Okuiride (eBook)

Vorwort

»Der Mythos besitzt einen flüssigen Horizont, der seine Beweglichkeit aus den Ritualen aufsaugt und – indem er sich von ihnen ernährt – den Mythos nicht zu starren Formeln und akademischen Stereotypien kondensieren lässt«.

—Ildefonso Sánchez

Die Zeit, in der wir leben: In der die Fiktion einer ausschließlich materialistischen1 Wissenschaft das Narrativ über den Körper dominiert. Sie überwacht ihr Reich mit der schweren Artillerie eines dekadenten Regimes in seinem letzten Schützengraben. »Der Körper ist eine Maschine und wird auch als solche repariert«, und wer von Energie, von Frequenz oder vom Gebet spricht, für den hält man die Verstoßung durch Verspottung bereit, der in das Bewusstsein der breiten Masse einprogrammiert ist; der Giggle-Effekt, der die sensiblen, unberührbaren Archive der feinstofflichen Heilwissenschaften über Bord wirft. Die Zeiten, in denen wir leben: In denen dieselbe raue, gefühllose, nihilistische Science-Fiction, die uns zugleich unterhält, – genauso wie man ein Tier ablenkt, das man dann mit einer Schlinge fängt – unsere Welt als Labyrinth ohne Ausgang einrichtet. Ohne Ausweg außer dem des Terraformings anderer Planeten, da unserer, die Mutter, die Gebärmutter Erde bereits in die Chronik eines angekündigten Todes gehört – in diesem Narrativ von finsteren Selbstbestätigungen, von niemandem entworfen, von der unfruchtbaren Leere, die die Seele frisst.

Die Science-Fiction stellt sich dann eine sterile Kapsel vor, in der wir uns dem Fetischismus des 21. Jahrhunderts widmen, uns mit Desinfektionsgel einreiben als wäre es ein aphrodisierender Balsam – so sehr ist der erotische Impuls abgenutzt –, und die Masken des Tanzes mit dem roten Tod designen … am Hof eines versklavenden Virus, zum Herrscher über die Wirklichkeit gekrönt … oder irgendeines anderen halluzinierten Feindes. Gelernte Hilflosigkeit, wie Bruce Nauman sagen würde: Es ist leichter Planeten in neue Umlaufbahnen zu lenken, als den Ursprung des Herzens der Finsternis aufzudecken – die kopflose Kraft –, das seine eigene Behausung unermüdlich zerstört und nicht einmal mehr weinen kann, während es mit dem schielenden Blick der Karte des Teufels des Marseiller Tarots seine frevelhafte und selbstmörderische Arbeit verrichtet. Ohne Ausweg außer künstliche Paradiese anzubieten, die Programme des Oculus der künstlichen Intelligenz, die endlose Trompe-l’œils erzeugen, Verengungen des Bewusstseins, die Second Lifes, das unendliche Scrollen der auf Neid programmierten Sucht: Darauf, dass andere einem folgen, auch wenn man sich nicht einmal selbst kennt2, um wie ein Michelin-Männchen aufgeblasen zu werden. Im Spiegelkabinett des Egos, die White Cubes, das Protokoll und der Anschein als einziges Substrat; die Welten der Kunst in die Ideologie des Minimalismus gekleidet, der in seinen dunkelsten Schatten verwandelt wurde. Der weiße Mantel des Arzt-Bots, ohne Dreck unter den Fingernägeln, die Excel-Tabelle der Rechnung des Patienten, die den Schwindel verbirgt, die tausendundeine falsche Fassade des Gesetzesgebäudes; der Betrug am helllichten Tag in der der Stadt der unüberwindbaren Mauern und ihr Name, der ein Oxymoron ist, Wall Street, die Straße der Mauer.

Die Zeiten, in denen wir leben, in welchen die Realität des Bewusstseins als Trugschluss angesehen wird, und das letzte Symptom der multidimensionalen Krankheitskette »angegriffen« wird, als ob es da nicht einen großen Fluss gäbe, der in diesen sogenannten »bösartigen Tumor« mündet. Die Metapher des Krieges in jeder menschlichen Handlung, die unmenschlichen Spuren der Mutantenfüße des Ungeheuers der Technosphäre, in der Wüste des Realen.

Mit welchen Worten kann man über Bewusstsein sprechen, das in jeder Tausendstelsekunde mit einem Konzert entworfener Ablenkungen besiegt wird, in einer kalibrierten Verbissenheit. Die Behemoths, die großen Unternehmen des DeepMind – apophänische Monster – gegründet auf den elendsten Gefühlen der Menschheit. Sie beuten die Grundenergie der primären Chakras aus, so wie man eine Rinderfarm betreibt. »Sie sollen mindestens vier Stunden in Instagram eingeklinkt sein, die jüngsten Teenager«, steht auf einem internen Memo der perversen Zuckerberg-Sphäre. »Diese Jugendlichen sind unsere Pipeline«. »Diese Jugendlichen«, über die es psychologische Studien gibt, mit Belegen für schwerste psychische Schädigungen aufgrund des stillschweigenden, unterschwelligen Ethos dieser Plattformen, die sie gnadenlos in einem ungleichen Kampf überwältigen. Was ist eine Pipeline im Jargon der Informatik? Das ist ein Netz von seriell verbundenen Datenprozessen. Diese Gruppe von Menschen zwischen 13 und 15 Jahren sind eben dies für das Stalker-Unternehmen: binäre Information, digitales Kanonenfutter für Dollarbeträge im Verkauf von Nutzerprofilen. Seit ihrer Gründung nutzt die fraktale Plattform Zuckerbergs die für die Entwicklung bewusster Wesen am stärksten kontraindizierten Instinkte. Dennoch schleicht sich durch dieses Netz der Lebenspuls des Herzens der Welt ein – denn es ist ein Netz – und verbreitet das Wort des Lebens: z. B. Vorträge von Fabio Alberto Ramírez T.

Fabio Alberto Ramírez T. hat sein Buch als Mosaik geschrieben, Frucht eines lebendigen Wortes, eines verkörperten Wortes. Das Buch springt wie ein vitales Gespräch von einem Umriss zum nächsten, eines, das die Essenz sucht, die es bereits in der Ekstase kennengelernt hat, und die im geschriebenen Wort wieder aufs Spiel gesetzt, neu durchlebt und neu kanalisiert werden möchte. Dies ist das neu kanalisierte Wort, denn die Worte des Buches hatten ihren Ursprung in der Mündlichkeit, und ihre Essenz folgt ihrem Lauf durch das Buch, das sie in anderer Form, in another likeness, aktualisiert. Das Buch agglutiniert, kommt von einem Dialog über die spirituelle Wissenschaft der Sierra Nevada zu den Fallbeispielen der Heilung durch das Wort, durch die Geste, durch die Rekonfiguration der Wirklichkeit der Krankheit im Sprechzimmer. Von da gelangt es zu seiner Grundthese, die Seite um Seite bekräftigt wird, über den Eros in seiner tiefsten Version: Als dasjenige, das zur Zivilisation führen kann. Denn es ist einfach und praktisch. Es beruht darauf, zur Gänze das zu genießen, was man gerade macht, hier, hier, jetzt.

Es ist »das fruchtbare und saftige Nichts«, von dem die Okuiride-Medizin spricht. Es ist, wo man wiedergeboren wird, wo man von der Quelle trinkt. Das Buch agglutiniert, weil im Agglutinierenden ein tiefes Geheimnis der Erzeugung von Wahrheit liegt (jener, nach der man immer in ihren Spiegelungen fischt). In den Nähten des scheinbar Unzusammenhängenden liegt ein neuer und wesentlicher Gedanke. Der Muskel des Denkens wird immer in der Gegenwart und ohne Bezug, der dies rechtfertigen würde, angespannt. Daher rührt die Faszination dieses Arztes für die deutsche Sprache – die agglutinierend ist – und eben deshalb von sich aus philosophisch, weil jeder Ausdruck von seinem Ursprung befruchtet ist, diesen widerspiegelt und ihn gerade dem Unbestimmten öffnet: Abermals, was in der Gegenwart gespielt wird. Und das erklärt seine Anknüpfungen und Aktualisierungen des Österreichers Freud und der Deutschen Marcuse, Nietzsche, Heidegger und Sloterdijk. Es erklärt ebenfalls seine Leidenschaft für die Sprache der Uitoto, der Völker des Zentrums des kolumbianischen Amazonas, wo jedes Wort seine Quelle verbirgt, das Jetzt offenbart und das Bewusstsein auf den Weg der Erinnerung an die Essenz, in das Herz der Angelegenheit, lenkt.

Wie hat dieser Iatromantis-Arzt zu heilen gelernt, so wie er heilen kann? Auf der Reise ins Zentrum, auf der man die Werkzeuge für die Tätigkeit in der Peripherie erhält, wie dies auch die intelligente Sprache der Uitoto sagt. Woher kommt das Wort eines Heilers, der den Weg tiefer Selbsterkenntnis zurückgelegt hat? Es kommt aus dem Zentrum des Körpers, dem Nabel, dem Ort des Kastrierten, steigt auf ins Herz, wird wiedergeboren, denn es ist das neue und zeitlose Wort. Dies ist auch ein Vermächtnis der Menschen, die im Amazonas die Körbe der uralten Weisheit hüten.

Worauf der Chirurg und Kuraka-Arzt mit seinem Buch am meisten beharrt, ist letzten Endes die Tatsache, dass dies an vielen Stellen und auf viele Weisen gesagt wurde, »nur, dass ich es hier in anwendbarer und praktischer Form darlege«. Die von Fabio Alberto Ramírez T. vorgelegte Okuiride-Medizin enthält in ihrem Kern den Vorschlag einer »schillernden Sexualität«, eines Erwachens zur Essenz des allumfassenden Eros als Grundlage für Gesundheit. Und auf jeden Fall verkörpert diese Essenz im Besonderen.

—François Bucher

François Bucher

Cali (Kolumbien), 1972. Er lebt und arbeitet im Valle de Bravo am Fuße des Toluca-Vulkans.

François Bucher ist Absolvent der Universidad de los Andes in Bildender Kunst, ausgebildeter Filmschaffender am The School Art Institute of Chicago und erhielt ein Stipendium des Whitney Museum Independent Study Program in New York. Er war 12 Jahre lang Gastprofessor an der Akademie der Schönen Künste der...