Was von meinem Vater bleibt (eBook)

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2024 | 1. Auflage
175 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3654-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was von meinem Vater bleibt - José Henrique Bortoluci
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Der Überraschungserfolg aus Brasilien - eine umwerfende Vater-Sohn-Geschichte

Was der Familie bleibt, sind nur zwei Postkarten und ein paar vergilbte Rechnungen. Fünfzig Jahre lang hat Didi, der Vater von José Henrique Bortoluci, als LKW-Fahrer in Brasilien gearbeitet und Hunderttausende von Kilometern zurückgelegt, immer auf der Straße, immer allein, weit weg von der Familie. In diesem Buch lässt Bortoluci seinen Vater erstmals von seinen Erlebnissen erzählen. Er schafft das Porträt eines einfachen Mannes, der den Bau der Transamazônica, die Abholzung des Regenwalds, den rasanten Ausbau des Landes und die Spuren des vermeintlichen Fortschritts erlebt hat. Die Strecke, die Didi mit dem LKW zurücklegt, ist dabei auch die Kluft, die sich zwischen seinem Leben und dem seines Sohnes, dem der soziale Aufstieg gelingt, auftut. Eine berührende Hommage an die Beziehung von Vater und Sohn, und an ein Leben, das bleibt.

'Vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Geschichte Brasiliens zeichnet der Autor José Henrique Bortoluci das Leben seines Vaters nach, der als Lkw-Fahrer tätig war. Gleichzeitig analysiert er seinen eigenen Weg als Aufsteiger in eine andere soziale Klasse. Ein großartiges Buch.' Didier Eribon.

»Eine herausragende Geschichte über Männlichkeit, Vaterschaft und über den sozialen Aufstieg von Bortoluci, dem Sohn von Eltern, die keinen Zugang zu Bildung hatten.« Folha de S. Paulo.



José Henrique Bortoluci, geboren 1984, stammt aus einer einfachen Familie. Aufgewachsen in Jaú, Brasilien, studierte er Soziologie in São Paulo und promovierte an der University of Michigan. Seit 2015 unterrichtet er an der Getúlio Vargas Foundation in São Paulo. Sein Debüt über seinen Vater erscheint in zehn Sprachen. Maria Hummitzsch übersetzt Literatur aus dem Englischen und Portugiesischen, u. a. von Honorée Fanonne Jeffers, David Garnett und Carola Saavedra.

Erinnern und Erzählen


Daran, dass mein Vater für mich nichts war als zu viel Abwesenheit. Und der Fluss … Fluss … Fluss … in einem fort.

João Guimarães Rosa
Das dritte Ufer des Flusses

Denk dran, dass dein Vater mitgeholfen hat, diesen Flughafen zu bauen, damit du fliegen kannst. Diesen Satz meines Vaters bekomme ich jedes Mal zu hören, wenn ich am Flughafen Guarulhos einen Flieger besteige. Und ich denke jedes Mal daran, aber es zu begreifen, hat eine Weile gedauert. Der Fernfahrervater besucht sein Zuhause, seine Frau und seine Kinder. Er kommt, fährt aber bald wieder los. Er und sein Lkw, ein Paar, fast schon ein einziges Ding, das zu viel war und zu wenig, beständig und flüchtig. Als kleiner Junge wollte ich, dass sie blieben, dass sie wegfuhren, wollte ich mit ihnen fahren.

Diesen Satz wiederholte er auch an dem Tag im August 2009, als ich in die USA flog, um meinen Doktor in Soziologie zu machen, und wir auf dem Weg zu besagtem Flughafen waren. In den Monaten, in denen ich mich auf diesen Umzug vorbereitete, zeigte ich ihm den Bundesstaat Michigan wiederholt auf der Landkarte. Wir errechneten die Entfernung zwischen Jaú und Ann Arbor, wo ich die kommenden sechs Jahre leben würde. Mein Vater versteht nichts von der Welt der Universitäten, er beherrscht weder die Terminologie noch die akademischen Gepflogenheiten. Er hat eine vage Vorstellung davon, was es heißt, einen Doktor zu machen. Von Entfernungen jedoch versteht er etwas.

Achttausend Kilometer trennen die beiden Städte. Diese Zahl beeindruckte ihn nicht. In fünf Jahrzehnten im Lkw hatte er diese Entfernung Hunderte Male zurückgelegt. Einmal bat er mich darum zu errechnen, wie viele Male man mit der Strecke, die er mit dem Lkw bewältigt hatte, die Erde umrunden könnte.

Kommt man damit bis zum Mond?

In der Vorstellung meines Vaters ist eine Lkw-Reise von der Erde bis zum Mond konkreter als mein Leben als Akademiker, Dozent und Autor.

Wörter sind Straßen. Mit ihnen verbinden wir die Punkte zwischen der Gegenwart und einer Vergangenheit, zu der wir keinen Zugang mehr haben.

Wörter sind Narben, die Überreste unserer Erfahrungen beim Zuschneiden und Zusammennähen der Welt, beim Zusammenflicken ihrer Teile, beim Zusammenklammern dessen, was auseinanderzureißen droht.

Wörter waren die Geschenke, die mir mein Vater in meiner Kindheit in seinem Lkw mitbrachte. Sie existierten für sich – Fahrersitz, Transamazônica, Lkw, Fernstraße, Amazonaswelle, Belém, Heimweh –, oder fügten sich zu Geschichten über eine Welt zusammen, die mir viel zu groß erschien. Ich musste sie mir in all ihren Farben ausmalen, sie mir einprägen und mich an ihnen festhalten, denn bald würde mein Vater erneut wegfahren und erst vierzig, fünfzig Tage später wiederkommen.

Die meisten dieser Geschichten waren Rekonstruktionen von Ereignissen, die er auf der Straße gesehen oder gehört hatte. Andere waren Fantasiegebilde: die spektakuläre Jagd auf einen Riesenvogel im Amazonas, die Legende von einem Schafbock, den er auf einer Fernstraße aufgegabelt und als Begleiter mitgenommen hatte, die Reisen über die bolivianische Grenze mit Hippiegruppen in den Siebzigern. Viele von ihnen waren wahrscheinlich eine Mischung aus Fakten und Phantasie. Er beschreibt detailliert das Auftauchen eines UFOs auf einer Straße in Mato Grosso, Nächte in abgelegenen indigenen Dörfern, Zusammenstöße mit bewaffneten Soldaten und heldenhafte Rettungen von Lkws, die in Schluchten gestürzt waren.

Mein Vater heißt José Bortoluci. In Jaú nennen ihn alle Didi, aber auf der Straße war er Jaú. Geboren wurde er im Dezember 1943 als fünftes von neun Kindern im ländlichen Teil einer Kleinstadt im Inland von São Paulo.

Mein Vater besuchte die Schule bis zur vierten Klasse, arbeitete ab seinem siebten Lebensjahr auf dem kleinen Bauernhof seiner Familie und zog mit fünfzehn mit ihr in die Stadt. Als er Fernfahrer wurde, war er gerade einmal 22 Jahre alt. Ich war jung, aber mutig wie ein Löwe. 1965 fing er mit dem Lkw-Fahren an, und 2015 ging er in Rente. Das Land, das er durchquerte und aufzubauen half, war damals ein anderes, fühlt sich in den letzten Jahren aber bekannt an: ein von der Logik der Grenze beherrschtes Land, von der Expansion um jeden Preis, der »Kolonisierung« neuer Territorien, der Umweltzerstörung, einer Gesellschaft der immer größeren Ungleichheit. Die Straßen und Lkws nehmen einen wesentlichen Platz in dieser Vorstellung von einer fortschrittlichen Nation ein, in der Wälder und Flüsse Fernstraßen, Minen, Weideflächen und Kraftwerken weichen.

Beladen war der Lkw mit meinem Vater, schmutziger Wäsche und wenig Geld. Meine Mutter war verzweifelt und füllte zwei Rollen aus: versorgte ihre Kinder und nähte für andere.

Ich bin der Älteste. Ich verstand sehr früh, dass unser Familienleben von den Risiken extremer Armut, galoppierender Inflation und früh einsetzender Krankheit überschattet war.

Wir gewöhnten uns daran, in einem Zustand der Ungewissheit zu leben, mit dem Druck offener Rechnungen und innerhalb der unmittelbaren Grenzen dessen, was wir essen, erleben und uns wünschen konnten. Hungern mussten wir nie, in manchen Zeiten, weil Nachbarn, Freunde und Verwandte uns halfen, wenn das Familieneinkommen zur Neige ging und die finanziellen Forderungen an meinen Vater ihren Höchststand erreichten. »Aber ich lernte einen Halbhunger kennen, wie man ihn beim Duft des Mittagessens spürt, der durch die Türen der Bessergestellten dringt«, wie ihn die dänische Autorin Tove Ditlevsen in »Kindheit« beschreibt, und ich weiß noch, wie ich mich an ihn gewöhnte. Ein drängender Halbhunger, den wir für gewöhnlich verachten und dem wir die irreführende Bezeichnung »Appetit« gegeben haben. In meinem Fall wurde dieses Gefühl von der Werbung für zuckerhaltige Joghurts und Cerealien befeuert, die in den Achtzigern und Neunzigern das Fernsehen überschwemmte und bis heute wie ein klangloses Echo jener vergangenen Sehnsüchte lästige Gelüste in mir auslöst.

Ein Großteil der Kleidungsstücke, die mein Bruder und ich in den ersten zwanzig Lebensjahren trugen, waren gebraucht, von einem Onkel oder einer Tante gespendet, oder aber in »Second Hand Shops« gekauft. Meine Mutter, die als Schneiderin arbeitete, um zu den Haushaltseinnahmen beizutragen, sorgte dafür, dass sie umgenäht und tadellos sauber waren. Die neueren waren »für den Gottesdienstbesuch«, die älteren für den Gebrauch unter der Woche.

Unser Haus war klein und stickig, nach und nach an die Rückseite des Hauses meiner Großeltern gebaut worden. Die offene Küche stand bei jedem stärkeren Regen unter Wasser. In diesem Raum lernten mein Bruder und ich für die Schule, und meine Mutter arbeitete dort den ganzen Tag. Die Klangkulisse in diesem Haus bildete das Nähmaschinenrattern und das auf irgendeinen Lokalsender eingestellte Radio meiner Mutter. Viel Arbeit, wenig Geld und keine Zeit, die Fäden des gewebten Tuchs wieder aufzutrennen: in dieser Geschichte gibt es keinen Odysseus und keine Penelope.

Meine Mutter hasste es, wenn mein Vater im Haus rauchte. Darum verbrachte er, wenn er in Jaú war, viel Zeit auf einer Treppenstufe von der Küche in den kleinen Hof, den wir uns mit meinen Großeltern mütterlicherseits teilten. Diese Stufe, ein begrenzter Raum zwischen Innen und Außen, verkörperte den unklaren Status, den mein Vater für mich besaß. Ein Mann, den ich als festen Teil meines Lebens ansah und zugleich als sporadischen Gast, der den Rhythmus unserer Tage störte.

Die finanziellen Forderungen an ihn hörten nie auf. Bei uns zu Hause hing ein stiller Schrecken in Verbindung mit dem Wort »Überziehungskredit« in der Luft, das ich wahrscheinlich schon in meinen frühen Lebensjahren lernte. Und mehr als alles andere mit »Schulden«: ein Würgemale auslösendes Wort, das sich wie Zigarettenrauch in den Zimmern ausbreitete. Dieses Wort kam mit dem Lkw und blieb auch nach der Abreise meines Vaters zurück. Bis heute ruft das Wort »Schulden« Erinnerungen an den Geruch von Zigaretten und das Bild jener Treppenstufe im Haus meiner Eltern wach.

Es gibt so gut wie keine schriftlichen Zeugnisse aus diesen fünfzig Jahre auf der Straße – nur zwei Postkarten an...

Erscheint lt. Verlag 18.6.2024
Übersetzer Maria Hummitzsch
Sprache deutsch
Original-Titel O que é meu
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Schlagworte Annie Ernaux • Beziehungen • Brasilien • Didier Eribon • Familie • Gegenwartsliteratur • Klassismus • Lastwagenfahrer • Literatur • LKW • Sohn • Soziale Klasse • Sozialer Aufstieg • Südamerika • Trucker • Vater
ISBN-10 3-8412-3654-5 / 3841236545
ISBN-13 978-3-8412-3654-8 / 9783841236548
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