Metazoa (eBook)
408 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-2021-9 (ISBN)
Peter Godfrey-Smith, 1965 geboren, ist Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Sydney. Der leidenschaftliche Tiefseetaucher ist Autor mehrerer Bücher über Evolution und Wissenschaftsphilosophie.
Peter Godfrey-Smith, 1965 geboren, ist Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Sydney. Der leidenschaftliche Tiefseetaucher ist Autor mehrerer Bücher über Evolution und Wissenschaftsphilosophie. Dirk Höfer, 1956 geboren, ist Autor und Übersetzer und lebt in Berlin. Studium der Bildenden Kunst und der Philosophie. Redakteur der Kulturzeitschrift Lettre International, später Drehbuchschreiber und Spieleentwickler für Ludic Philosophy, Berlin.
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Der Glasschwamm
Türme
Oft befindet sich, gleich unterhalb jener Wasserschichten, die vom Sonnenlicht noch gut durchdrungen werden, vor allem dort, wo Strömungen herrschen, ein Schwammgarten. Sobald das Licht nachlässt, stößt man auf Landschaften aus bewegungslosen tierischen Körpern. Sie haben die Form von Bechern, Knollen, Kelchen oder verzweigten Bäumen. Manchmal sehen sie aus wie Hände in dicken Fäustlingen, als ob etwas von unter dem Meeresboden sich mit weichen, halb ausgebildeten Gliedern nach oben zu strecken versucht.
In dieser Flachwasserzone halte man Ausschau und stelle sich ein viel kälteres Meer vor, das ganze Szenario dort in äußerste Schwärze gehüllt, durch die einige wenige Partikel von oben herabrieseln. Auf dem Ozeanboden, tausend Meter unter der Oberfläche, steht ein blasser Turm, etwa dreißig Zentimeter hoch und zylindrisch in einer Ansammlung anderer Türme, die unten fest auf dem Boden sitzen und oben ein bisschen breiter und teilweise offen sind. In ihrer weichen Außenhülle steckt ein Gitter aus winzigen harten Nadeln, deren kleinste die Form von Sternen, Haken oder schmalen Kreuzen mit gestauchten Winkeln haben und zusammen das turmartige Geflecht ergeben. Die Türme haften mit feinen Ankern am Boden. Die Anker und die Kreuze sind aus Siliziumdioxid gebildet, dem Hauptbestandteil von Glas.
Ein Schwamm, sei es auf einem Riff der temperierten Zone oder in der Mondlandschaft der Tiefsee, wirkt tot und unbeweglich, ist es aber bei genauerem Hinsehen nicht. Er funktioniert wie eine geräuschlose Pumpe und zieht Wasser durch sich hindurch. Dabei hat er Empfindungen und reagiert. Der Tiefseeturm, der Glasschwamm, hat einen Körper, der zudem wie eine Glühbirne auf dem Meeresboden (Bling, ein Licht geht auf) Licht und elektrische Ladung leitet.
Zelle und Sturm
Hintergrund für die Evolution des Geistes ist das Leben selbst – nicht alles, was mit dem Leben zu tun hat, nicht die DNA und wie sie funktioniert, aber andere Merkmale. Am Anfang steht die Zelle.
Das früheste Leben, noch vor der Entstehung von Pflanzen und Tieren war einzellig. Tiere und Pflanzen sind riesige Zellzusammenschlüsse. Auch bevor solche Zusammenschlüsse entstanden, lebten die Zellen wahrscheinlich nicht immer völlig vereinzelt, sondern häufig in Kolonien und Klumpen zusammen. Gleichwohl war eine Zelle ein winziges eigenständiges Selbst.
Zellen haben ein Inneres und ein Äußeres, sie sind begrenzt. Die Grenze ist eine Membran, die den Zellkörper teilweise abdichtet, dabei aber über Kanäle und Öffnungen verfügt. So herrscht ein unablässiges grenzüberschreitendes Hin und Her und im Inneren herrscht hektischer Betrieb.
Eine Zelle besteht aus Materie, aus verschiedenen Molekülen. Ich weiß nicht genau, was Ihnen vorschwebt, wenn ich »Materie« sage, aber häufig denkt man bei dem Wort an eine reglose, massige Daseinsform, bei der schwere Gegenstände in Bewegung versetzt werden müssen. Diese Vorstellung von Materie verdankt sich den Gegebenheiten auf festem Boden und bei mittelgroßen Objekten wie Tischen und Stühlen. Geht es aber um Zellmaterial, muss man anders denken.
In einer Zelle finden Ereignisse im Nanobereich statt, in dem die Objekte in millionstel Millimeter gemessen werden, und das Medium, in dem diese Ereignisse ablaufen, ist wässrig. In einer derartigen Umgebung verhält sich Materie völlig anders als in unserer mittelgroßen Welt auf dem Trockenen. In dieser Größenordnung laufen Aktivitäten spontan ab, sie müssen nicht erst angestoßen werden. Nach einem auf den Biophysiker Peter Hoffmann zurückgehenden Ausdruck findet in jeder Zelle ein »molekularer Sturm« statt, ein unaufhörlicher Tumult bestehend aus Zusammenstößen, Anziehungen und Abstoßungen.
Wenn wir uns eine Zelle wie ein kompliziertes Aggregat vorstellen, mit Teilen, die verschiedene Aufgaben zu bewältigen haben, so werden diese Einzelapparate ständig von Wassermolekülen bombardiert. Ein Objekt in einer Zelle wird etwa jede zehn Billionstel Sekunde von einem sich rasch bewegenden Wassermolekül getroffen. Das ist kein Tippfehler; die Größenordnung, in der sich in einer Zelle Dinge ereignen, ist intuitiv kaum zu erfassen. Diese Zusammenstöße sind alles andere als trivial; gegenüber den Kräften, die dabei freigesetzt werden, sind jene, die von den kleinen Apparaten ausgeübt werden, geradezu winzig. Die in der Zelle arbeitenden Apparate vermögen den Ereignissen höchstens eine bestimmte Richtung zu geben und so ein gewisses Maß an Kohärenz in den Sturm zu bringen.
Das Wasser als Medium ist wichtig, um den Sturm aufrechtzuerhalten. In einer solchen räumlichen Größenordnung würden viele Objekte, wenn sie auf dem Trockenen wären, einfach aneinanderhaften und sich zu einem Klumpen zusammenballen; im Wasser verklumpen sie aber nicht. Stattdessen werden sie fortwährend in Bewegung gehalten, was die Zelle zu einem Ort selbstständig erzeugter Aktivität macht. Wir denken, wie schon gesagt, Materie sei inaktiv und bewegungslos. Das Problem, mit dem Zellen umgehen müssen, besteht aber nicht darin, etwas anstoßen, sondern Ordnung erzeugen und Sinn und Rhythmus in den spontanen Ablauf der Ereignisse bringen zu müssen. Unter den Gegebenheiten der Zelle liegt die Materie nicht einfach untätig herum, sondern läuft Gefahr, sich zu sehr zu regen; das Problem besteht also darin, das Chaos zu organisieren.
Wenn wir Überlegungen über das Leben und seine Entstehung anstellen, führen fast alle Assoziationen, die wir gewohnheitsmäßig im Zusammenhang mit Materie geltend machen, in die Irre. Hätte sich das Leben an Land aus Objekten in der Größe von Tischen oder Stühlen entwickeln müssen, hätte eine solche Entwicklung nicht stattgefunden. Aber das Leben entwickelte sich im Wasser – vielleicht in dünnen Wasserfilmen auf einer Oberfläche, jedenfalls aber im Wasser, und zwar durch die Entstehung von Ordnung in einem molekularen Sturm.
Leben entstand schon ziemlich früh in der Erdgeschichte, vielleicht vor etwa 3,8 Milliarden Jahren auf einem Planeten, der heute etwa 4,5 Milliarden Jahre alt ist. Das erste Leben war wahrscheinlich noch nicht zellförmig, aber es muss eine Möglichkeit bestanden haben, eine bestimmte Reihe chemischer Prozesse zu kontrollieren, abzugrenzen und daran zu hindern, sich wieder in der Umgebung zu verlieren. Irgendwann gab es dann Zellen, die zunächst wohl noch durchlässig und schwach ausgebildet waren, sich aber schließlich zu Bakterien oder dergleichen entwickelten, zu Zellen also, die ihre Organisation auf Dauer aufrechterhalten und sich reproduzieren konnten.
Mit dem Erwerb der Fähigkeit, sich selbst in Gang zu halten – Stoffe umzuwandeln, Ordnung zu schaffen, Methode in den Wahnsinn zu bringen –, gewann eine entscheidende Errungenschaft die Oberhand über die elektrische Ladung.
Die Zähmung der Elektrizität
Die Zähmung der Elektrizität war ein Kardinalereignis in der jüngeren Menschheitsgeschichte. Im neunzehnten Jahrhundert wandelte sie sich von einer rätselhaften, oft gefährlichen Kraft in ein Technologieelement, das die moderne Welt gestalten sollte. Wenn Sie dieses Buch im Schein einer elektrischen Lampe oder auf einem Computerbildschirm lesen, findet der Akt des Lesens mithilfe elektrischen Stroms statt. Der elektrische Fortschritt, der die Moderne begleitete, war bereits das zweite Ereignis dieser Art. Denn schon vor Milliarden Jahren, in sehr frühen Stadien der Evolution des Lebens, war die elektrische Ladung gebändigt worden. In Zellen und Organismen bringt die Elektrizität vieles, was sich dort abspielt, auf den Weg. Sie ist die Grundlage der Hirnaktivität – unsere Gehirne sind elektrische Systeme – und von vielem anderen mehr.
Was ist Elektrizität? Selbst für viele Physiker ist diese Frage nicht leicht zu beantworten. Elektrische Ladung ist ein Grundmerkmal der Materie. Die Ladung kann positiv oder negativ sein. Objekte mit der gleichen Ladung (zum Beispiel positiv und positiv) stoßen sich ab, und solche mit ungleichen Ladungen (positiv und negativ) ziehen sich an. Der Stoff, aus dem gewöhnliche Gegenstände bestehen, enthält beide Ladungen. Jedes Atom ist eine Kombination aus noch kleineren Teilchen, manche davon positiv (Protonen), andere negativ (Elektronen) und in den meisten Fällen gibt es noch Teilchen ohne Ladung (Neutronen). Normalerweise enthält ein Atom die gleiche Anzahl Elektronen wie Protonen, sodass ein Atom selbst keine Nettoladung aufweist, da die positiven und negativen Ladungen exakt ausbalanciert sind.
Die Anziehungs- oder Abstoßungskräfte der elektrischen Ladung sind stark. Hier ein Zitat des unvergleichlichen Richard Feynman aus seinen Vorlesungen über Physik:
Materie ist eine Mischung aus positiven Protonen und negativen Elektronen, die einander mittels dieser großen Kraft anziehen und...
Erscheint lt. Verlag | 27.6.2024 |
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Übersetzer | Dirk Höfer |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Bewusstsein • Biologie • das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins • Der Krake • Evolution • Evolutionsgeschichte • Krake • Meeresbiologie • Philosophie • Sein • Tauchen • Tierwelt • Zoologie |
ISBN-10 | 3-7518-2021-3 / 3751820213 |
ISBN-13 | 978-3-7518-2021-9 / 9783751820219 |
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