Autismus (eBook)
128 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-80142-6 (ISBN)
Helmut Remschmidt ist em. Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Philipps-Universität Marburg und Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Für seine international bedeutsamen Leistungen wurde er 1999 mit dem renommierten Max-Planck-Forschungspreis ausgezeichnet. <br><br> Sanna Stroth ist Projektleiterin im Marburger Institut für Autismusforschung und Therapie. Sie forscht zu den biologischen und sozialen Grundlagen der Autismus-Spektrum-Störung.
2. Autismus-Spektrum-Störung
2.1 Charakteristische Merkmale (Symptomatik des frühkindlichen Autismus)
Die beiden international gebräuchlichen Klassifikationssysteme (ICD-10 bzw. ICD-11 und DSM-5) beschreiben die Kriterien, die einer Diagnose der Störung zugrunde gelegt werden. Beide Klassifikationssysteme stellen die folgenden Kernmerkmale heraus, die in Tabelle 1 ausführlicher wiedergegeben sind:
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qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Aktionen,
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qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation,
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eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster.
Im DSM-5 sowie in der ICD-11 werden die ersten beiden Kategorien vereinigt. Darüber hinaus werden in der ICD-10 noch einige unspezifische Probleme angeführt, wie Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen, Selbstverletzungen.
Tabelle 1: Diagnostische Leitlinien bzw. Kriterien für den frühkindlichen Autismus nach ICD-10 und DSM-5 (gekürzt und sinngemäß)
ICD-10 | DSM-5 |
1. Qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Aktionen (z.B. unangemessene Einschätzung sozialer und emotionaler Signale; geringer Gebrauch sozialer Signale) | A) Klinisch relevante, durchgängige Defizite im Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion (z.B. markante Defizite in der nonverbalen und verbalen Kommunikation, Mangel an sozioemotionaler Gegenseitigkeit, Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen) |
2. Qualitative Beeinträchtigungen der Kommunikation (z.B. Fehlen eines sozialen Gebrauchs sprachlicher Fertigkeiten; Mangel an emotionaler Resonanz auf verbale und nonverbale Annäherungen durch andere Menschen; Veränderungen der Sprachmelodie) | B) Begrenzte, repetitive Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten (z.B. stereotype motorische und verbale Verhaltensweisen, Festhalten am Gewohnten, ausgestanzte Sonderinteressen, Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize) |
3. Eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster (z.B. Starre und Routine hinsichtlich alltäglicher Beschäftigungen; Widerstand gegen Veränderungen) | C) Symptome müssen seit frühester Kindheit bestehen, können aber auch später auftreten, wenn die sozialen Anforderungen steigen. Die Diagnose darf aber nicht gestellt werden, wenn gute frühe soziale und kommunikative Fähigkeiten in der Kindheit vorgelegen haben |
4. Unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen, Selbstverletzungen | D) Die Symptome müssen zu einer klinisch bedeutsamen Beeinträchtigung in sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen Alltagsbereichen führen |
5. Manifestation vor dem 3. Lebensjahr | E) Die Symptomatik darf nicht durch andere Störungen erklärbar sein |
Bei der Beobachtung von Kindern mit frühkindlichem Autismus springen, im Einklang mit den Kriterien der Klassifikationssysteme, vor allem die folgenden drei Verhaltensweisen (Symptome) ins Auge:
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extremes Abgekapseltsein gegenüber der Umwelt,
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ängstliches Festhalten am Gewohnten (Veränderungsangst) und
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besondere Sprachauffälligkeiten.
In der Abkapselung zeigt sich eine extreme Kontaktstörung. Die Beziehungsaufnahme zu Personen, Ereignissen und Dingen ist abnorm. Es fehlen nahezu alle Zeichen der normalen kindlichen Kontaktaufnahme zu den Eltern, insbesondere zur Mutter: fehlendes Antwortlächeln, keine Aufnahme von Blickkontakt, fehlende Unterscheidung von Eltern und anderen Personen, Fehlen von Antizipationsgesten (z.B. Ausstrecken der Arme mit dem Ziel, hochgehoben zu werden). Hingegen zeigen die Kinder oft eine intensive Zuwendung zur sachlichen Umwelt.
Wenn sie älter werden, wird ein Fehlen des kooperativen Spielens deutlich und die Unfähigkeit, freundschaftliche Bindungen mit anderen Kindern einzugehen, sowie das nicht vorhandene Einfühlungsvermögen in die Gefühle anderer Menschen.
Das ängstliche Festhalten am Gewohnten zeigt sich darin, dass die Kinder in Angst- und Panikzustände geraten, wenn man in ihrer unmittelbaren Umgebung etwas ändert (vgl. das Fallbeispiel auf Seite 22/23).
Unter den Sprachauffälligkeiten sind zu erwähnen: die verzögerte Sprachentwicklung, die etwa bei der Hälfte der Kinder zu finden ist, sowie eine Neigung zu Wortneubildungen und zu Echolalien (echoartiges Nachsprechen von Wörtern oder Lauten). Die Kinder sprechen von sich in der dritten Person und lernen erst sehr spät, die eigene Person mit «ich» zu bezeichnen. Fast alle Kinder zeigen Stereotypien im sprachlichen und motorischen Bereich und eine Reihe von Wiederholungsphänomenen. Sie kommen nicht oder sehr verspätet ins Fragealter und stellen dann stereotyp die gleichen Fragen, deren Antworten sie bereits kennen. Viele autistische Kinder, die die Sprache erlernen, können sie nicht kommunikativ nutzen, sondern verwenden sie in mechanischer Weise. Die Sprache ist stets durch grammatikalische Fehler gekennzeichnet, einige Kinder erfinden neue Wörter (Neologismen), die für sie eine spezielle Bedeutung haben können.
Bei vielen Kindern mit frühkindlichem Autismus ist auch die Stimme auffällig: Sie ist wenig melodisch, die Betonung von Wörtern oder Satzteilen ist oft inadäquat, die Stimmstärke gleichbleibend, und der Sprechrhythmus erscheint oft abgehackt.
Manche Kinder zeigen zwanghafte Phänomene und eine Reihe weiterer Symptome wie Bevorzugung bestimmter Speisen, Aggressivität und Autoaggressivität sowie fehlende Angst vor realen Gefahren.
Im Laufe der Entwicklung kommt es bei vielen Kindern mit frühkindlichem Autismus zu einer Symptomverlagerung: Geräuschempfindlichkeit, Angstanfälle, psychomotorische Unruhe, Schlafstörungen und die Tendenz, Gegenstände oder Personen zu berühren, nehmen ab. Um die Symptomatik plastischer werden zu lassen, sei hier eine kurze Fallbeschreibung eingefügt:
Diagnose von Bernd: Frühkindlicher Autismus, geistige Behinderung. Ätiologie ungeklärt.
Körperlicher und neurologischer Untersuchungsbefund regelrecht. Intelligenz im oberen Bereich der geistigen Behinderung. (HAWIK-R), stark heterogenes Intelligenzprofil. Bernd kann sich sprachlich im alltäglichen Bereich gut verständlich machen, er schreibt seinen Namen und einzelne Wörter in großen Druckbuchstaben, kennt jedoch den Wert des Geldes nicht. Seit seinem sechsten bis neunten Lebensjahr lebt Bernd in einem Schulheim für geistig behinderte Kinder.
Ein Bruder ist ebenfalls geistig behindert, aber nicht autistisch.
Bernd ist antriebsarm, er muss oft «angeschoben» werden. Zu den Kindern und Jugendlichen im Heim hat er keine engere Beziehung, ein Kontakt besteht aber zu den Erzieher(innen) seiner Wohngruppe. Der Junge ist weder aggressiv noch eigenaggressiv. Wenn er sich ...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2024 |
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Reihe/Serie | Beck'sche Reihe |
Zusatzinfo | mit 5 Abbildungen und 16 Tabellen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Krankheiten / Heilverfahren |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Partnerschaft / Sexualität | |
Schlagworte | Abgrenzung • Asperger • Auffälligkeit • Autismus • Autismusforschung • Behandlung • Diagnose • Eltern • Entwicklungsstörung • Früherkennung • Inklusion • Jugendliche • Kinder • Kommunikation • Persönlichkeitsstörung • Psychiatrie • Psychologie • Psychotherapie • Seelische Störung • Sensibilität • Soziale Arbeit • Sozialverhalten • Störung • Therapie • Umweltfaktoren • Ursachen • Verhalten |
ISBN-10 | 3-406-80142-0 / 3406801420 |
ISBN-13 | 978-3-406-80142-6 / 9783406801426 |
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