ME/CFS - Ein Käfig voller Held*innen -  Bonny Sperara

ME/CFS - Ein Käfig voller Held*innen (eBook)

Höchste Zeit für ein Realitäts-Update
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-6297-9 (ISBN)
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Manches muss man nicht selbst erleben, um sich vorstellen zu können, welche Probleme es verursacht. So wird etwa auch ein Busfahrer, der sich sein Leben lang gesunder Beine erfreut, niemanden, der sich mit Gehhilfen seinem Fahrzeug nähert, zur Eile mahnen, und er wird ihm unaufgefordert die hintere Tür öffnen. So werden die Probleme des blinden Nachbarn auch ohne nähere Erklärung klar sein, und niemand wird seinen guten Geschmack bezweifeln, wenn in seiner Wohnung keine Bilder hängen. Und jeder Chef wird sich zumindest ungefähr vorstellen können, was es bedeutet, wenn ein Mitarbeiter an Krebs erkrankt. Aber wie ergeht es Menschen mit ME/CFS, einer Krankheit, die starke Einschränkungen in allen Lebensbereichen verursacht, und viele Betroffene zu Pflegefällen macht? Was erleben sie im Kontakt mit Lehrerinnen oder Verwandten, Nachbarn und Vorgesetzten, und vor allem mit Ärztinnen und Ärzten? Leiden sie doch an etwas, wovon nur die wenigsten Leute jemals gehört haben, und das von einem Großteil jener Wenigen für ausgedacht oder eingebildet gehalten wird. Dieses Buch ist der Versuch, sämtliche Fragen zu ME/CFS, die kein tiefergehendes medizinisches Verständnis erfordern, zu beantworten, mit den sich um die Krankheit rankenden Mythen aufzuräumen und die von Betroffenen geäußerten Bedürfnisse verstehbar zu machen. In überwiegend erzählender Form wird eindrücklich vermittelt, was es bedeutet, mit dieser noch immer wenig bekannten und beachteten Krankheit leben zu müssen.

ERSTER TEIL


VERGISS, WAS DU ZU WISSEN GLAUBST!


In der Einleitung habe ich geschrieben, dass es jederzeit jeden treffen kann. ME/CFS; eine Krankheit, die Betroffene zu einem reduzierten Leben voller Schmerzen und diverser weiterer Missempfindungen zwingt. Genaugenommen kann ich das aber gar nicht behaupten, weil man ja möglicherweise eines Tages beispielsweise ein Gen finden wird, das nur manche dafür empfänglich macht.

Auffällig viele Erkrankte waren in der Vergangenheit ziemlich engagiert, führten ein sehr aktives Leben. Ich habe meine Erkenntnisse zu einem großen Teil in der Online-Selbsthilfe gesammelt bzw. überprüft. Man könnte mit einigem Recht die hier oder auch anderswo zu dem Thema ME/CFS geschilderten Eindrücke als kaum repräsentativ betrachten. Denn es müssen doch einige Bedingungen erfüllt sein, damit sich eine Erkrankte überhaupt in einem solchen Forum austauscht bzw. austauschen kann. Ebenso kann man davon ausgehen, dass die wenigen Ärzte, die Betroffene nicht als Spinner oder Simulanten abstempeln, schwerere Fälle oft gar nicht zu Gesicht bekommen - oder die vielen Erkrankten, die es irgendwann aufgegeben haben, nach einem Arzt zu suchen, der ihnen sagen kann, was mit ihnen nicht stimmt. Ein vollständig realistisches Bild lässt sich so kaum gewinnen, doch solange es keine zuverlässige Statistik gibt, bleibt nur, auf diese Art herauszufinden, was auffällig und vielleicht typisch ist.

Allerdings betrifft diese Unsicherheit im Prinzip nur genauere Zahlen. Denn worunter Betroffene leiden, darüber gibt es keine Unklarheit. Es findet sich eine enorme Anzahl oft sehr präziser, und sich letztlich ziemlich ähnelnder Berichte, die ein tatsächliches Erleben des Geschilderten zumindest äußerst wahrscheinlich machen. Es ist mir sehr wichtig, klarzustellen, wie genau ich die Schilderungen von Menschen, die sich oft zwar selbst als betroffen empfinden, denen es aber, sei das nun berechtigt oder nicht, häufig (noch) nicht gelungen ist, eine Diagnose zu erhalten, auf ihre Plausibilität hin überprüfe. Einerseits bin ich ein sehr skeptischer Mensch, und sehr vorsichtig damit, was ich äußere, und andererseits kenne ich die Krankheit nach vielen Jahren wirklich genau, und durchschaue ihre Mechanismen ziemlich vollständig. Dass ich das ohne ärztliche Unterstützung schaffen musste, ist aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang sogar ein Vorteil, weil mir dadurch nichts suggeriert worden ist, und ich mich eine sehr lange Zeit über wirklich sehr intensiv damit beschäftigen musste, die vielen Puzzleteilchen an den richtigen Platz zu bringen. Dadurch ist mir heute zum Beispiel meist klar, warum andere Erkrankte genau so beschreiben, genau so formulieren, wie sie es tun. Als Selbstbetroffene kann man dort vieles herauslesen, was einem bestens vertraut ist. Wobei ich damit weniger einzelne Beschwerden meine, die ja grundsätzlich verschiedene Ursachen haben können. Gemeint sind eher Reaktionen der Betroffenen, wie beispielsweise die Ungläubigkeit, wenn man nach langer, womöglich jahrelanger Suche, endlich die Erklärung für seine Schwierigkeiten gefunden hat.

Man erlebt eine Mischung der widersprüchlichsten Empfindungen, ist unfassbar erleichtert, endlich Klarheit zu haben, muss aber gleichzeitig verdauen, dass es keine Heilung gibt, und zudem die Antwort auf alle Fragen eine ist, der geradezu der Nimbus des Übernatürlichen anhaftet. Trotzdem sind viele Erkrankte mehr als froh, die Antwort endlich gefunden zu haben. Es ist die gleiche Art von Erleichterung, die Eltern empfinden, wenn man ihnen irgendwann mitteilt, dass ihr vor Jahren verschwundenes Kind tot ist. Nichts ist schlimmer als die Ungewissheit.

ME/CFS ist im Prinzip eine ziemlich logische Krankheit. So ominös sowohl die Kombination als auch die Ausprägung der Symptome erscheinen mag, solange man nicht die geringste Vorstellung von ihrer Ursache hat, so mühelos fügt sich alles zu einem sinnvollen Ganzen, hat man erst einmal verstanden, was im eigenen Körper vorgeht. Leider ist der Weg dahin in den meisten Fällen alles andere als mühelos, weil vielen Betroffenen schlicht die für dieses Begreifen notwendige Information fehlt.

Man kann die Erkrankten grob in zwei Gruppen einteilen: diejenigen, denen innerhalb eines eher kurzen Zeitraumes eindeutig klar wird, dass sie ernsthaft krank sind, und die, die länger dazu brauchen, manchmal jahrelang. Es ist unmöglich, festzulegen, was "besser" ist, weil im einen Fall der Schock größer sein dürfte, im anderen die Quälerei länger andauert. Eher schon lassen sich Gründe dafür finden, warum es diese Unterschiede gibt. Sie sind allerdings recht vielfältig. So kann es etwa eine Rolle spielen, ob man nur für sich allein verantwortlich ist oder eine Familie hat, ob man bisher eher gesund war oder Vorerkrankungen hat, oder wie man erzogen wurde.

Tatsache ist wohl, dass deutlich mehr Frauen erkranken als Männer, und für mich ist das kein Mysterium. Einerseits werde ich mich nicht wundern, wenn man eines Tages ein entsprechendes Gen isoliert, andererseits erkenne ich durchaus ein Muster in den Berichten Betroffener. Vergleichsweise oft finden sich Hinweise auf eher größere Intelligenz, auf ein sehr ausgefülltes Leben - wie eingangs schon erwähnt - auf Verantwortungsbewusstsein und hohe Ansprüche an das eigene Funktionieren. Natürlich sind die meisten Menschen intelligent, haben mehr zu tun, als gut für sie ist, und die Erwartung, alles tun zu können, was sie tun wollen. Dennoch scheinen viele Erkrankte, zu welcher der beiden oben genannten Gruppen sie auch gehören mögen, größere Schwierigkeiten zu haben, die Dinge zu tun - bzw. zu unterlassen - zu denen ihr Körper sie doch recht eindeutig auffordert. Und das nicht nur, weil es ihnen schwerfällt, auf Reisen und Partys zu verzichten.

Wohl niemand weiß besser als ich selbst, wie schwierig all das ist, weshalb das keinesfalls als Kritik zu verstehen ist. So verfügt zum Beispiel nicht jede Person, die Kinder zu versorgen hat, über den Luxus, krank sein zu dürfen und zu können; nicht jeder hat Menschen, die einspringen, wenn er ausfällt. Und nicht jeder Person wurde beigebracht, auf den eigenen Körper zu hören, eigene Bedürfnisse wahr- und wichtig zu nehmen. Man mag es als sexistisch betrachten, aber ich fürchte, dass das noch immer eher auf Frauen zutrifft.

Und manchmal kommt eben alles zusammen. Ein dauerhaft so hohes Maß an Belastung, dass man eigentlich besser von permanenter Überforderung sprechen sollte. Fehlende Erholungsmöglichkeiten, ein erziehungsbedingt gestörtes Verhältnis zur eigenen Leistungsfähigkeit, kein Gefühl für die eigenen Grenzen, einhergehend mit einer quasi nicht vorhandenen Selbstachtung. Kommunikative und soziale Schwierigkeiten, die es unmöglich machen, rechtzeitig Hilfe und Unterstützung zu organisieren. Und dazu noch neurologische Besonderheiten, die eine generell erhöhte Hirnaktivität verursachen. Das mag ein Extremfall sein, aber so war es bei mir. Weshalb ich es heute nicht mehr als verwunderlich betrachte, dass mein Körper irgendwann irreparabel beschädigt war.

Denn es ist der Körper, der kaputt geht. Das ist eine der wichtigsten Aussagen im Zusammenhang mit ME/CFS. Man mag begleitend psychische Probleme haben oder bekommen, die Wahrscheinlichkeit ist, aus gut nachvollziehbaren Gründen, wirklich groß. Aber diese Krankheit ist körperlich. Ich habe seit frühester Jugend unter Depression und Ängsten gelitten, habe mehr als einmal sehr schwere, mehrere Jahre andauernde Episoden mit Suizidgefährdung, und einen Suizidversuch überstanden, weil ich gekämpft habe, weil ich es schaffen wollte. Ich habe einen wirklich starken Willen. Aber diese Krankheit besiegt man nicht mit reiner Willenskraft. Das ist unmöglich.

Auch das erwähnte ich schon in der Einleitung: natürlich kann und will ich nicht ausschließen, dass jemand, der an ME/CFS leidet, von allein wieder gesund wird. In der Selbsthilfe habe ich von zwei Fällen gelesen, in denen das gelungen sein soll. Im einen habe ich von Anfang an bezweifelt, dass es sich um diese Krankheit handelt. Im anderen kann ich das nicht beurteilen, habe aber aufgrund meiner Erfahrungen Zweifel daran, dass eine Heilung durch die beschriebene Methode funktionieren kann. Letztlich spielt es aber wohl auch eine Rolle, wie schwer, und wie lange jemand krank ist. Ich hoffe sehr, dass man bald mehr Ressourcen als bisher dafür aufwendet, um derartige wichtige Fragen zu klären. So dass man hoffentlich irgendwann beispielsweise wissen wird, ob sich der Körper nach nur einiger Zeit im Ausnahmezustand tatsächlich noch (vollständig) regenerieren kann.

Ich fände es wirklich wunderbar, wenn wenigstens Neu-Erkrankte die reelle Chance hätten, wieder gesund zu werden. Dazu wäre es allerdings notwendig, dass die Erkrankung umgehend sicher diagnostiziert wird. Das liegt jedoch leider noch in weiter Ferne. Weil dem gegenwärtig eine ganze Reihe von Umständen entgegensteht. Wobei die eigentlichen Fakten schon sehr ungünstig für die Betroffenen sind - also dass nur wenige...

Erscheint lt. Verlag 7.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7597-6297-2 / 3759762972
ISBN-13 978-3-7597-6297-9 / 9783759762979
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