Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht (eBook)

Roman | Eine Coming-of-Age-Geschichte voller Drive und Witz | Nominiert für den Österreichischen Buchpreis 2024

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
231 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77858-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht -  Julia Jost
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»Ein reiches und reichhaltiges Buch. Diese heitere Bösartigkeit führt vielleicht zur Verbesserung der Welt oder ins nächste Wirtshaus.« Elfriede Jelinek

Es ist das Jahr 1994. In einem Kärntner Dorf am Fuß der Karawanken sitzt die Erzählerin unter einem Lkw und beobachtet die Welt und die Menschen knieabwärts. Sie ist elf Jahre alt und spielt Verstecken mit ihrer Freundin Luca aus Bosnien. Zum letzten Mal, denn die Familie zieht um. Der Hof ist zu klein geworden für den Ehrgeiz der Mutter, die ausschließlich eines im Kopf hat - bürgerlich werden! Nach und nach treffen immer mehr Nachbarsleute ein, um beim Umzug zu helfen, und das Kind in seinem Versteck beginnt zu erzählen: von seiner Angst, im Katzlteich ertränkt zu werden, weil es kurze Haare hat. Weil es Bubenjeans trägt. Weil es heimlich in Luca verliebt ist. Dabei ist sie nicht die Einzige, die etwas verbergen muss. Sie kennt Geschichten über die Ankommenden, die in tiefe Abgründe blicken lassen und doch auch Mitgefühl wecken.

Julia Jost schildert in ihrem Debütroman das Aufwachsen in einer archaischen Bergwelt zwischen Stammtisch und Beichtstuhl - und wie man hier als querstehendes Kind überlebt und sich der vorgegebenen Ordnung widersetzt: dank einer zärtlichen Freundschaft und durch ein wildes, überbordendes Erzählen, das die Wirklichkeit besser macht, als sie ist.

ZDF-»aspekte«-Literaturpreis 2024 (Shortlist) Österreichischer Buchpreis, Debüt des Jahres 2024 (Shortlist) Literaturpreis Fulda 2024 (Shortlist) ORF-Bestenliste SWR-Bestenliste

Julia Jost, geboren 1982 in K&auml;rnten, &Ouml;sterreich, studierte Philosophie, Bildhauerei und Theaterregie. Sie arbeitete als Regisseurin und Dramaturgin in der freien Szene sowie u. a. am Thalia Theater Hamburg. 2019 wurde sie f&uuml;r einen Auszug aus <em>Wo der spitzeste Zahn der Karawanken &hellip;</em> mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet. Ihr Theaterst&uuml;ck <em>ROM</em> feiert im April 2024 am Volkstheater Wien Premiere. Julia Jost lebt in Wien und Berlin.

Zwei


Der dritte Zahn links oben fehlte mir, als das Foto in meiner Hand neunzehnhundertneunundachtzig aufgenommen wurde, und der Wirbel an der Schläfe stellt ein kleines Haarbüschel spitz nach oben auf. Topffrisur, Hochwasserjeans, türkiser Nickipullover. Ich rümpfe die Nase, so dass die Augen ganz klein werden, und feixe verkniffen und frech zur Fotografin, die mir, nach meinem Gesichtsausdruck zu urteilen, gefallen hat. Den Klassenältesten, den fast schon neunjährigen Andreas, sieht man in der Mitte der letzten Reihe von dreien stehen. Er trägt einen gelben Pullunder mit großer, weißer Champion-Aufschrift über einem grauen Kurzarmhemd. Ein Bein winkelt er majestätisch auf der Bank vor sich ab, zeigt uns die Spitze seiner nigelnagelneuen Adidas-Jogging-High-Schuhe, die ihm ein halbes Jahr später vom Winzling Frieder aus der Umkleidekabine der Turnhalle gestohlen wurden. Am nächsten Tag stolperte der kleine Frieder in seinen erbeuteten Siebenmeilengaloschen zum Unterricht, was danach passierte, verdeutlicht ein Blutfleck auf der Wange des Kurt-Waldheim-Portraits, das direkt unter dem Jesuskreuz prangt. Der Religionslehrerin fiel der Blutfleck, »Heiligemariamuttergottes, a Wunda!«, zuerst auf, woraufhin sie standesgemäß und ohne Verzögerung den Pfarrer Don Marco alarmierte, der mit einer vatikanischen Delegation ins Klassenzimmer prozessierte und das Waldheim-Mirakel fachgerecht prüfte.

Andreas’ Jeanshose auf dem Foto ist hellblau, wie das Flinserl, das er im rechten Ohr trägt, seine kurzen, aschblonden Haare waren immer zu einem Mittelscheitel gekämmt. Über Andreas erzählte man sich, er habe seinen Zwillingsbruder Kopernikus im Leib ihrer Mutter mit einem einzigen Happen verschluckt. Und dieser Zwillingsbruder lebe fortan in Andreas weiter, weswegen er auch die Stärke von zwei Buben hat. Sein Elternhaus steht drei Kilometer nördlich vom Gratschbacher Hof, in Dirnbach, und Dirnbach setzt sich aus einem verlassenen Bauernhof, drei Buschenschenken und sieben Einfamilienhäusern zusammen, wovon an vier Postkästen Andreas’ Nachname Kuchnig steht und an dreien der Name Wallach. Die Buschenschank-Besitzerin Marlene Wallach ist Andreas’ Tante, aber das tut hier nichts zur Sache.

Auf der Bank vor Andreas sitzt Karla in der ganz schön kurzen, aber maßgeschneiderten Bleiberger Festtracht mit der Halskrausenbluse, die sie absolut immer anhatte, im Wald, in der Schule, zum Kirchgang, beim Skifahren und bei achtundzwanzig Grad auch als Sonnenschutz am See. Unter dem Kleid trägt sie von ihrer Oma selbst gehäkelte weiße Strümpfe, die das Muster der Halskrausenbluse aufnehmen. Wenn man vom Gratschbacher Hof meiner Eltern in Richtung Dirnbach der Traktorspur folgt, kommt man nach zweieinhalb Kilometern zu einer Kapelle. Karlas Vater hatte diese Kapelle der Diözese abkaufen können, vielleicht auch, weil er sich mit dem verantwortlichen Geistlichen sehr innig verstand, und zum Wohnhaus umgebaut, nachdem sich seine Frau, Karlas Mama, eines Tages einfach in Luft aufgelöst hatte und nie wieder auf dieser Erde, weder von Menschen noch von Tieren, gesehen ward. Könnte man in das Foto hineinzoomen, würde man durch die Strumpfmaschen erkennen, dass Karla von ihrem Vater im Alter von drei Jahren, wie sich jedenfalls herumsprach, mit heißem Fett übergossen wurde, nachdem sie sich geweigert hatte, brav zu sein. Seit sie aus dem Krankenhaus gekommen war, wo sie sechsunddreißig Wochen in Lebensgefahr auf der Kinderintensivstation verbracht hatte, ging Karla zum Ballettunterricht, denn ihre verbrannte Haut musste ständig, ja ständig, gedehnt werden. Als dieses Foto entstand, neunzehnhundertneunundachtzig, im zarten Alter von sieben Jahren, hatte sie bereits das Potenzial zur Primaballerina, aber mit diesen ungustiösen Narben am Bein war da leider nichts zu machen.

Vor der Bank am Boden, zu Karlas bestrumpften Füßen, liegt Ludwig, den wegen seiner außergewöhnlichen Länge und nadelöhrgerechten Schlankheit viele als »He du Lindwurm!« verspotteten. Vor dem Fototermin hatte er seine schneeweißen Haare, wie jeden Monat, einen halben Zentimeter kurz abrasiert bekommen. Von seinem Offiziersvater. Von diesem stammte übrigens auch die von Ludwig übernommene Bezeichnung Hamgong für das Klingeln der letzten Schulglocke oder der Begriff Kasernierung für Ganztagsunterricht.

Im Schneidersitz rechts außen sitzt Franzi. Er trägt eine zimtfarbene Flatterhose, ein pastelllila T-Shirt und die blauen Puma-Schuhe mit dem Klettverschluss-Geheimfach. Er grinst breit in die Kamera. Franzi war damals der Neue in der Klasse, er war von Tirol nach Kärnten emigriert, wegen einer wirklich äußerst delikaten und geheimnisvollen Geschichte, die nur dem Allerheiligsten vollständig bekannt war. Soweit ich aber einmal Franzis Mutter und meine Mutter belauschen konnte, war es so: Der Franzi sei in Innsbruck in einer katholischen Volksschule von äußerst gutem Ruf gewesen, von äußerst gutem Ruf, und durch diese Schule kam er zu der Ehre, als Messdiener arbeiten zu dürfen. Doch einmal tauchte der Franzi nach der heiligen Messe nicht und nicht aus der Sakristei auf, und da blieb seiner Mutter nur übrig, sich ohne Erlaubnis auf diese Hinterbühne des Gotteshauses zu schleichen. Und als sie ihren Jungen sah, stieß sie einen solchen Schrei aus, dass die Hostien im heiligen Gral zu Staub zerfielen. Der Franzi stand splitterfasernackt mit gespreizten Beinen da, unter seinem Schritt der Pfarrerskopf mit geöffnetem Mund, in den der Franzi hineinpinkelte. Neben den beiden lagen drei leere Flaschen Römerquelle. Der Geistliche rempelte Franzi zur Seite und fuhr seine Mama an, was sie eigentlich glaube, sich unbefugt in die Sakristei zu schmuggeln, als Frau noch dazu, dies sei ein Haus Gottes und als solches nur mit Befugnis des Gottesgesandten, nämlich seiner, zu betreten. Die Mutter packte unversehens ihren nackten Putto, schaffte ihn ins Auto und rauschte nach Hause in ihre Reihenhaushälfte. Gleich am nächsten Tag zogen sie um. So Franzis Mama zu meiner Mama, sich fortlaufend bekreuzigend, während ich unter der Ruck’schen Kücheneckbank halb mit einem Spielzeugauto beschäftigt lauschte.

In Frau Rucks Küche hing der Druck eines Ölgemäldes von Matthias Holländer, ein abgemaltes Schulfoto aus dem Jahr achtzehnhundertneunundachtzig. Exakt hundert Jahre bevor unser Schulfoto aufgenommen wurde. Nach hinten, zu den letzten Reihen hin, wurde das Bild dunkler, duster. Als gäbe es unendlich viele Reihen dieser Menschenkinder, immer weiter in die Dunkelheit hinein, in Richtung Jenseits gezählt. Ich habe, wenn Frau Ruck auf mich aufpasste, das eine oder andere Mal in die Augen dieser Gleichaltrigen geblickt, auf der Küchenbank stehend, eventuell mit einem Extrawurstbrot in der einen Hand und in der anderen eine Essiggurke, hörbar kauend oder schmatzend schaute ich mir die Gesichter immer wieder an. Im Grunde genommen gab es für alle Kinder, die ich kannte, ein Äquivalent auf diesem Bild, ein Double. Dadurch entwickelte das Bild einen bösen Sog. Quecksilber, das Quecksilber anzieht wie ein Magnet. Kinder, verbannt in eine zeitlose Vergangenheit. Der links unten, der Junge, wollte ich sein. Der Kittel über dem Bauch aufgebogen, der Kragen schief, ein Strumpf wirft Fältchen unterm Knie. Zuerst dachte ich, er linst in die Kamera, aber beim genaueren Hinsehen zeigte sich mir, das tut er nicht. Vor hundert Jahren brauchte man längere Belichtungszeiten als heute. Deswegen konnten die Kinder nicht lächeln. Ihr Gesichtsausdruck passte zu ihrer Vergänglichkeit.

Auf meinem Klassenfoto lachen alle. Achtzehn lachende Münder. Andreas lacht mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. Adi lächelt mild wie der Schmerzensmann über dem Waldheim-Portrait, die Lippen geschlossen, den Kopf zur Seite geneigt. Karlas Lachen offenbart beide Zahnreihen inklusive Lücken, als wollte sie klarstellen, dass in ihrer Mundhöhle nichts verborgen liegt.

An jenem Klassenfototag nahmen wir Franzi erstmalig mit zum Waldhaus. Mein neun Jahre älterer Bruder Thomas hatte das Waldhaus gebaut. Zunächst sägte er eine Lichtung in den Lärchen-Jungwald, auf den Zehenspitzen sei er dabei gelaufen und habe jede einzelne Lärchennadel unter den Füßen brechen gehört, so hoch war seine Konzentration, wie er öfter vor mir angab. Die Tiere hätten eine Biege gemacht, so dass es in den Sträuchern nicht wie sonst gewuselt habe, und die Eichkätzchen hätten die Luft angehalten,...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber
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ISBN-10 3-518-77858-7 / 3518778587
ISBN-13 978-3-518-77858-6 / 9783518778586
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