Syrien verstehen (eBook)
560 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12326-5 (ISBN)
Gerhard Schweizer, 1940 in Stuttgart geboren, promovierte an der Universität Tübingen in Empirischer Kulturwissenschaft. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Wien, wenn er nicht gerade auf Reisen recherchiert und Material für neue Reportagen und Bücher sammelt. Er ist einer der führenden Experten für die Analyse der Kulturkonflikte zwischen Abendland und Orient und gilt als ausgewiesener Kenner der islamischen Welt. Gerhard Schweizer hat dazu mehrere Bücher veröffentlicht, die als Standardwerke gelten. Einem breiten Publikum wurde er vor allem durch seine Bücher über den asiatischen und arabischen Raum bekannt.
Gerhard Schweizer, 1940 in Stuttgart geboren, promovierte an der Universität Tübingen in Empirischer Kulturwissenschaft. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Wien, wenn er nicht gerade auf Reisen recherchiert und Material für neue Reportagen und Bücher sammelt. Er ist einer der führenden Experten für die Analyse der Kulturkonflikte zwischen Abendland und Orient und gilt als ausgewiesener Kenner der islamischen Welt. Gerhard Schweizer hat dazu mehrere Bücher veröffentlicht, die als Standardwerke gelten. Einem breiten Publikum wurde er vor allem durch seine Bücher über den asiatischen und arabischen Raum bekannt.
Erste Eindrücke: Syrien ein Pulverfass?
Tradition und Umbruch
Es war ein bemerkenswertes Hotel. Alle Zimmer mündeten mit ihren Türen in einen Vorraum, in dem eine Vielzahl Teppiche ausgelegt war – Gebetsteppiche. An die weißgetünchte Stirnwand hatte eine etwas ungelenke Hand die Kaaba sowie die Hauptmoschee von Mekka gepinselt, dazu einige arabische Schriftzeichen. Zusätzlich war dort auf Englisch zu lesen: »Mecca on this direction«. Der internationale Hinweis auf die Gebetsrichtung galt für nichtarabische Muslime, besonders für Türken, Geschäftsreisende, von denen etliche nahe meinem Zimmer wohnten. Manche der Betenden waren jung und westlich gekleidet, ältere Syrer dagegen trugen meist den Keffiye, das rotweiß gewürfelte Kopftuch mit schwarzem Kamelhaarring, einige noch den weiten Umhang.
Ein bemerkenswertes Hotel auch in den Kontrasten. Seitlich über den Betenden hingen zwei große Kunstdrucke in lackierten Holzrahmen, wie man sie bei uns in Kaufhäusern erstehen kann. Die Bilder zeigten schneebedeckte Berge, Blumenwiesen, weidende Kühe, dazu sehr österreichisch wirkende Almhütten. Ohne Zweifel können solche Bilder im sommerlich heißen Syrien exotische Sehnsüchte wecken. Es waren Kunstdrucke, wie ich sie mit nahezu gleichen Motiven später auch immer wieder in Teestuben entdecken sollte. Im Nebenraum dröhnte zeitweise ein Fernsehapparat. Als ich mich das erste Mal dort in einem der plastiküberzogenen Sessel niederließ, flimmerte über die Mattscheibe ein Fußballspiel: Tunesien gegen Zaire.
Eine Woche wohnte ich in diesem Hotel, einem traditionellen Funduk, der von außen so unscheinbar wirkte wie die anderen verwinkelten Häuser entlang der Marktstraße. Direkt unter meinem Balkon wälzte sich ein bunter Menschenstrom, der erst während der späten Abendstunden verebbte, rumpelten gemüsebeladene handgezogene Karren, bahnten sich schrill hupende Autos einen mühsamen Weg. Den Ausblick hatte ich auf Kuppelbauten, ein ornamentverziertes Minarett, in der Ferne Betonwohnblocks, massig die historisch gewachsene Altstadt überragend. Ich befand mich in der nordsyrischen Handelsmetropole Aleppo. Hier, nahe der türkischen Grenze, trifft der aus Europa kommende Reisende erstmals auf eine Großstadt mit auffälligem syrisch-arabischem Flair. Aber bereits hier sollte ich anschaulich erleben, wie schroff in Syrien die politischen und religiösen Gegensätze aufeinanderprallen.
Ich saß mit anderen Gästen des Funduk bei den Abendnachrichten. Unruhen der Palästinenser im israelisch besetzten Westjordanland ... Besuch des amerikanischen Außenministers in Damaskus bei Syriens Staatspräsident Hafis al-Assad ... Kongress der regierenden Baath-Partei ... Dieses dritte Thema beherrschte den Bildschirm. In nervtötender Ausführlichkeit glitt die Kamera über die Versammelten im Saal hinweg, die sich Reihe für Reihe von ihren Plätzen erhoben, rhythmisch in die Hände klatschten und in Jubelrufe ausbrachen. Sie hatten sich einem Podium führender Parteimitglieder zugewandt, über dem erdrückend groß das Monumentalporträt des Staatspräsidenten Assad auf die Versammelten herabsah: ein schmales, kantiges Gesicht mit harten, strengen Augen. Die Kamera verweilte geduldig auf Beifall klatschenden Kongressteilnehmern, deren hochgehaltene Transparente Porträts eines gönnerhaft lächelnden Staatspräsidenten zeigten, mit flammend roten Herzen umrahmt.
Der Inszenierungsstil erschien wie aus einer anderen Zivilisation importiert. Europäer fühlen sich an ähnliche Propaganda in den ehemaligen Ostblockstaaten erinnert, so die Choreographie der Beifallskundgebungen, der Personenkult, die Details der Kameraführung. Ein Zufall? Im Gegenteil, Syriens Baath-Sozialisten haben sich ganz bewusst an Vorbildern des Ostblockfernsehens orientiert.
Ich beobachtete die Zuschauer. Sie begannen, kaum nachdem die ersten Szenen des Baath-Parteitags den Bildschirm füllten, miteinander zu plaudern. Ihre Gebärdensprache verriet deutlich das mangelnde Interesse. Einer rief fingerschnipsend den Kellner und bestellte nach ausführlichem Palaver schließlich Tee, andere drehten dem Fernsehapparat den Rücken zu. Bei zwei älteren Männern, traditionell mit Keffiye und weitem Umhang bekleidet, konnte ich deutlich Gesten der Verdrossenheit erkennen, sie erhoben sich aus den Plastiksesseln und schlurften zu ihren Zimmern.
Hizb al-Baath al-Arabi al-Ishtiraki, »Sozialistische Partei der arabischen Wiedergeburt« ... Wie fremd muss jedem orthodoxen Muslim der Inszenierungsstil, der Parteiname erscheinen?
Die Frage wird vollends brisant, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Baath-Partei zwar von einem Syrer, nicht aber von einem Muslim begründet wurde. Der 1910 in Damaskus geborene Michel Aflak war Christ, er entstammte einer Minderheit, die um die zwölf Prozent der syrischen Bevölkerung ausmacht und eine beachtliche Wirtschaftsmacht bildet. Aber mehr noch: Aflak war linksorientierter Nationalist, der in Paris studierte und sich dort ausgiebig mit nationalistischen und sozialistischen Ideologien des Westens auseinandergesetzt hatte. So nimmt es nicht wunder, dass in seiner Ideologie auch kommunistische Elemente zu finden sind. Bereits im Ansatz widersprach er dem Selbstverständnis orthodoxer Sunniten wie Schiiten. Baath, »Wiedergeburt«, bezieht sich auf die »Araber«, nicht auf die Muslime. Aflak sah in der »Nation« das entscheidende Bindeglied, das Muslime und Christen gleichberechtigt verbindet, nicht im Islam. Ein dem traditionellen Denken ebenso fremd erscheinender Begriff ist »Ishtirakiya«, »Gemeinsamkeit des Besitzes«, im übertragenen Sinn »Sozialismus«; das Wort hat sich erst während des 19. Jahrhunderts – in der Auseinandersetzung mit westlichen Ideen – bei Türken und Arabern herausgebildet.[1]
1943 war die Partei entstanden, 1963 hatten sich die Baath-Sozialisten in Syrien an die Macht geputscht und sich im Verlauf parteiinterner Flügelkämpfe noch radikalisiert. 1970 schließlich war Hafis al-Assad durch einen Putsch gegen die eigene Parteiführung Staatspräsident geworden. Damit hatte sich die politische Situation in Syrien noch einmal zugespitzt, denn Assad gehört zur schiitisch-arabischen Sekte der Alawiten. (Sie ist religiös eng verwandt mit den schiitisch-türkischen Aleviten.) Diese Glaubensgemeinschaft wird von orthodoxen Sunniten wie Schiiten als »ketzerisch« angesehen, ja von nicht wenigen Muslimen als »halbislamisch« oder gar als »ungläubig« abgelehnt. Ungefähr elf Prozent der Syrer sind Alawiten, rund zwei bis drei Prozent Schiiten orthodoxer Richtungen, rund drei Prozent Drusen, aber rund 70 Prozent Sunniten. Welch eine politische Konstellation: Ein Christ begründet die Partei, eine kleine schiitische Minderheit regiert seit zweieinhalb Jahrzehnten!
Wie hat es zu einem derartigen Umbruch kommen können in einem Land, in dem ein Großteil der Muslime noch traditionalistisch lebt und denkt?
Die Frage gewinnt eine weitere Dimension, wenn wir uns klarmachen, dass die Baath-Partei auch im benachbarten Irak Fuß fassen konnte. Dort putschten sich die Baathisten 1968 an die Macht und können seither ihre Position ebenfalls gegen alle Widerstände orthodoxer Muslime halten. Mehr noch: Die Ideologie des syrischen Christen Aflak hat als Vorbild auch für andere moderne Nationalbewegungen der arabischen Welt gedient.
In Syrien sind die Spannungen explosiver geworden, seit die Baath-Partei unter dem Alawiten-Führer Assad regiert. Gerade auch in Aleppo. In dieser Stadt, einer Hochburg sunnitischer Orthodoxie, hatten sich während der siebziger Jahre eine Reihe von Demonstrationen gegen die Herrschaft der »ungläubigen« Alawiten und Baath-Sozialisten formiert, bis hin zum offenen Aufruhr. 1979 schossen radikal-islamische Gegner in einer Artillerieschule von Aleppo über zweihundert Kadetten, vorwiegend Alawiten, nieder. Die Regierung antwortete ebenso brutal, ließ Tausende mutmaßliche Feinde des Regimes einsperren und foltern, etliche Hundert sofort hinrichten. 1980 erschoss die Polizei bei einer Protestkundgebung in Aleppo über dreihundert Demonstranten auf offener Straße. Zu Beginn der achtziger Jahre war ganz Syrien von Unruhen erfüllt, die in einen Bürgerkrieg auszuufern drohten – ähnlich, wie er seit 1992 in Algerien zwischen »sozialistischen« Machthabern und islamischen Fundamentalisten tobt.
»Ikhwan al-Muslimun«, Syriens Muslim-Bruderschaft, rief 1982 gar zum landesweiten Aufstand auf, mit der Parole, eine »Islamische Republik« zu errichten. Mehr als 30 000 Aufständische verloren allein in der mittelsyrischen Stadt Hama innerhalb weniger Tage ihr Leben, als sie bis zur letzten Patrone gegen den Belagerungsring der Regierungstruppen Widerstand leisteten. Das Blutbad von Hama, das zu den schlimmsten Massakern in der neueren Geschichte des Nahen Ostens zählt, hat weder in arabischen noch westlichen Zeitungen große Schlagzeilen gemacht. Denn 1982 war die Aufmerksamkeit der Medien auf die sich zuspitzende Krise im Libanon konzentriert, wo Israel in den Bürgerkrieg zwischen Sunniten, Schiiten und Christen eingriff und den Südteil des Landes vorübergehend besetzte. Dabei sind in Syrien zu Beginn der achtziger Jahre bei bürgerkriegsähnlichen Unruhen mehr Muslime durch Muslime getötet worden, als Syrer insgesamt in sämtlichen Kriegen gegen Israel gefallen sind.
Syrien ist – wie ohnehin die ganze islamische Welt – von einer religiösen und geistigen Einheit weit entfernt. Aber in Syrien summieren sich auf engstem Raum ideologische und religiöse Gegensätze wie sonst kaum im Nahen Osten. Hier stehen...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Naturwissenschaften ► Geowissenschaften ► Geografie / Kartografie | |
Schlagworte | arabischer Nationalismus • Assad • Baschar al-Assad • Billig • Bürgerkrieg • Diktatur • eBook • E-Book • Geschichte Syriens • Gesellschaft Syriens • großsyrischer Nationalismus • günstig • Islamischer Fundamentalismus • Islamischer Staat • Islamische Welt • Krisenherd • Kulturkonflikte • Libanon • Naher Osten • Nahostkonflikt • Politik Syriens • Schiiten • Sunniten • Syrien • Syrien-Katastrophe • Syrische Katastrophe • Taschenbuch |
ISBN-10 | 3-608-12326-1 / 3608123261 |
ISBN-13 | 978-3-608-12326-5 / 9783608123265 |
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