Warum hängt daran dein Herz? (eBook)

Wie Erinnerungsstücke aus der Kriegszeit helfen, unsere Eltern zu verstehen - Ein SPIEGEL-Buch
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
384 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-31809-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Warum hängt daran dein Herz? -  Hauke Goos,  Annette Goos
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Ein Messer, ein leerer Koffer, ein Paar Handschuhe aus Jute: Was Alltagsgegenstände heute noch über den Krieg erzählen - prominente und unbekannte Kriegskinder und -enkel berichten
In vielen Familien ist der Zweite Weltkrieg bis heute präsent, manchmal in ganz alltäglichen Dingen: einem Kleiderbügel, den die Mutter auf der Flucht dabeihatte, einer Keksdose, die für eine verlorene Kindheit steht, oder einer Trillerpfeife, die dem Vater gehörte, der aus dem Krieg nicht zurückkam. Mit ihnen verbindet sich die Erinnerung an Zeiten voller Angst und Leid, für die die Menschen, die sie oft noch als Kind miterlebt haben, zuweilen keine Sprache finden.

Annette und Hauke Goos stellen 36 solcher Erinnerungsstücke vor und bringen ihre Besitzer, darunter prominente Stimmen wie Björn Engholm, Marie-Luise Marjan, Paul Maar, Rita Süssmuth und Peter Stephan Jungk, zum Erzählen: Die so entstandenen Gesprächsprotokolle geben Zeugnis davon, welche seelischen Verwüstungen Krieg selbst in der Kinder- und Enkelgeneration hinterlässt. Und sie zeigen, wie die Gegenstände uns helfen können, unsere Eltern (besser) zu verstehen. Die beeindruckenden Geschichten und Menschen hinter den Gegenständen werden von dem Fotografen Dmitrij Leltschuk einfühlsam in Szene gesetzt.

Hauke Goos, Jahrgang 1966, arbeitete nach dem Geschichtsstudium zunächst für das SAT.1-Magazin »Akte«, ehe er 1999 zum Magazin SPIEGELreporter kam. Von 2001 bis 2022 schrieb er für das Reportagenressort des SPIEGEL, heute leitet er dort das Sportressort. Bei DVA sind bislang von ihm erschienen »Ein Sommer wie seither kein anderer« (zusammen mit Alexander Smoltczyk, 2021) und der Kolumnenband »Schöner schreiben« (2021). Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.

Vorwort


»Viele Kriegskinder befürchten:
Wenn ich über die Schreckensbilder rede,
öffnet sich eine Schleuse, und diese Schleuse kann
nie wieder geschlossen werden. Dann kann ich
den Strom des Schmerzes nicht mehr stoppen.«

Ingrid Meyer-Legrand, Therapeutin

An einem Spätsommertag des Jahres 2023 saßen wir mit dem Schriftsteller Paul Maar in der Berliner Altbauwohnung seines Sohnes zusammen und sprachen über Krieg. Über den Zweiten Weltkrieg, aber auch über Krieg im Allgemeinen. Seit der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 den Krieg zurück nach Europa gebracht hatte, war das Thema von beunruhigender Aktualität.

Maar war sieben, als der Zweite Weltkrieg endete. Drei Jahre später kehrte sein Vater aus der Gefangenschaft nach Hause zurück. Wir wollten mit ihm darüber sprechen, was Krieg zerstört, welche Spuren er hinterlässt; was vom Krieg bleibt, auch wenn längst wieder Frieden ist.

Der Krieg, sagte Maar, habe seinen Vater verändert. Auf alten Fotos sei zu erkennen, dass er ein liebevoller Vater gewesen war. Später gab er seinem Sohn aus kleinsten Anlässen Ohrfeigen oder verprügelte ihn in der Waschküche mit einem Stück Gartenschlauch, das er sich eigens für diesen Zweck zurechtgeschnitten hatte.

Maar hat Generationen von Kindern mit seinen »Sams«-Büchern glücklich gemacht. Es sind heitere Bücher, aber manchmal meint man beim Lesen, einen Schatten wahrzunehmen, der über den Figuren liegt. Die Sams-Geschichten handeln von der Welt, wie sie ist, sie erzählen aber auch von einer Welt, wie sie sein könnte – wenn man einen Gefährten wie das Sams hat und wenn man die Wunschpunkte klug nutzt.

Mit seinem Vater, sagte Maar, habe er nie über dessen Kriegserlebnisse gesprochen. Es ging nicht: Der Sohn konnte nicht fragen, der Vater wollte nicht erzählen. Irgendwann war der Vater tot, aber das Bedauern, mit ihm nicht ins Gespräch gekommen zu sein, ist Paul Maar geblieben. »Ich hätte mich gern noch mit ihm über meine Kindheit und über die Schläge unterhalten«, sagte Maar an diesem Spätsommertag nach einer langen Pause, seine Stimme klang ein wenig brüchig. »Und ihm erzählt, dass mir das schon damals sehr weh getan hat. Und dass das unser Verhältnis vielleicht sogar ein bisschen eingetrübt hat.«

Von Eintrübungen erzählt dieses Buch. Von Beschädigungen, die von der Generation der Eltern an die Generation der Kinder weitergegeben wurden, von Gewalt, von Schmerz. Und von einer großen Sprachlosigkeit, auf beiden Seiten. Auch beinahe achtzig Jahre nach Kriegsende gibt es unter den Überlebenden fast nur Versehrte.

Der Zweite Weltkrieg hinterließ allein in Deutschland 1,7 Millionen Witwen und 2,5 Millionen Halb- und Vollwaisen. 500000 Menschen waren bei Bombenangriffen ums Leben gekommen, bis zu 600000 starben auf der Flucht. Schätzungen zufolge wuchs etwa ein Viertel der zwischen 1929 und 1945 Geborenen in dauerhafter Armut und Unsicherheit auf, bei einem weiteren Viertel waren die familiären, sozialen oder materiellen Umstände über einen langen Zeitraum prekär.

Historiker fassen diese Jahrgänge unter dem Begriff »Kriegskinder« zusammen, deren Kinder wiederum werden »Kriegsenkel« genannt. Es ist die Generation der Babyboomer, die lange auf Distanz zu den eigenen Eltern gegangen war, weil sie deren Gefühlsarmut, das übergroße Sicherheitsbedürfnis und den Pragmatismus nur schwer ertrug – und die jetzt überrascht feststellt, dass vieles von dem, was sie an den eigenen Eltern störte, in ihnen fortlebt.

Die Babyboomer fragen sich: Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn sie von Menschen geprägt wurde, die als Kinder miterleben mussten, wie ihre Welt in Trümmer fiel? Die Zeugen wurden von Tod und Verwüstung, von Vertreibung und Hunger, die aufwuchsen mit dem Gefühl von Verlassenheit und völligem Ausgeliefertsein. Von Menschen, die über ihre Erlebnisse nie gesprochen haben – weil sie es nicht konnten oder weil niemand fragte. Wie sollten gerade sie ihren Kindern Lebenszuversicht und Selbstvertrauen vermitteln?

Im August 2019 erschien im SPIEGEL ein Artikel, in dem Kriegskinder und Kriegsenkel zu Wort kamen. Sie alle hatten einen Gegenstand aus der Kriegszeit aufbewahrt: Erbstücke von den Eltern, Erinnerungen an die eigene Kindheit, an ein Leben, in dem nichts sicher war, aber alles existenziell; Kindheitstrümmer, im Wortsinn.

Es waren gewöhnliche Dinge: Mal war es eine Munitionskiste, in der seit jeher das Schuhputzzeug lag, mal eine gusseiserne Kuchenform, die die Mutter mit auf die Flucht genommen hatte, mal eine Holzschachtel für Zigaretten, in deren Deckel Ortsnamen eingebrannt waren: Reval, Schwarzes Meer, Kaukasus.

Relikte des Krieges, Zeugen der Zerstörung. In vielen deutschen Haushalten sind sie zu finden, viele von ihnen bis heute im alltäglichen Gebrauch. Wenn die Menschen keine Worte fanden, um das Grauen zu beschreiben, dann würden eben die Gegenstände sprechen, das war die Idee.

Das Echo auf den Artikel war überwältigend.

»Mein Großvater hat den Krieg überlebt«, schrieb ein Leser. »Als Soldat der Wehrmacht, buchstäblich von der ersten bis zur letzten Minute. 1939 eingezogen und in den letzten Kriegstagen in Gefangenschaft gekommen. Keines seiner vier Kinder konnte glückliche Familien aufbauen. Überall Tod, Suizide, Scheidung, Gewalt.«

»Meine Schwiegermutter kann bis heute nicht von ihrer Flucht erzählen«, schrieb ein anderer. »Das Erlebte ist für sie zu fürchterlich, um es dadurch noch mal zu erleben.«

»Mittlerweile lebt mein Vater nicht mehr«, schrieb ein Dritter, »mit ihm wurden seine Gemeinheiten und meine Traumata begraben. Ich bin, so schlimm es ist zu schreiben, froh, dass er weg ist.«

Was für ein Satz.

Offenbar hatten die Gegenstände etwas ausgelöst. Vielleicht fiel es den Menschen leichter, über etwas Abstraktes wie Angst, Einsamkeit, Trauer oder Zerstörung zu sprechen, wenn man sie nach etwas Konkretem fragte. Nach Dingen, auf denen sich die Erinnerung an den Krieg abgelagert hat, in denen die traumatischen Erlebnisse der Kriegszeit eingeschlossen sind wie in Bernstein.

Und so entstand dieses Buch. Indem wir über die Geschichte von Gegenständen sprachen, hofften wir herauszufinden, welche Spuren der Krieg in den Seelen ihrer Besitzer hinterlassen hat. Woher all die Verhaltensauffälligkeiten kommen, die verharmlosend »Macken« genannt werden und die oftmals – wie wir heute wissen – sichtbarer Ausdruck eines Traumas sind.

Sechsunddreißig Gespräche sind es am Ende geworden. Sechsunddreißig Begegnungen, intensiv und häufig aufwühlend, in denen die Befragten nach lang verschütteten Bildern suchten, in denen sie um die richtigen Formulierungen rangen und oftmals still wurden, wenn sie die Erinnerungen wieder einholten; manche weinten.

Die Kriegskinder waren es gewohnt, allenfalls in kleinen Geschichten von ihren Erlebnissen zu erzählen: die tiefgehende, gründliche Zerstörung verkleinert zur Anekdote, der Schrecken aufgelöst in eine Pointe. Nur so, erklärte uns die Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand später, sind die Kriegskinder in der Lage, überhaupt über das zu sprechen, was sie traumatisiert hat.

Und so wollten auch unsere Gesprächspartner zunächst vor allem erzählen, wie sie im Krieg und in den Monaten danach gelebt hatten, wie es im Luftschutzkeller gewesen war oder auf der Flucht. Wir hingegen wollten wissen, was diese Erlebnisse mit ihnen gemacht haben. Wie sich der Krieg auf ihr weiteres Leben ausgewirkt hat, auf ihren Alltag, auf ihre Träume. Auf das Verhältnis zu ihren Kindern – zu uns also.

Sie berichteten auf der Sachebene, uns interessierte die Gefühlsebene; sie redeten vom scheinbar Unwesentlichen, um ans Wesentliche nicht rühren zu müssen.

Die Generation der Kriegskinder hat nie gelernt, über ihr Inneres zu sprechen, erklärte uns die Therapeutin: Weil es sie als Subjekt, mit eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, gar nicht gibt. »Sie sind kaum geübt darin, nach innen zu schauen und zu sagen, wie es ihnen geht und was sie belastet. Das haben sie schlicht nicht gelernt. Die Vergangenheit wird einfach nur als Schwere wahrgenommen, als Last, das ist das höchste der Gefühle.«

Antworten, die wir immer wieder hörten: Das war halt damals so. Das ging den anderen genauso. Darüber habe ich nie nachgedacht. Psychologen nennen das »pathologische Normalität«.

Eine Generation des Wie, nicht des Warum. Eine Generation also, die sich selbst fremd ist.

Mit jedem Gespräch, das wir führten, wurde uns klarer, dass die Gegenstände allenfalls Türöffner waren. Ein Anlass, überhaupt ins Gespräch zu kommen, aber nicht das Hauptthema. Stattdessen ging es bei den Kriegskindern oft sehr bald um das schwierige Verhältnis zu den eigenen Eltern. Zum Vater, der ja meist schon im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und traumatisiert nach Hause gekommen war; zur überforderten Mutter. Bei Kriegsenkeln wiederum war häufig der Schmerz zu spüren, von den eigenen Eltern nicht das bekommen zu haben, was Kindheit ausmacht: Wärme, Geborgenheit, Zuspruch, Anerkennung. Sie beschrieben die Gefühlstaubheit der Eltern, die nicht loben und auch nicht umarmen konnten, denen Struktur, Ordnung und Kontrolle so wichtig war, dass kein Platz blieb für Lebensfreude, Zärtlichkeit und Spontaneität.

Wir Babyboomer sind groß geworden mit Sätzen wie:

Was sollen die Nachbarn denken?

Reiß dich zusammen!

Stell dich nicht so an!

Nimm dich nicht so wichtig!

Ich glaub, dir geht’s zu gut!

Die Fotos in diesem Buch hat Dmitrij Leltschuk...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Zusatzinfo mit vielen Farbfotos
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Schlagworte 2024 • 2. Weltkrieg • Bindungsangst • Deutsche Geschichte • Deutschland Nachkriegszeit • eBooks • Erinnerungen • Gefühlskälte • Geschichte • Kriegsenkel • Kriegsfolgen • Kriegskinder • Kriegsspuren • Nachkriegsgesellschaft • Nachkriegskinder • Neuerscheinung • Psychologie • Soldatenväter • Traumata • Umgang mit Vergangenheit • Verdrängung • vergenheitsbewältigung • Vergessen • Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-31809-2 / 3641318092
ISBN-13 978-3-641-31809-3 / 9783641318093
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