Die Slawen (eBook)

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2024 | 2. Auflage
128 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-82452-4 (ISBN)

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Die Slawen - Eduard Mühle
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Polen, Tschechen, Slowaken, Russen, Ukrainer, Kroaten, Bosnier, Serben - sie alle und noch einige weitere Völkerschaften werden als 'Slawen' bezeichnet. Was aber haben diese rund 250 Millionen Menschen über die Verwandtschaft ihrer Sprachen hinaus gemeinsam, was verbindet sie? Eduard Mühle schildert knapp und fundiert die Geschichte der slawischen Bevölkerungsgruppen vom 6. bis zum 20. Jahrhundert und stellt dabei sowohl das realhistorische Phänomen als auch die imaginierte Gemeinschaft vor, die bis heute zu politischen Zwecken instrumentalisiert wird.

Eduard Mühle ist Professor für Geschichte Ostmittel- und Osteuropas an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

II. Die Slawen im frühen Mittelalter


1. Migration und Landnahme


Slawischsprachige Bevölkerungsgruppen werden in den Quellen nicht vor dem 6. Jahrhundert fassbar. Sie kamen zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich nicht aus dem Nichts und hatten ihre Vorgeschichte. Doch entzieht sich diese bis heute einer unumstrittenen wissenschaftlichen Erkenntnis. Weder die Geschichts- und Sprachwissenschaft noch die Archäologie und Anthropologie haben bislang allgemein anerkannte Antworten auf die Frage nach der Herkunft der slawischsprachigen Bevölkerung Europas geben können. Alle Versuche, ein ursprüngliches Kerngebiet, eine «Urheimat», zu identifizieren, aus der sich die Slawen sukzessive ausgebreitet haben sollen, sind in ihrer Widersprüchlichkeit und Polemik ebenso ohne sichere Ergebnisse geblieben wie die Bemühungen, die Genese der slawischen Sprache genauer zu datieren und in ihrer frühen Entwicklung zu erhellen.

Es waren byzantinische Geschichtsschreiber, die seit den 550er-Jahren notierten, wie feindliche Verbände die Nordgrenze des Oströmischen Reiches, die Donau, überquerten und auf byzantinisches Territorium vordrangen. Die neue Bedrohung trat nicht nur in Gestalt turksprachiger Reiterkrieger und rätselhafter, wahrscheinlich iranischstämmiger Anten, sondern auch in Gestalt von Gruppen hervor, die man als Sklabenoi, Sklaboi bzw. Sclavini bezeichnete. Diese griechischen und lateinischen Ethnonyme haben die Byzantiner offenbar aus dem slawischen Wort *slov-ěne abgeleitet, einer Selbstbezeichnung, über deren Etymologie die Sprachwissenschaft allerdings bis heute streitet und die in der griechischen Phonetik nur mithilfe eines zwischen S und l eingeschobenen k entlehnt werden konnte.

Die Wohnsitze der mithin slawischsprachigen Angreifer verorteten die frühbyzantinischen Chronisten auf den jenseitigen Ufern der mittleren und unteren Donau. Von dort aus überfielen sie, wie Prokop von Caesarea vor 562 schrieb, seit Beginn der Herrschaft Kaiser Justinians I. (d.h. seit etwa 527) «fast Jahr für Jahr» «Illyrien und ganz Thrakien, vom Ionischen Meerbusen bis zu den Vorstädten von Byzanz, dazu Griechenland und den Cherrones». Dabei plünderten sie – so Prokop weiter – «frech sämtliche Gebiete», «hausten fürchterlich» und «unmenschlich», fügten der römischen Bevölkerung «gräßliche Leiden» und «schreckliche Grausamkeiten» zu, verübten «unbeschreibliche Gräueltaten», brachten Gefangene auf qualvolle Weise zu Tode und schleppten neben reicher Beute unzählige Überlebende in die Sklaverei fort (um sie anschließend oft gegen Lösegeld wieder freizulassen). Als derart «unerbittliche und unnahbare Feinde», die «voll unersättlicher Kriegslust» ohne Grund Krieg begannen und ohne eine Gesandtschaft vorauszuschicken angriffen, wurden die Sklabenoi von Prokop nicht anders denn als «Barbaren», ja eine «tierähnliche Menschengruppe» wahrgenommen. Daran ändert auch jene viel zitierte Charakterisierung nichts, die der byzantinische Autor an anderer Stelle in seine Darstellung der Gotenkriege einrückte und nach der die vermeintlich urdemokratisch organisierten, stets nur leicht bewaffnet und halbnackt in den Kampf ziehenden Sklabenoi zwar primitive, aber doch «keineswegs schlechte und bösartige Menschen» gewesen seien. Diese Charakterisierung ist ebenso als eine von antiken Topoi geprägte literarische Stilisierung anzusehen wie jenes Idyll, das einige Jahrzehnte später der byzantinische Historiker Theophylaktos Simokates zeichnete, als er beiläufig von der Gefangennahme dreier Slawen durch die Leibwache Kaiser Maurikios’ berichtete. Vom Kaiser selbst befragt, warum sie «kein Eisen anhatten und keine Kriegsgeräte mit sich führten», hätten die Gefangenen erklärt, dass sie «vom Krieg noch nichts gehört hätten» und «nicht darin geübt seien, ihrem Körper Waffen anzulegen; in ihrem Lande nämlich sei Eisen unbekannt und sie führten daher ein friedliches und ruhiges Leben». Diese Beschreibung steht auch bei Theophylaktos Simokates ziemlich singulär zahlreichen Schilderungen fortgesetzter slawischer Kriegshandlungen gegenüber. Auch andere byzantinische Quellen warnten vor der militärischen Gefährlichkeit der Slawen, mochten diese auch lediglich mit Wurfspießen, hölzernen Bögen, Giftpfeilen und starken Schilden ausgerüstet gewesen sein.

Seit den 580er-Jahren traten die Sklabenoi dabei wiederholt im Bund mit den reiternomadischen Awaren auf. Diese waren um die Mitte des 6. Jahrhunderts aus der osteuropäischen Steppe ins Karpatenbecken vorgedrungen und hatten dort nach 568 ein mächtiges Khaganat errichtet. Die von ihnen wohl nicht nur an der unteren und mittleren Donau, sondern auch am Nord- und Ostrand der Karpaten sowie im Karpatenbecken selbst angetroffene slawischsprachige Bevölkerung unterwarfen sie einem ambivalenten Bündnis- und Abhängigkeitsverhältnis, dem sich Teile der Unterworfenen durch Migration zu entziehen versuchten. So drangen slawischsprachige Gruppen nicht nur weiter gegen Thrakien und Makedonien, ja bis nach Hellas und auf den Peloponnes vor, sondern machten zunehmend auch den westlichen Balkan unsicher. Schon um 590 gelangten entsprechende Nachrichten bis nach Spanien, wo der katholische Westgote Johannes von Biclaro zum ersten Mal außerhalb byzantinischer Grenzen über Sclavini berichtete, die in Thrakien viele Städte der Römer verwüsten würden. Etwa gleichzeitig erhielt Papst Gregor I. aus dem byzantinischen Exarchat von Ravenna erste Nachrichten über slawische Einfälle in Dalmatien und Istrien.

Bis weit ins 7. Jahrhundert hinein kannten die griechisch-byzantinischen und lateinisch-westlichen Quellen Slawen nur als Personenverbände, die sich zwischen Aquileja und Monemvasia, Tomi und Konstantinopel sporadisch auf byzantinischem Boden bewegten. Dass in Byzanz darüber hinaus im 6.–7. Jahrhundert bereits auch Teile der späteren West- oder Ostslawen bekannt gewesen wären, wie die ältere Forschung aus den toposhaften, wohl der Germania des Tacitus entlehnten Angaben des Jordanes gefolgert hat, ist eher unwahrscheinlich. Selbst für die aus unmittelbarer Nachbarschaft und leidvoller Berührung bekannten Sklabenoi blieb das byzantinische Bild noch lange unscharf. Man nahm sie zunächst weiterhin nur pauschal als eine undifferenzierte ‹barbarische› Gegnergruppe wahr – auch wenn immer öfter slawischsprachige Einzelpersonen und Söldnergruppen in byzantinische Dienste eintraten. Nach und nach ließen sich dann auch ganze Siedelgemeinschaften dauerhaft auf oströmischem Boden nieder. Die dem Thessaloniker Stadtheiligen Demetrius gewidmeten Wunderberichte (Miraculi sancti Demetrii) bezeugen solche Landnahmen in Makedonien bereits für die zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts. Diese Landnahmen sind außer in den Schriftquellen vor allem durch slawische bzw. slawisch beeinflusste Ortsnamen bezeugt, haben archäologisch aber nur wenig Niederschlag gefunden. Reichweite und Intensität des frühmittelalterlichen slawischen Vordringens auf dem Balkan und in Griechenland, das sich ebenso stetig wie unspektakulär vollzog, lassen sich daher nur schwer genauer abschätzen.

Auch nördlich des Awarenkhaganats, im östlichen Mitteleuropa, kam es nach Abzug germanischer Verbände und der Zuwanderung der Awaren zu slawischen Migrationsbewegungen. Diese blieben der byzantinischen Wahrnehmung freilich verborgen und gerieten auch den westlich-lateinischen Quellen zunächst nur punktuell und zufällig in den Blick. Das geschah zum ersten Mal in der bis 660 abgeschlossenen austrasisch-merowingischen Chronik des so genannten Fredegar. In ihr ist von Sclavi bzw. unter Verwendung der germanischen, von den antiken Venedi abgeleiteten Fremdbezeichnung für Slawen von Winedi die Rede, die mit fränkischen Kaufleuten Handel trieben, sich gegen die Oberherrschaft der Awaren auflehnten und in diesem Zusammenhang einen fränkischen Kriegerhändler namens Samo zu ihrem rex wählten. Dessen Herrschaft (regnum) hätten sich auch die von einem dux...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2024
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Allgemeines / Lexika
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bosnier • Geschichte • Kroaten • Kultur • Polen • Russen • Serben • Slawistik • Slowaken • Sprache • Tschechen • Ukrainer • Völker
ISBN-10 3-406-82452-8 / 3406824528
ISBN-13 978-3-406-82452-4 / 9783406824524
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