Amerika – Land der unbegrenzten Widersprüche (eBook)
256 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-31013-4 (ISBN)
Polizeigewalt, Rassismus, Opioidkrise, Amokläufe, ein skrupelloser Ex-Präsident, dessen fanatische Anhänger zu allem bereit zu sein scheinen; daneben aber auch liberty and freedom, Aufsteigergeschichten, kulturelle Vielfalt, Cowboyromantik, progressive Aktivisten und Politikerinnen, Innovation und High-Tech: Es gibt wohl kaum ein Land, um das sich so viele Mythen ranken, das derart ambivalente Bilder hervorruft, über das wir so regelmäßig verwundert den Kopf schütteln wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Anlässlich der bevorstehenden Präsidentschaftswahl im November 2024, bei der Donald Trump wahrscheinlich wieder kandidieren, vielleicht sogar gewinnen wird, eröffnet der ehemalige USA-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Hubert Wetzel, einen differenzierten und vorurteilsfreien Einblick in den Gefühlshaushalt einer gespaltenen und von Widersprüchlichkeiten durchzogenen Gesellschaft. Er nimmt uns mit zu den prägendsten Orten und Menschen, die er während seiner Jahre in Amerika besucht und getroffen hat, erzählt unter anderem von seiner Bekanntschaft mit dem Milizenführer Stewart Rhodes, der wegen seiner Beteiligung am Sturm auf das Kapitol verurteilt wurde, von seinem Besuch bei einer berühmt-berüchtigten Cowboyfamilie, von progressiven Countrymusikern und Krankenschwestern im Kampf gegen Heroin und Fentanyl.
Das persönliche und hoch unterhaltsame politisch-kulturelle Porträt eines faszinierenden Landes und ein Must-read im Wahljahr 2024.
Hubert Wetzel (geb. 1971) hat Politikwissenschaft studiert und danach bei der Süddeutschen Zeitung volontiert. Anfang 2000 wurde er Auslandsredakteur bei der damals neu gegründeten Financial Times Deutschland, von 2003 bis 2006 war er der politische USA-Korrespondent der Wirtschaftszeitung. 2009 wechselte er zurück ins Auslandsressort der SZ, dessen stellvertretender Leiter er von 2012 an war. Von Mitte 2016 an hat Wetzel dann sechs Jahre lang erneut als USA-Korrespondent in Washington gelebt und gearbeitet. Für einen Leitartikel über die Drogenepidemie in den USA wurde Hubert Wetzel 2017 mit dem George F. Kennan-Kommentar-Preis ausgezeichnet. Seit dem Sommer 2022 ist er im Brüsseler Büro der SZ tätig und berichtet unter anderem über Außen- und Sicherheitspolitik.
Kapitel 2
Cowboys
Nevada
Der amerikanischste aller amerikanischen Mythen ist wahrscheinlich der des Cowboys. Es ist zugleich der amerikanische Mythos, der in Deutschland die tiefsten Wurzeln geschlagen hat. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat das immer noch mit Karl May zu tun. Der Sachse hat es zwar selbst nie nach Amerika geschafft, aber er konnte so anschaulich vom Apachen-Häuptling Winnetou und dessen treuem (Cowboy-)Blutsbruder Old Shatterhand erzählen, dass mehrere Generationen von Deutschen der Meinung waren, dass es so, wie es da in den Büchern stand, im Wilden Westen tatsächlich zuging.
Und da ist ja was Wahres dran. Es gab und gibt in Amerika Menschen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, sich auf einer Ranch um Rinder zu kümmern. Es sind sogar gar nicht so wenige – zwischen 600000 und einer Million, je nach Statistik. Die Mehrheit sind Männer, aber es gibt auch viele Frauen unter ihnen. Sie bewegen sich bei ihrer Arbeit oft auf Pferden fort, weil die in dem schwierigen Gelände, in dem die Rinder herumlaufen, gut zurechtkommen, und gelegentlich haben sie ein Gewehr dabei oder einen Revolver umgeschnallt. Diese Menschen sind Cowboys. Karl May musste für seine Romane keine Figuren erfinden, sie existieren in der amerikanischen Realität. Es ist deswegen auch kein Wunder, dass Cowboys – nicht zuletzt in ihrer Hollywood-tauglichen Variante als schießwütige Outlaws – in der amerikanischen Nationalmythologie ebenfalls einen herausragenden Platz einnehmen. Old Shatterhand kennt in Amerika so gut wie niemand, Billy the Kid, Jesse James und John Wayne hingegen jeder und jede. Im Westen der USA, wo die Kinder auf Farmen und Ranches aufwachsen, gibt es viele Highschools, die nicht nur ein Football- und ein Baseball-Team haben, sondern auch eine Rodeo-Mannschaft. Die Jugendlichen lernen dort, mit Pferden, Kühen und Lassos umzugehen. »My heroes have always been cowboys«, heißt es in einem klassischen Countrysong, den Musiker wie Willie Nelson und Waylon Jennings gesungen haben – beide selbst so etwas wie Mythen in ihrem Geschäft. Meine Helden waren schon immer Cowboys. Doch weil das Cowboyleben, von dem Nelson und Jennings in dem Song erzählen, nicht lustig ist, sondern kalt, einsam und traurig, haben sie auch ein zweites, noch bekannteres Lied gesungen – eine Warnung, wenn man so will: »Mamas, don’t let your babies grow up to be cowboys«, lautet der Refrain. »Don’t let ’em pick guitars and drive them old trucks, make ’em be doctors and lawyers and such.« Mütter, lasst nicht zu, dass eure Kleinen Cowboys werden, wenn sie groß sind. Lasst sie nicht auf Gitarren herumzupfen und alte Pick-up-Trucks fahren. Sorgt dafür, dass sie Ärzte oder Anwälte oder so was werden.
Das ist womöglich ein guter Ratschlag. Als ich einmal versucht habe, in Amerika echte Cowboys zu treffen, hat das jedenfalls nicht geklappt. Sie saßen alle im Gefängnis.
Das lag daran, dass ich nicht irgendwelche Cowboys besuchen wollte, sondern die Bundys: Cliven Bundy, den alten Patriarchen dieser Familie, und seine Söhne Ryan, Ammon, David und Melvin. Die Bundys besitzen in der äußersten Südostecke von Nevada eine Ranch in der Nähe eines Orts namens Bunkerville, etwa 120 Kilometer von Las Vegas entfernt. Wobei man sich unter dem Wort Ranch nichts allzu Stattliches vorstellen sollte. Der Hof der Bundys besteht aus einer Wiese voller verrosteter Landmaschinen, einem engen, heruntergewohnten Holzhaus, ein paar Scheunen und einigen Äckern am Ufer des Virgin River. Dort bauen die Bundys Melonen und Grünfutter an. Vor allem aber halten sie eine Rinderherde, sonst wären sie keine Rancher, sondern Farmer – Bauern, nicht Viehzüchter. Im Frühjahr 2017, als ich auf der Ranch war, besaß Cliven Bundy etwa fünfhundert Tiere aus eigener Zucht, eine Kreuzung aus Hereford-Rindern, die viel gutes Fleisch ansetzen, und Brahman-Kühen, die die Hitze in Nevada vertragen.
Wenn man von Las Vegas die Autobahn I-15 hinaus zur Bundy-Ranch fährt, sieht man sofort, was für eine elendige Plackerei das Halten von Rindern in diesem Teil der Vereinigten Staaten ist. Bunkerville liegt ein gutes Stück westlich des 98. Längengrads. Dieser durchschneidet die USA ungefähr in der Mitte von Norden nach Süden. Er verläuft durch North Dakota und South Dakota, durch Nebraska, Kansas, Oklahoma sowie Texas. Und er markiert die Grenze, von der an sich vor allem im südlichen Teil des Landes das Klima und das Terrain deutlich zu ändern beginnen. Westlich des 98. Längengrads wird der Boden immer karger und trockener, große Teile der Region zwischen den Bundesstaaten Texas und Kalifornien, in der auch Nevada liegt, sind Halbwüste oder Wüste. Fast alles, was dort lebt und wächst, hat einen Panzer oder hornige Schuppen, eine dicke Rinde oder scharfe Stacheln, um sich vor der feindseligen Umgebung zu schützen. Im Frühjahr, wenn ein paar Regenfälle über das Land gegangen sind, blüht die Wüste für einige Tage prachtvoll auf. Dann sind zwischen den Felsen, wo sich das Wasser sammelt, bunte Kissen aus Blumen hingebreitet. Aber den Rest des Jahres über ist es entweder zu heiß oder zu kalt, auf jeden Fall zu trocken und zu staubig. Auch in der Gegend, in der die Bundy-Ranch liegt, gibt es links und rechts der Straßen nicht viel mehr als Sand und Steine. Ein bisschen Grünzeug wächst da – Kreosotbüsche mit kleinen, harten Blättern, Prickly-Pear-Kakteen, wilder Salbei. Und außer einigen flachen Flüssen, die im Sommer zu braunen Rinnsalen und Tümpeln werden, gibt es auch kaum Wasser. Weiter oben im Norden, in den Dakotas oder in Montana, wo das Vieh bis zum Bauch im fetten Präriegras badet, ist es nicht so schwierig, Kühe zu züchten. Aber in Nevada, wo man als Rancher dem Land jeden Halm Gras und jeden Tropfen Wasser abtrotzen muss, ist es echte Knochenarbeit.
Das Land prägt die Menschen. Das ist ein Phänomen, dem ich in Amerika immer wieder begegnet bin. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet, aber ich glaube das eigentlich nicht. Draußen in den Präriestaaten, in Kansas oder Colorado, unter dem gewaltigen Himmel, der sich über die endlosen Ebenen wölbt, schienen mir die Leute stets noch ein wenig offener, zugänglicher und freigiebiger mit ihrer Freundschaft zu sein, als die Amerikaner es ohnehin sind. In den Appalachen-Staaten dagegen, in West Virginia oder Kentucky, hatte ich manchmal den Eindruck, als zwängten die dunklen Berge und engen Täler auch das Denken der Menschen dort ein. Und wer einmal die Sonne, das Meer und den milden Wind in Kalifornien erlebt hat, wo die Autobahnen nicht Highways, sondern Freeways heißen, der weiß, warum die Kalifornier sind, wie sie sind.
In Nevada macht das karge Land die Menschen genügsam, widerstandsfähig und zäh. Und es macht sie auf eine besondere Art gelassen und selbstbewusst, die ich sehr beeindruckend fand. Wer hier auf einer Ranch aufwächst, wer hier täglich darum kämpft, dass die Kühe überleben, dass sie nicht verhungern, verdursten, in einen Canyon stürzen oder von einem Rudel Kojoten angefallen werden, wenn sie sich zum Kalben hinlegen, der lernt, allein zurechtzukommen. Der verlässt sich auf sich selbst, vielleicht auf Gott, auf jeden Fall aber auf ein geladenes Gewehr, um mit den Klapperschlangen und wilden Wüstenhunden fertigzuwerden. Ich mag solche Menschen.
Das harte Land und das harte Leben machen Menschen wie die Bundys allerdings auch stur und eigensinnig. Wären sie nicht so, hätten sie längst aufgegeben. Sie hätten ihre Sachen gepackt und wären weggegangen. Rancher in Nevada ringen mit einer gnadenlosen Natur, und ob sie verlieren oder gewinnen, hängt von ihnen selbst, von ihren Fähigkeiten und ihrem Durchhaltewillen ab. Womöglich führt das dazu, dass sie nicht allzu viele menschliche Autoritäten anerkennen, die ihnen sagen können, was sie wie zu tun haben. Das wiederum bringt Leute wie die Bundys manchmal mit dem Gesetz in Konflikt.
Die Bundys sind Mormonen, zutiefst religiöse Menschen, deren Glaube eng mit der Legende vom amerikanischen Pionier verwoben ist, der loszieht ins Ungewisse und sich das Land untertan macht – »with God on our side«, wie Bob Dylan gesungen hat: mit Gott an unserer Seite. Die Familie kam aus Utah nach Nevada und siedelt seit fast 150 Jahren am Virgin River. Cliven Bundy hat mehr als sieben Jahrzehnte unter dem hohen Wüstenhimmel geschuftet und Rinder gezüchtet. Auch seine zwölf Töchter und Söhne – Mormonen haben oft sehr große Familien – sind auf der Ranch geboren worden und aufgewachsen. Die Bundys sind Cowboys – keine Film-Cowboys, keine Rodeo-Cowboys, keine Show- und Kulissen-Cowboys für Touristen aus der Stadt, die ein paar Tage lang eine Ranch besuchen, um auf einer Mähre zu reiten und Bohnen am Lagerfeuer zu essen, sondern echte Cowboys. Die Bundys haben im Sattel gesessen, bevor sie ihre ersten Schritte gemacht haben, und das Laufen haben sie in kleinen Cowboy-Stiefeln gelernt. Für Cliven Bundy sind seine Kühe keine Dekoration, so wie die urigen Longhorn-Rinder, die manche reichen Texaner sich auf ihre Wochenend-Ranch stellen, sondern sie sind sein Lebenswerk und -unterhalt – ein paar Hundert Pfund Fleisch auf vier Beinen, dazu bestimmt, zu Steaks und Hamburgern verarbeitet zu werden. Die Bundys können einem wilden Rind vom Pferd aus im vollen Galopp ein Lasso über den Kopf oder um die Hinterbeine werfen, es einfangen, zu Boden ringen und fesseln. Sie können ein Kalb festhalten und ihm ein glühendes Eisen ins Fell drücken. Sie können vermutlich auch ziemlich gut schießen. Und, um auch das klarzustellen, die Bundy-Frauen können das alles genauso gut wie die Bundy-Männer.
Die Bundy-Ranch ist viel zu klein und arm, um...
Erscheint lt. Verlag | 22.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Schlagworte | 2024 • American dream • Amerika • Black lives matter • Cowboys • culture war • Demokraten • Donald Trump • eBooks • George Floyd • Geschichte • Gesellschaft • Gesetze • Gewalt • Gott • Ideologie • Joe Biden • Klischees • Kultur • Neuerscheinung • Nordamerika • NRA • Opioid-Krise • Präsidentschaftswahlen • Proteste • Rassismus • Republikaner • Ron DeSantis • Spaltung • Supermächte • Tim Scott • Verstehen • vorwahlen • Waffen • Wahlen • Weltordnung |
ISBN-10 | 3-641-31013-X / 364131013X |
ISBN-13 | 978-3-641-31013-4 / 9783641310134 |
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