Alles überstanden? (eBook)
224 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3263-5 (ISBN)
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 35/2024) — Platz 18
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- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 33/2024) — Platz 18
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- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 29/2024) — Platz 4
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 28/2024) — Platz 7
Christian Drosten, Jahrgang 1972, ist Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie und Leiter des Instituts für Virologie an der Berliner Charité. Der Wissenschaftler ist weltbekannt für seine herausragenden Forschungen auf dem Gebiet der RNA- und Coronaviren. Während der Pandemie gehörte er zum Expert:innenrat der Bundesregierung, darüber hinaus leistete er wichtige Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit, u.a. im preisgekrönten NDR-Podcast Das Coronavirus-Update. Georg Mascolo, Jahrgang 1964, gehört seit langer Zeit zu den führenden investigativen Journalisten des Landes. Er war Spiegel-Chefredakteur und leitete die Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Gemeinsam mit seiner Frau Katja Gloger schrieb er 2021 den Bestseller Ausbruch. Innenansichten einer Pandemie.
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Die Pandemie und die Wissenschaft
»Niemand hat hier das letzte Wort« –
Drei Virologen, vier Meinungen
M: Wenn ich Ihnen zuhöre, entsteht der Eindruck, dass in dieser Pandemie weite Teile der Politik der Wissenschaft einfach nicht zugehört haben.
D: Es gab tatsächlich in Teilen der Politik beträchtliche Zweifel gegenüber der Wissenschaft. Ich habe etwas Zeit gebraucht, um das überhaupt zu kapieren.
M: Es gibt dieses Selbstbild der Wissenschaft, dass es nur um die Sache geht, nicht um Positionen, nicht um Eitelkeit und auch nicht darum, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Aber dieses Idealbild hängt von den Beteiligten ab. In der Politik – und auch in weiten Teilen der Öffentlichkeit – ist in dieser Pandemie ein ganz anderer Eindruck entstanden: dass es die Wissenschaft gar nicht gibt, sondern sehr viele unterschiedliche Stimmen und Positionen, mit allen Widersprüchen und Unzulänglichkeiten.
D: Ja, leider gab es diese allzu menschlichen Beweggründe. Aber was das betrifft, sprechen wir hier eigentlich gar nicht von der Wissenschaft, sondern von öffentlicher Expertise. Sie wird neuerdings immer mit der Wissenschaft verwechselt, aber Expertise ist etwas ganz anderes. Öffentlich sieht man nicht »die Wissenschaft«, sondern Personen, die den Medien zur Verfügung stehen. »Die Wissenschaft« mag es schon geben, aber sie wird keineswegs durch die Gesamtheit der Personen verkörpert, die während der Pandemie als öffentliche Experten auftraten. Was oft übersehen wird, sind die vielen Expertinnen und Experten, die sich nicht an Mediendebatten beteiligen. Das gilt nicht nur für die Pandemie, sondern für sämtliche wissenschaftlichen Bereiche. Die Leute, die im Fernsehen auftreten, mögen zwar Wortführer sein, sind aber nicht unbedingt die wissenschaftliche Spitze ihres Fachgebiets. Das mag auch für mich gelten. Das Fehlen von wirklich maßgeblichen Leuten verzerrt das öffentliche Bild der Wissenschaft, was ich schlimm finde. Stellen Sie sich vor, in anderen Bereichen wie Sport oder Wirtschaft würden die öffentlichen Repräsentanten vor allem von den Medien ausgewählt, unabhängig von ihrer fachlichen Bedeutung oder ihren Verdiensten. Das würde doch zu einer Situation führen, in der jegliches Vertrauen schwindet.
M: Dann lassen Sie uns doch darüber sprechen, welchen Anteil an der von Ihnen hier beklagten Entwicklung die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst haben. In der Pandemie ist mir sehr oft – auch vonseiten der Politik – der Satz von den drei Virologen mit den vier Meinungen begegnet.
D: Ich erinnere mich an einen Spruch von Armin Laschet in einer Talkshow: »Wenn Virologen alle paar Tage ihre Meinung ändern, müssen wir in der Politik dagegenhalten.« Ein solches Wissenschaftsverständnis wünscht man sich nicht.158
M: Ich halte es für einen Fehler, dass kein zentrales Beratungsgremium der Wissenschaft entstanden ist. Zwar gab es das Robert Koch-Institut als oberste Gesundheitsbehörde, aber die Kanzlerin berief zusätzlich ihr eigenes vertrauliches Beratungsgremium, dem Sie von Anfang an angehörten. Dieser Ansatz von Angela Merkel wurde dann in praktisch allen Bundesländern mehr oder weniger nachgeahmt: Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten schafften sich ihre eigenen Beratungsgremien. Von der Wissenschaft kann man in einer solchen Situation nicht erwarten, dass sie sofort alles weiß. Aber Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hätten sich zusammensetzen müssen, um zu sagen: Das wissen wir. Das wissen wir noch nicht. Und hier sind wir uns uneinig. Im Verlauf der Pandemie wurde die Notwendigkeit eines solchen Prozesses immer deutlicher, aber dennoch wurde nichts unternommen. Hier ist doch etwas Gravierendes schiefgelaufen.
D: Ein großes Thema, auf jeden Fall. Doch die Frage ist zunächst, ob die Wissenschaft eine Politikberatung organisiert oder ob die Politik sich die Beratung einholt. Wahrgenommen wurde in der Pandemie vor allem Letzteres. Das ist zwar nicht falsch, aber es bedeutet etwas anderes. Eine tagesaktuelle Beratung aus der Wissenschaft heraus war eher selten. Immerhin hat sich die Leopoldina als nationale Wissenschaftsakademie geäußert, und das wiederholt. Doch viele fühlten sich nicht ausreichend einbezogen. Die Stellungnahmen sollten aktuell sein, da war es nicht möglich, alle Vertreter der Wissenschaft zu einem Diskussionsprozess einzuladen. Eine Akademie setzt sich aus Mitgliedern zusammen, die sich in ihren jeweiligen Fächern verdient gemacht haben. Doch die Wissenschaft ist frei, und niemand hat hier das letzte Wort, auch die Leopoldina nicht.
M: Es hätte schon geholfen, wenn aus der Wissenschaft heraus sehr viel klarer geworden wäre, was die Mehrheits- und was die Minderheitsmeinung ist. Das wäre in einer unsicheren Lage wie einer Pandemie immerhin mal ein Anfang gewesen.
D: Da stimme ich Ihnen unbedingt zu, das hätte man stärker in der Öffentlichkeit vertreten müssen. Aber man hat anfangs die Notwendigkeit nicht gesehen, es gab nicht die wissenschaftliche Mehrheit, die sagte: »Schließen!«, und die Minderheit, die sagte: »Aufmachen!« So funktioniert das nicht. Tatsächlich gab es je nach Spezialisierung unterschiedliche Blickwinkel auf die Pandemie. Nehmen Sie die Leopoldina. Allein bis Ende 2020 wurden dort sieben ausführliche Stellungnahmen herausgegeben.159 Die ersten beiden wurden von einem epidemiologisch-medizinischen Standpunkt dominiert. Es wurde klar empfohlen, die Infektionskontrolle zu priorisieren und die Pandemie nicht einfach laufen zu lassen. In dieser Frage gab es auch keine Minderheitsmeinung. Die dritte Stellungnahme im April 2020 richtete ihr Augenmerk bereits auf die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie und enthielt konkrete Empfehlungen zur Priorisierung von Schulen und Bildung, zur Unterstützung von Familien und zur Förderung von Eigenverantwortung. Auch in späteren Stellungnahmen ging es immer wieder um diese Themen. Im Sommer 2020 kam eine weitere Stellungnahme, die sich ausschließlich auf den Schul- und Bildungsbereich konzentrierte. Die meisten dieser Stellungnahmen wurden maßgeblich von Vertreterinnen und Vertretern der Gesellschaftswissenschaften mitverfasst. Daher kann man nicht behaupten, dass diese Fächer nicht zu Wort kamen.
M: Aber wir sind uns schon einig, dass diese Einigkeit nicht ausreichend wahrgenommen wurde.
D: Das stimmt, und außerdem wurde das wissenschaftliche Handeln mit Politik verwechselt. Echte Konflikte zwischen wissenschaftlichen Lagern habe ich nicht erlebt. Es ist nicht so, dass die Soziologen in der Leopoldina forderten, die Infektionen doch besser laufen zu lassen, damit die Familien und die Bildung nicht so leiden, und die Infektionsforscher dann dagegenhielten. Jede Seite sah, dass ihre Empfehlungen auf Zielkonflikte hinauslaufen konnten. Aber die notwendigen Kompromisse musste die Politik finden. Verantwortungsvolle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben eben nicht die politischen Prioritäten vor. Sie erklären nur die Grundlagen und können auf Zusammenhänge hinweisen, die für die Politik wichtig sind.160 Zum Beispiel wurde damals aus der Wissenschaft darauf hingewiesen, dass auch die Wirtschaft von Infektionskontrolle profitiert – dass es also nicht darum geht, Wirtschaftsforscher gegen Infektionsforscher auszuspielen.161 Aber selbst eine solche Vorlage muss von der Politik nicht aufgegriffen werden. Es ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, auf einem bestimmten politischen Handeln zu bestehen. Natürlich gab es auch wissenschaftliche Einschätzungen, die in der Politik zu echten Zielkonflikten führten. Die Leopoldina hat darauf schon frühzeitig hingewiesen und die Rolle der Wissenschaft in diesem Zusammenhang noch einmal betont.162
Häufig erhofft sich die Politik von einer wissenschaftlichen Beratung tatsächlich Anleitungen, wie Zielkonflikte gelöst werden können, oder sogar Rechtfertigungen für bestimmte Entscheidungen. Während der Pandemie hat sich die Wissenschaft tatsächlich manchmal dazu durchgerungen, Position zu beziehen. Das war ungewohnt, aber es geschah. Sogar die Leopoldina wurde einmal sehr konkret, was ihr sogleich Kritik eingebracht hat. Auch in meinem Fachgebiet, der Virologie, wurde eine eindeutige virologische Position zu ganz konkreten politischen Fragen formuliert.163 Aber dann hieß es eben, es würden ja »nur Virologen zu Wort kommen«, oft von Politikern, die sich unsere Einschätzungen anders gewünscht hätten. Was soll man tun? Seriöse Wissenschaftlerrinnen und Wissenschaftler vermeiden es nun mal, sich in der Öffentlichkeit politisch zu positionieren. So hat dann kurzerhand die Politik eine strukturierte Beratung geschaffen, den Corona-Expertenrat.
M: »Kurzerhand« würde ich nicht sagen, hier ist eher das Gegenteil zutreffend. Die Entscheidung für den Corona-Expertenrat wurde erst im Herbst 2021 unter Bundeskanzler Olaf Scholz getroffen.
D: Das war in der Tat sehr spät, da lagen die ganz schmerzhaften politischen Entscheidungen schon hinter...
Erscheint lt. Verlag | 27.6.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
ISBN-10 | 3-8437-3263-9 / 3843732639 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3263-5 / 9783843732635 |
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