal ob sie der Regierungsmehrheit oder der Opposition angehören, ihre Arbeit gut machen können. Die stärkste Fraktion also.15 Das ist in unserem Szenario die der AfD.
Sie darf nach der geltenden Geschäftsordnung den ersten Vorschlag machen, was aber noch nicht heißt, dass ihr Vorschlag von den anderen Fraktionen auch gewählt werden muss. Dazu kann die freien und nur ihrem Gewissen verantwortlichen16 Abgeordneten niemand zwingen. Sie müssen nicht nehmen, wer ihnen von der AfD vorgesetzt wird. Der Vorgeschlagene braucht eine Mehrheit, und wenn er die nicht bekommt, ist er nicht gewählt. Was passiert dann? Das liegt zunächst in der Hand der Person, die die Sitzung leitet, also der der Alterspräsident:in. Sie kann bestimmen, dass die AfD dann eben jemand anderen nominieren soll. Die Geschäftsordnung sieht zwar vor, dass die anderen Fraktionen Wahlvorschläge machen können, wenn der Vorschlag der stärksten Fraktion keine Mehrheit bekommt.17 Die Alterspräsident:in müsste nach der etablierten parlamentarischen Praxis spätestens für den dritten Wahlgang auch andere Wahlvorschläge zulassen. Dann treten mehrere Kandidaten an, und wenn davon niemand die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreicht, gehen die beiden stärksten in eine Stichwahl.18 Aber was, wenn sie nicht der etablierten parlamentarischen Praxis folgt? Wenn sie beschließt, dass das alleinige Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion so lange gilt, bis die AfD ihre gesamte Fraktion vorgeschlagen hat, einen nach dem anderen, bis alle durchgefallen sind — dann könnte sie wohl...
Erscheint lt. Verlag | 22.7.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Autoritarismus • Bundesrepublik • Demokratie • Freiheit • Grundgesetz • Machtübernahme • Polen • Populismus • Rechtsstaat • Ungarn |
ISBN-10 | 3-446-28095-2 / 3446280952 |
ISBN-13 | 978-3-446-28095-3 / 9783446280953 |
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