Rechtsextrem, das neue Normal? (eBook)
288 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60850-3 (ISBN)
Einleitung
Fabian Virchow und Matthias Quent
Im Sommer 2023 äußerten bei einer Meinungsumfrage erstmals über 20 Prozent der Befragten, der AfD ihre Stimme geben zu wollen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Im Laufe der folgenden Monate erwies sich die Partei in Umfragen in vier ostdeutschen Bundesländern als stärkste Kraft – mit zeitweise über 35 Prozent Zustimmung. Viele Beobachter:innen sind davon ausgegangen, dass sich der Siegeszug der Partei fortsetzen wird, und die Wahl des ersten AfD-Landrats und der Gewinn von Bürgermeisterposten lieferten für eine solche Prognose weitere Anhaltspunkte. Dass die Partei in den Jahren zuvor erkennbar an Zustimmung verloren hatte, schien vergessen. Und die Radikalisierung der AfD zu einer demokratiefeindlichen Partei, die hemmungslos gesellschaftliche Krisen und Notlagen ausbeutet, war dabei kein Hindernis, sondern geradezu eine Voraussetzung dieses Erfolgskurses.
Im Januar 2024 wurde durch Recherchen des Medienprojekts CORRECTIV ein Treffen von Rechtsextremist:innen in Potsdam bekannt; diese hatten sich dort getroffen und unter dem rechtsextremen Kampfbegriff »Remigration« Pläne entwickelt, wie mehrere Millionen Menschen, die nicht in das völkische und rassistische Weltbild passen, nach der Machtübernahme der AfD außer Landes gebracht werden sollen. Das Treffen versinnbildlicht, wie gezielte Einflussnahmen der extremen »Neuen Rechten« und der »Identitären Bewegung« seit Jahren den Empörungspopulismus der AfD radikalisieren.
Vielleicht war es die Tatsache, dass im Rahmen der »Remigration« auch Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft deportiert werden sollen, die für große Medienaufmerksamkeit und weitreichende Empörung sorgte; vielleicht war die Recherche nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat in Zeiten eines Rechtsrucks, welcher sich auch in der Politik demokratischer Parteien ausdrückt und im Alltag spürbar ist; vielleicht war es die große Sorge vor Machtgewinnen der AfD bei den 2024 anstehenden Wahlen; vielleicht hatte die liberale Mehrheit die Nase voll von den Erfolgen der lauten rechtsextremen Minderheit: Millionen Menschen gingen in den folgenden Wochen auf die Straße, klagten Rassismus und Menschenfeindlichkeit an und forderten die Verteidigung der Demokratie. Die Rufe nach wirksamen Gegenmaßnahmen, auch nach einem Parteiverbotsverfahren, wurden lauter.
Von wegen »normal«
Tatsächlich besteht Anlass zu erheblicher Sorge und zu dringendem Handeln. Die AfD hat seit ihrer Gründung im Jahr 2013 rasch eine Stammwählerschaft aufgebaut und verfügt inzwischen über einen professionellen Parteiapparat. Mehrere Zeitungen und Zeitschriften treten als Sprachrohre der AfD auf. Social-Media-Plattformen werden professionell bespielt – immer wieder auch mit Fake News. Im Wirkungsbündnis mit Desinformationskampagnen mit teils ausländischem Hintergrund zersetzt die extreme Rechte das Vertrauen in die Demokratie. Längst hat die AfD auch neue Zielgruppen erschlossen, darunter junge Menschen und, widersprüchlicherweise, auch Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte. Die der AfD zur Verfügung stehenden Finanzmittel – zum Großteil Steuergelder – nutzt sie zu Angriffen auf demokratische Institutionen und Projekte; das Parteiprogramm formuliert ein grundgesetzwidriges völkisches Gesellschaftsmodell. In Reden ihrer Funktionär:innen und Parlamentarier:innen werden unverhohlen rassistische Weltbilder propagiert; aus der Mitte der Partei werden teils antisemitische Verschwörungserzählungen zu Themen wie Migration, Geschlechtergerechtigkeit und Pandemiebekämpfung verbreitet. Bei Straßendemonstrationen macht sich die Partei auch mit Gewalttätern gemein, beschäftigt sogar vorbestrafte Neonazis im Bundestag. Trotz einer offiziellen Unvereinbarkeitsliste überschneidet sich die AfD längst personell und ideologisch mit diversen außerparlamentarischen rechtsextremen Organisationen, darunter mit der »Identitären Bewegung« als aktivistischer Arm der »Neuen Rechten«. Deren Vordenker aus dem Umfeld des selbst ernannten »Instituts für Staatspolitik« sind erfolgreich darin, ihre verfassungsfeindlichen Ideen eines als Ethnopluralismus verbrämten völkischen Nationalismus immer weiter in der AfD zu verankern.
Die Radikalisierung der AfD zu einer rechtsextremen Partei ist in der Forschung vielfach analysiert worden; in einer zunehmenden Zahl von Bundesländern haben die Behörden die Partei bzw. ihre Jugendorganisation (Junge Alternative) als gesichert rechtsextrem eingestuft. Dies hat den Erfolg bisher nicht sichtbar beeinträchtigen können. Trotz oder wegen der erfolgreichen Radikalisierung betrachten immer mehr Menschen die Partei als »normal« – sei es, weil die beständige Sichtbarkeit und die Wahlerfolge der Partei zu einer entsprechenden Bewertung führen, sei es, weil die demokratischen Parteien bisher keine überzeugende gemeinsame Antwort gegen die AfD gefunden haben. Die AfD kann nunmehr nicht nur ein national-autoritäres Potenzial in der Bevölkerung mobilisieren, das Einstellungsstudien seit Jahrzehnten in Deutschland messen, sondern durch Krisenagitation im Kontext von Migration, Demografie, Krieg, Inflation, Klimakrise und Transformationen auch neue Milieus erreichen.
Vor Ort ist die AfD in ländlichen Räumen teilweise stärker präsent als die demokratischen Parteien. Lokal verankerte Kandidat:innen gewinnen Wahlen und machen scheinbar oder tatsächlich normale Sachpolitik, während gleichzeitig die Rechtsradikalisierung der Gesamtpartei voranschreitet. Für viele Bürger:innen eine unstimmige Situation: »Der freundliche Nachbar, Stadtrat oder Bürgermeister, den man so lange kennt und der nun für die AfD – demokratisch gewählt – lokal die staatliche Macht repräsentiert, soll Teil einer rechtsextremen Bedrohung sein? Das müssen doch Lügen sein!«
Die AfD stellt gesellschaftliche Veränderungen als existenzielle Gefahren dar, speist sich aus Verunsicherungen und verdreht geschickt die Realität: »Deutschland, aber normal« ist ihr Slogan der Selbstverharmlosung, mit dem sie Veränderungen und Abweichungen ihrer Vorstellungen aus dem engen Spektrum ihrer Normvorstellungen ausschließt: allen voran Migrant:innen, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, Feminist:innen, Menschen mit Behinderungen, wirtschaftlich schlecht ausgestattete Menschen, Andersdenkende und so weiter. Ausschließende und ethnonationalistische Normalitätsideale von vorvorgestern als schützender Mantel gegen die Komplexität und Vielfalt offener Gesellschaften im 21. Jahrhundert: Dabei profitieren die Rechten von Pessimismus, wachsender Ungleichheit, demokratischen Kontrollverlusten und von der Schwäche zuversichtlicher Zukunftsperspektiven in einem globalisierten Kapitalismus, in dem die Demokratie in der Defensive ist und einschneidende Krisen offenbar schneller aufkommen, als Demokrat:innen mehrheitsfähige Lösungen finden können.
Die Rechtsextremen und die Mitte
Vieles gibt es in Deutschland zu verbessern: in der Bildung, in der Pflege, im öffentlichen Personenverkehr, bei bezahlbaren Wohnungen, gerechten Löhnen und Besteuerung, in der Wirtschafts- und Klimapolitik und auch in der Migrationspolitik. Dass Veränderungen, wie sie Gesellschaften stets begleiten und wie sie die Ampel-Regierung nach einem Reformstau in verschiedenen Bereichen angestoßen hat, umstritten sind, ist in einer Demokratie tatsächlich normal. Nicht gewöhnen dürfen wir uns aber an Falschdarstellungen, Hassbotschaften, Mord-, Umsturz- und Vertreibungsfantasien, an Menschenrechtsverletzungen und Realitätsverweigerungen, mit denen in (sozialen) Medien, auf Demonstrationen und in Parlamenten die Demokratie angegriffen wird. Die Wahrnehmung als »normal« erreicht die AfD weniger aus eigener Kraft, sondern durch Annäherungen oder gar die Übernahme rechter Positionen im demokratischen Spektrum.
Die AfD hat dabei nicht zuletzt davon profitiert, dass demokratische Parteien populistische Rhetorik und rechte Programmatik aufnehmen und insbesondere in Thüringen mehrfach CDU und FDP bewusst parlamentarische Mehrheiten mit dieser verfassungswidrigen Partei gesucht haben. Damit tragen sie dazu bei, einen Björn Höcke mit seinem offen nazistischen ...
Erscheint lt. Verlag | 27.6.2024 |
---|---|
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | AfD • Alice Weidel • Antisemitismus • Björn Höcke • Demokratieverdrossenheit • Donald Trump • Emanuel Macron • Faschismus • Gefahr von rechts • Gewalt • Giorgia Meloni • Machtübernahme • Marine Le Pen • Rassismus • Rassismusdebatte • Rechtsextreme • rechtsextreme Gewalt • Rechtsextremismus • Rechtspopulismus • rechtspopulistisch • Rechtsradikale • Victor Orban |
ISBN-10 | 3-492-60850-7 / 3492608507 |
ISBN-13 | 978-3-492-60850-3 / 9783492608503 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 6,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich