Und, wie lange habt ihr Zeit? (eBook)

Vom Weinviertel ins Départamant Penn-ar-Bed
eBook Download: EPUB
2024
188 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-9163-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und, wie lange habt ihr Zeit? - Corinna Wegscheider
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Zwei Frauen, zwei Fahrräder, ein Zelt und ein wenig sonstiges Gepäck - vom Weinviertel bis zum Ende der Welt.

1977 in Kärnten, Österreich, geboren, auf einem Bergbauernhof aufgewachsen, nach Schulabschluss nach Wien übersiedelt. Lebt seit 2009 mit ihrer Partnerin im Weinviertel.

Paris


1500 Kilometer per Fahrrad liegen hinter uns. Vor und um uns herrschen Hektik, Hupen, Lärm und Trubel. Sind wir wirklich hier?!, schreien wir uns an. Die Lautstärke eines normalen Gesprächs verkommt zu einem Flüstern. Die Boulevards und Fahrradwege sind breiter als anderswo, der Platz ist trotzdem knapp. Verkehrsregeln scheint es nicht zu geben, stattdessen eine ganz simple Hierarchie: wer es eilig hat, hat automatisch Vorrang. Wer zögert, hat das Nachsehen. Wir bugsieren und lavieren uns und unsere convois exceptionnels zwischen Straßenbahnen und Schienen, vollgeparkten Seitenstraßen, quietschenden Bremsen, Automobilen und Zweirädern aller Art Richtung Süden, durch die Arrondissements 11, 3 und 10, vorbei am Gare de Lyon – und erreichen irgendwann endlich die Seine. Wir überqueren die Brücke, Pont Charles de Gaulle, und holen auf der Promenade des Rive Gauche, des rechten Ufers, erstmals tief Luft. Eine Gruppe Menschen tanzt ganz herausgelöst vom Großstadttreiben Salsa. Oder Merengue. Sie grüßen winkend. Ein junggebliebener Weißhaariger löst sich, kommt auf uns zu und reicht uns die Hände, ohne dabei den Rhythmus aus seinen Hüften zu verlieren. Bienvenue, Mesdames!

Gleich nebenan lässt eine große Weide ihre Äste hängen, als betrauerte sie die vor ihr auf der Île de la Cité liegende, durch einen Brand im Jahr 2019 schwer verwundete Cathédrale Notre-Dame de Paris. Sie ist immer noch gerüstverhangen. Die Heilung dauert noch.

Vor knapp 16 Jahren waren Zdeňka und ich schon einmal in dieser Stadt. Unabhängig voneinander und zufällig sind wir beide im Herbst 2006 fast gleichzeitig und konventionell mit dem Flugzeug angereist, in jeweils nur zwei Stunden. In völlig unterschiedlichen Lebenssituationen logierten wir in demselben Hotel – einander gänzlich fremd. Wir haben uns in Paris verpasst… Klingt das nicht wie der Beginn einer wunderbaren Partnerschaft?

Einer Partnerschaft, die durch nichts zu erschüttern ist, zumindest nicht nachhaltig? Auch nicht durch die dritte Panne am späten Abend noch ohne Unterkunft für die Nacht direkt auf der Brücke Pont Neuf. Wie sich innig Liebende können die grünen Reifenmäntel und in Kopfsteinpflaster unbequem gebettete Glassplitter ausgerechnet hier nicht voneinander lassen, wo sich Juliette Binoche und Denis Lavant in Les Amants du Pont-Neuf im Jahr 1991 der filmisch mitreißenden Dramatik hingaben. Zdeňka hält wenig von tragisch-traurigen Geschichten, sie stellt lieber ihr Fahrrad auf den Kopf und beginnt zu reparieren. Massen an Pendlerinnen und Touristen ziehen währenddessen vorbei, zu Fuß, per Zweirad, sie warten wenig Meter neben uns an der Ampel auf Grün, aber niemand fragt, ob wir Hilfe brauchen. Je größer eine Stadt, umso lichtdurchlässiger der Mensch, sinniere ich. Möglicherweise verkommt die Panne im rotgoldenen Licht des schwindenden Tages mit dem Musée du Louvre im Hintergrund zum Anschein einer Inszenierung. Ich wähne mich selber in einem Drehbuch, bis ein allzu motivierter Skater in seinem Überschwang, ein Kunststück zu vollführen, mein an der Brückenmauer angelehntes Fahrrad zu Fall bringt und es eine schlimme Schramme am Lenker und ich einen kleinen Schock davontrage. Er entschuldigt sich nicht.

Zdeňka ist in wenigen Minuten fertig, wir radeln weiter durch Menschengewühl bis zur riesigen Place de la Concorde. Während der Französischen Revolution stand da eine Guillotine, die knapp 2500 Menschen in aller Öffentlichkeit Kopf und Kragen kostete. Auch jenen der Marie-Antoinette. Und auch jenen der bemerkenswerten Olympe de Gouges, die 1791 eine Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin verfasste, nachdem die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 Frauen nicht inkludierte. Sprache prägt nicht erst heute gesellschaftliche Normen und Sichtbarkeit. Punkt.

Wir wollen jetzt allerdings nicht diskutieren und schon gar nicht unser Leben riskieren, sondern einfach die place kreuzen. Aber weder Verkehrszeichen noch Bodenmarkierung regeln Fahrspur und Vorrang. Wie ins Roulette eingeworfene Kugeln hoffen wir auf Glück, kreisen einmal um den hochaufragenden Obelisken und seine Brunnen und schaffen die Ausfahrt auf die tricolore-geschmückten Avenue des Champs Élysées beim zweiten Versuch. Die Champs Élysées ist die große Finaletappe der klassischen Tour de France, und obwohl wir noch lange nicht an unserem Ziel sind, radeln wir wie Siegerinnen die zwei schnurgeraden, leicht ansteigenden Kilometer dem Arc de Triomphe entgegen. Die Sonne geht dahinter gerade unter und lässt die Sterne der im Bogen gehissten Flagge der Europäischen Union im Gegenlicht leuchten. Es ist surreal.

Der Kreisverkehr um den Triumphbogen ist auch vielspurig. Niemand weiß, wie viele Spuren es in Wirklichkeit sind. Es ist ein Wunder, dass es nicht ständig kracht und scheppert. Ein zweifelhaftes Wunder ist auch, dass im Arc de Triomphe mit einer der Inschriften Hollabrunn, unsere Heimatgemeinde verewigt ist. Im Jahr 1805 war sie nur eine Station auf Napoléons Feldzügen, in Tolstois Krieg und Frieden dafür mehrere Seiten wert. Die Schlacht bei Oberhollabrunn und Schöngrabern. Wie verrückt seid ihr nur, ihr Kriegsherren? Wie kriegt ihr es immer wieder zuwege, dass euch Gefolgsleute jene widerlichen Dienste tun und weite Strecken zurücklegen, um ihnen unbekannte Personen zu foltern, zu missbrauchen und zu töten, deren Häuser anzuzünden, um dann am Schlachtfeld selbst elendiglich zugrunde zu gehen? Ich bin zu müde, um auf eine Antwort zu hoffen.

Auch Zdeňka ist mittlerweile erschöpft, und wir entscheiden uns für einen Campingplatz in Paris. Das ist klug und mutig zugleich. Klug, weil wir wissen, dass es kein erschwingliches Zweibett-Hotelzimmer gibt, in dem tatsächlich Platz für zwei Personen ist, und das obendrein noch einen sicheren Ort für unsere Fahrräder bietet. Und mutig, weil es Camping in Paris ist. Es stellt sich aber als halb so wild heraus. Im Bois de Boulogne am Ufer der Seine fühlen wir uns sicher. Der Stellplatztarif für Zelte ist sogar günstiger als in Regensburg! Der Untergrund ist zwar ähnlich unbequem, dafür unter Bäumen geschützt. Bei einsetzender Dunkelheit bauen wir unser Zelt auf - und übersehen dabei starke Drahtseile, die durch Äste über uns gespannt sind. In der Nacht meinen wir wahrzunehmen, wie etwas von ebendiesen Bäumen fällt, vielleicht Früchte, Zapfen, irgendetwas. Gleichmütig schlafen wir weiter und schlafen uns aus. Am Morgen erwartet uns das Ergebnis. Offensichtlich gehen Vögel, sehr große Vögel auf den Drahtseilen ihren Geschäften nach und haben die Nachtruhe genutzt, um unser Zelt über und über mit ihren Hinterlassenschaften zu bedenken. Wir befreien es davon, bevor sich die aggressive Säure im Vogelkot bis zu unseren Schlafsäcken durchfrisst und siedeln unsere mobilen Habseligkeiten ein paar Meter weiter. Nach dem Frühstück machen wir uns wieder in die inneren Bezirke von Paris auf und passen uns rasch den örtlichen Gepflogenheiten an. Wir bremsen nicht. Wir tippen auf Motorhauben, wenn wir abbiegen wollen und murmeln dabei nur pardon! Wir queren Boulevards ganz unverzagt und flitzen durch die engen Gassen von Saint-Germain-des-Prés. Der Tour Eiffel, der Eiffelturm, rostet vor sich hin, kann aber nicht oft genug fotografiert werden. Aus der Ferne, aus der Nähe, halb darunter und mit Fahrrad, für uns unvorstellbar ohne.

Noch ein Foto! Nur noch eins! Lächle mehr! Warte – noch eins! Und eins gemeinsam!

In Montparnasse besuchen wir das Haus, in dem Simone de Beauvoir einst wohnte und am Friedhof nebenan ihr Grab, dessen Gedenkstein mit aufgemalten Herzen und aufgedrückten Küssen geschmückt ist, übersät mit Briefen und Zettelchen, Nachrichten von Frauen aus aller Welt. Grazie, Simone! Merci, ¡gracias!, thank you, danke! Wie kann sie überhaupt Ruhe finden in einer Zeit, in der Frauen das Menschsein im Sinne von Rechten in so vielen Regionen der Welt wieder abgesprochen wird, wo es schon, „schon“ 200 Jahre nach Olympe de Gouges auf dem Weg zur Wirklichkeit war? Die Rückschritte global sind katastrophal.

Wir brauchen eine Pause und wählen ein gemütlich wirkendes Restaurant mit nettem Namen, dürfen unsere Fahrräder im Auge behalten, während wir im kühlen Inneren sitzen. Eine leichte Mahlzeit mit ein bisschen Protein werde uns guttun, denken wir, missachten den Preis, wir sind ja nicht jeden Tag in Paris, und entscheiden uns für den Salat nach Art des Hauses. Wir sind erst überrascht über den schweren Tontopf, der uns serviert wird. Dann starren wir ungläubig auf eine Schicht Fleisch, das der Art des Tieres, das es einmal war, unmöglich zuordenbar...

Erscheint lt. Verlag 12.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Sport
Schlagworte Bikepacking • Bretagne • Finistére • Frankreich • Ouessant
ISBN-10 3-7583-9163-6 / 3758391636
ISBN-13 978-3-7583-9163-7 / 9783758391637
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