1974 - Eine deutsche Begegnung (eBook)
432 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60686-8 (ISBN)
Ronald Reng, geboren 1970 in Frankfurt, lebte viele Jahre als Sportreporter und Schriftsteller in Barcelona. Seine Biografie über Robert Enke stand zehn Wochen unter den Top 5 der Spiegel-Bestsellerliste, sein Buch »Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga« erhielt den »NDR Kultur Sachbuchpreis« und wurde als »Fußballbuch des Jahres 2013« ausgezeichnet ebenso wie 2016 »Mroskos Talente. Das erstaunliche Leben eines Bundesliga-Scouts«. Zuletzt erschien von ihm »Der große Traum«, eine neunjährige Langzeitstudie über drei Fußballtalente und »Fußballbuch des Jahres« 2022.
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 28/2024) — Platz 16
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Ronald Reng, geboren 1970 in Frankfurt, lebte viele Jahre als Sportreporter und Schriftsteller in Barcelona. Seine Biografie über Robert Enke stand zehn Wochen unter den Top 5 der Spiegel-Bestsellerliste, sein Buch »Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga« erhielt den »NDR Kultur Sachbuchpreis« und wurde als »Fußballbuch des Jahres 2013« ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm »Mroskos Talente. Das erstaunliche Leben eines Bundesliga-Scouts«, das 2016 ebenfalls zum »Fußballbuch des Jahres« gekürt wurde und »Warum wir laufen«.
Prolog
Eine Büroklammer im deutschen Gedächtnis
Auf der anderen Seite der Gefängnismauer steht ein Kastanienbaum, das ist ihm schon in den ersten Tagen aufgefallen. Als Jugendlicher war er bei den christlichen Pfadfindern, sie verbrachten die Wochenenden im Wald, beobachteten die Vögel, und wenn sie eine Amsel mit Wurm im Schnabel sahen, versuchten sie, ihren Flug zu verfolgen, um das Nest zu entdecken und zu fotografieren. Der Blick für die Natur ist ihm geblieben.[1]
Manchmal fliegen Spatzen vor seinem Fenster über die Gefängnismauer, die Spatzen fliegen hier einfach rein und raus. Die Spatzen sind eine Sensation für Klaus Jünschke. Sie sind, neben dem Kastanienbaum und den Gefängniswärtern, an vielen Tagen das einzige Lebendige, das er sieht.
Das Fenster seiner Zelle ist direkt auf die Gefängnismauer der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken gerichtet. Es ist eigentlich ein großes Fenster, dreiteilig, aber das Fenster macht Klaus Jünschke verrückt. Es lässt sich nicht aufreißen. Nur der Mittelteil kann einen Spalt weit gekippt werden.[2] Wenn er daran denkt, überkommt ihn wieder die Atemnot. Die Luft reicht nicht, wenn das Fenster nur wenige Zentimeter gekippt ist, glaubt er, die verbrauchte Luft kann doch durch den kleinen Spalt gar nicht abziehen. Er hat sich oft mit seinem Verstand gegen die Gedanken zu wehren versucht, dreh nicht durch, Klaus, hat er sich zuzureden versucht, aber die Gedanken waren stärker. Luft! Luft, Luft, Luft! Ich ersticke hier, ich gehe hier kaputt. Dann beginnt sein Herz zu rasen, und irgendwann rast alles, in ihm, um ihn herum, kein Gedanke lässt sich mehr zu Ende denken, die Gedanken rasen einfach davon, rasen um ihn herum. Luft! Luft!
Einmal hat er eine Colaflasche genommen und das Zellenfenster damit eingeschlagen.[3]
Die Cola bringt ihm gelegentlich heimlich ein Wärter, der es gut mit ihm meint, Berner. Ob Berner einfach aus Mitleid oder aus politischen Sympathien handelt, kann Klaus Jünschke nicht sagen. Einen Tag nachdem er das Fenster eingeschlagen hatte, als er endlich Luft bekam, erschienen zwei Glaser unter Aufsicht der Wärter und setzten eine neue Scheibe ein.
Bald werden es zwei Jahre sein, seit er hier ist. Am 8. Juli 1972 haben sie ihn geschnappt. Er hatte ehrlich gesagt nur noch auf seine Verhaftung gewartet, nachdem Andreas Baader und Ulrike Meinhof und fast alle anderen nacheinander im Juni 1972 gefasst worden waren. Er hatte weitergemacht und gleichzeitig gewusst, es war vorbei.
Die Fragen kommen: Was hast du getan? Wie bist du da reingeraten? War das nicht alles ein Irrsinn? Aber die Antworten lassen sich hier drin, mit dem Kastanienbaum auf der anderen Seite der Mauer, nicht zu Ende denken. Jedes Mal, wenn das Nachdenken beginnt, kommen der Trotz und auch die Verunsicherung: Zweifelst du nur an deinem Weg, weil die Schweine dich mit der Isolationshaft in die Enge treiben, weil sie dich umzudrehen versuchen?
Isolationshaft, das Wort haben er und seine Mitstreiter von der Roten Armee Fraktion geprägt. »Strenge Einzelhaft« ist der behördliche Terminus. So wie die Staatsanwälte und Politiker auch nicht »Rote Armee Fraktion« sagen, sondern »Baader/Meinhof-Bande«. Die einen wollen glauben machen, sie seien Teil einer weltweiten Befreiungsarmee. Die anderen wollen klarmachen, das ist nur eine miese kriminelle Bande. Um Ausdrücke, um Sprache wird leidenschaftlich gerungen, 1974. Was die strenge Einzelhaft beziehungsweise Isolationshaft betrifft, so wurde sie angeordnet, um jegliche Kommunikation der gefangenen Terroristen untereinander und mit ihren noch flüchtigen Mitstreitern zu unterbinden. Die Zellen neben und über Klaus Jünschke wurden geräumt, damit er niemandem etwas durch das Fenster zurufen konnte.
Eine Stunde Hofgang am Tag steht ihm zu, zunächst war es nur eine halbe Stunde gewesen.[4] Wenn er rausgeht, wird dafür gesorgt, dass der Hof menschenleer ist. Der zuständige Ermittlungsrichter Wolfgang Strack am Amtsgericht Kaiserslautern gestand Jünschke im Herbst 1973 zu, auf seinem Hofgang von einem einzelnen, von der Anstaltsleitung ausgewählten Mitgefangenen begleitet zu werden. Jünschke weigerte sich, die vermeintliche Lockerung anzunehmen. Er wolle keine Almosen, sondern wie alle anderen Gefangenen auch behandelt werden. Vor dem Haus von Strack deponierten RAF-Unterstützer eine Bombe. Sie konnte entschärft werden.
Zum ersten Mal sieht sich die junge Bundesrepublik in ihrem Innersten bedroht. Mit aller Härte bekämpfe man die Terroristen am besten, selbst wenn sie schon im Gefängnis sitzen, glauben Regierung und Justiz. Teile der bundesdeutschen Zivilgesellschaft erkennen ihren Staat nicht wieder. »Die Isolierung ist in ihrer Konsequenz als psychische Zerstörung der Häftlinge anzusehen«, hieß es im Juni 1973 in einer Resolution, die kein RAF-Sympathisantenkomitee verabschiedete, sondern der Deutsche Evangelische Kirchentag.[5]
Von psychisch zermürbender Vereinsamung könne im Fall Jünschke keine Rede sein, argumentiert Ermittlungsrichter Strack. Zu seiner Familie und zu seinen Anwälten ist dem Gefangenen selbstverständlich der Kontakt gestattet. Klaus Jünschke darf seine Angehörigen zweimal im Monat sehen, jeweils eine halbe Stunde.
Sie nehmen dann an den gegenüberliegenden Seiten des Tisches im Besucherzimmer Platz. Direkt hinter Jünschke sitzen in der Regel zwei Justizvollzugsbeamte, direkt hinter dem Besuch zwei Polizisten. Die Uhr läuft, und dann sollen sie sich unterhalten. Sich zu berühren ist nicht gestattet. Dabei könnte Jünschke heimlich ein Zettel oder Hehlerware zugesteckt werden. Zur Sicherheit muss sich Jünschke vor und nach jedem Treffen vor den Wächtern komplett ausziehen, damit sie seine Kleidung durchsuchen können.
Gestern, am 21. Juni 1974, war seine Verlobte Elisabeth von Dyck zu Besuch in der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken.[6] Natürlich sind sie nicht wirklich verlobt. Sie haben sich damals an der Uni in Heidelberg über solche Rituale lustig gemacht. Nun haben sie ihre Verlobung erfunden, damit Elisabeth zu seiner Familie gezählt wird. Sonst dürfte sie ihn nicht im Gefängnis besuchen.
Der Kleinkrieg um seine Rechte nimmt einen guten Teil von Klaus Jünschkes Zeit in Anspruch. Das verstärkt einerseits das Rasen in ihm. Andererseits gibt es ihm etwas zu tun. Klaus Jünschke schreibt Briefe an die Anstaltsleitung und verschiedene Gerichte, alle Wörter kleingeschrieben. Die unorthodoxe Rechtschreibung soll die revolutionären Absichten der RAF symbolisieren. Andere revolutionäre Zellen überall auf der Welt kämpfen ja weiter, die Brigate Rosse in Italien, die Tupamaros in Uruguay, die Nihon Sekigun in Japan; sie teilen ihre Ziele, glaubt Klaus Jünschke. Es geht darum, das Kapital neu zu verteilen, die Großgrundbesitzer und Konzerne zu enteignen, um die Armen am Besitz zu beteiligen. Aber jetzt im Gefängnis geht es in den Briefen mit durchweg kleingeschriebenen Worten darum, ob er sich rasieren muss oder nicht. Die Hausordnung verlangt von den Gefangenen eine glatte Rasur. Klaus Jünschkes Einspruch dagegen wurde vom Amtsgericht abgelehnt. Er wurde zwangsrasiert. Vier Justizvollzugsbeamte hielten seinen Kopf, Arme und Beine fest, die Hände steckten bereits in Handschellen. Die vier Beamten schoben seinen Kopf fest nach hinten, während ein fünfter seinen Bart abrasierte und Jünschke schrie und spuckte, weil der Mund das Einzige war, was er noch bewegen konnte.[7]
Es gab auch kleine Siege. Seit dem 1. März 1974 erhält Klaus Jünschke die Zeitungen ohne Löcher. Das hat er gerichtlich durchgesetzt. Vorher waren alle Artikel mit Bezug zur RAF entfernt worden. Die Berichterstattung könnte Jünschkes Aussagen bei dem noch ausstehenden Strafprozess beeinflussen, fand Ermittlungsrichter Strack. Es musste eine fast schon kunstvolle Arbeit gewesen sein, die Artikel auszuschneiden, ohne die ganze Zeitungsseite zu zerstören; erst mit der Schere vorsichtig an einer Ecke des RAF-Berichts in das Papier stechen, dann die Schere langsam drehen und schneiden.
Klaus Jünschke hat vier Tageszeitungen abonniert, die Rheinpfalz, die Süddeutsche...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Sachbuch/Ratgeber ► Sport | |
Schlagworte | Beckenbauer • Bestsellerautor • BRD • bundesdeutsche Zeitgeschichte • Bundesrepublik • DDR • deutsch-deutsch • Fußball • Fußball-WM • Guillaume • Günter Netzer • Honecker • Jüntschke • Matthias Brandt • RAF • Republikflucht • Roland Jahn • Sachbuchbestseller • Sparwasser • SPIEGEL-Bestseller • Stammheim • Stasi • Trainingslager • Willy Brandt • Wolfgang Overath • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-492-60686-5 / 3492606865 |
ISBN-13 | 978-3-492-60686-8 / 9783492606868 |
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