Gilgamesch -

Gilgamesch

Der Urmythos des Königs von Uruk und seines Wegs der Selbstfindung

Stephen Mitchell (Herausgeber)

Buch | Softcover
288 Seiten
2006
Goldmann Verlag
978-3-442-21746-5 (ISBN)
12,50 inkl. MwSt
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Das Gilgamesch-Epos ist die älteste schriftlich überlieferte Geschichte der Welt. Es berichtet von dem grausamen Tyrannen Gilgamesch, König von Uruk, der durch Kampf und die Erfahrung der Grenzen seiner menschlichen Existenz zu sich selbst findet und schließlich zum gerechten König wird. Diese klassische Heldenfahrt spiegelt archetypisch die Suche des Menschen nach seinem Selbst wider, das allein ihm angesichts seiner Sterblichkeit die Ewigkeit garantiert. In seiner spannenden Neuübertragung präsentiert Mitchell das Gilgamesch-Epos in einer lebendigen, bildgewaltigen Sprache.






Stephen Mitchell, Jahrgang 1943, wuchs in Brooklyn/New York auf. Er studierte Literaturwissenschaften und Philosophie, zunächst am Amherst College, dann in Paris und in Yale, und wurde ein sehr geschätzter Literaturübersetzer und erfolgreicher Autor. Eine

Einleitung Die älteste Geschichte der Welt Wenn im Irak der wirbelnd wehende Staub Männer und Panzer am Vorrücken hindert, bringt er Erinnerungen an eine uralte Welt mit sich, die viel älter ist als der Islam oder das Christentum. Die westliche Zivilisation nahm von jener Stätte zwischen Euphrat und Tigris ihren Ausgang, jenem Ort, wo Hammurabi seinen Gesetzeskodex schuf und das Gilgamesch geschrieben wurde – die älteste Geschichte der Welt, tausend Jahre älter als die Ilias oder die Bibel. Ihr Held war ein historischer König, der in der mesopotamischen Stadt Uruk um etwa 2750 v. u. Z. regierte. In dem Epos hat er einen engen Freund, Enkidu, einen nackten Wilden, der durch die erotischen Künste einer Tempelpriesterin zivilisiert wird. Mit ihm kämpft Gilgamesch gegen Ungeheuer, und als Enkidu stirbt, ist er untröstlich. Er bricht auf zu einer verzweifelten Reise, um den einzigen Menschen aufzuspüren, der ihm sagen kann, wie man dem Tod entkommt. Die Faszination des Gilgamesch rührt nicht zuletzt daher, dass es uns, wie jedes große literarische Werk, viel über uns selbst mitzuteilen hat. Indem es, vielleicht machtvoller als jedes nach ihm geschriebene Buch, dem Kummer und der Todesfurcht Ausdruck verleiht, indem es Liebe und Verwundbarkeit und die Suche nach Weisheit darstellt, ist es für Millionen Leser in Dutzenden Sprachen zu einem persönlichen Zeugnis geworden. Aber zudem hat es noch eine besondere Bedeutsamkeit in der heutigen Welt, mit ihren polarisierten Fundamentalismen, wo jede Seite inbrünstig an ihre eigene Rechtschaffenheit glaubt, jede sich auf einem Kreuzzug oder einem Dschihad gegen das befindet, was sie als bösen Feind wahrnimmt. Der Held dieses Epos ist ein Antiheld, ein Supermann (eine Supermacht, könnte man sagen), der nicht zwischen Stärke und Anmaßung zu unterscheiden vermag. Indem er präventiv einen Unhold angreift, stürzt er sich selbst in ein Unglück, das nur durch eine qualvolle Reise bewältigt werden kann, eine Suche, die zu Weisheit führt, eben dadurch, dass sie sich als vergeblich erweist. Das Epos besitzt eine außerordentlich differenzierte moralische Intelligenz. Es legt Wert auf gleiche Gewichtung, Balance, hält folglich, strikt unparteiisch, weder zum Helden noch zum Monster – und bewegt uns so dazu, unsere gefährlichen Gewissheiten in Sachen Gut und Böse anzuzweifeln. Ich begann diese Gilgamesch-Version, weil für mich alle Übersetzungen des Epos, die ich gelesen hatte, in sprachlicher Hinsicht nie überzeugend waren. Ich wollte eine ungekünstelte Stimme für die Dichtung finden: Worte, die genügend geschmeidig und kraftvoll sind, um der Stärke der Geschichte zu entsprechen. Sollte mir das gelungen sein, dann werden die Leser entdecken, dass sie nicht vor einem Altertumsrelikt in einem Glaskasten stehen, sondern sich vielmehr auf ein literarisches Meisterwerk eingelassen haben, das heute so bestürzend lebendig ist wie vor dreieinhalb Jahrtausenden. Ursprünge Gilgamesch ist ein Werk, das in der Intensität seiner Vorstellungskraft den großartigen Geschichten von Homer und der Bibel durchaus gleichkommt. Und doch waren über 2000 Jahre hin alle Spuren davon verschollen. Die gebrannten Tontafeln, auf die es in Keilschriftzeichen geschrieben war, lagen quer durch den alten Nahen Osten im Schutt von Städten begraben – und warteten auf Menschen aus einer anderen Welt, die sie lesen sollten. Erst 1853 wurden die ersten Bruchstücke in den Ruinen von Ninive entdeckt, und der Text blieb dann noch mehrere Jahrzehnte unentziffert und unübersetzt. Der große Dichter Rainer Maria Rilke ist möglicherweise der erste Leser gewesen, der genügend scharfsichtig war, das wahre literarische Format des Epos zu erkennen. »Gilgamesch ist ungeheuer!«, schrieb er Ende 1916. »Ich … rechne es zum Größten, das einem widerfahren kann.« »Ich habe mich [damit] eingelassen und an diesen wahrhaft gigantischen Bruchstücken Maße und Gestalten erlebt, die zu dem Größten gehören, was das zaubernde Wort zu irgendeiner Zeit gegeben hat.« In Rilkes Bewusstsein tritt das Gilgamesch wie ein prächtiges Aladin-Schloss, das schlagartig aus dem Nichts aufgetaucht ist, zum ersten Mal als ein Meisterwerk der Weltliteratur in Erscheinung. Die Geschichte seiner Entdeckung und Entzifferung ist selbst so fabulös wie eine Erzählung aus Tausendundeiner Nacht. Ein junger englischer Reisender namens Austen Henry Layard, der auf seinem Weg nach Ceylon (Sri Lanka) den Nahen Osten durchquerte, hörte, dass in den Hügeln des Areals, das jetzt die Stadt Mossul einnimmt, Altertümer begraben seien, beendete seine Reise und begann 1844 mit Ausgrabungen. Es stellte sich heraus, dass diese Hügel die verfallenen Paläste von Ninive, der alten Hauptstadt von Assyrien, enthielten, einschließlich dessen, was von der Bibliothek des letzten großen assyrischen Königs Assurbanipal (668–627 v. u. Z.) noch übrig war. Layard und sein Assistent Hormuzd Rassam »stellten staunend fest, dass Raum um Raum, Wand für Wand mit gemeißelten steinernen Basreliefs von Dämonen und Göttern, Schlachtszenen, königlichen Jagden und Zeremonien überzogen war; dass Türeingänge von gewaltigen geflügelten Stieren und Löwen flankiert waren. In einigen der Gemächer stießen sie auf Zehntausende Tontafeln, die mit der eigenartigen und damals noch unentzifferten kuneiformen (›keilförmigen‹) Schrift beschrieben waren.« Über 25.000 dieser Tafeln wurden nach London ins Britische Museum transportiert. Als die Keilschrift 1857 offiziell entziffert wurde, entdeckten die Gelehrten, dass die Tafeln auf Akkadisch geschrieben waren; das Akkadische ist eine alte semitische, mit dem Hebräischen und Arabischen urverwandte Sprache. 15 Jahre vergingen, bevor irgendjemand die Tafeln bemerkte, auf denen das Gilgamesch geschrieben stand. Dann erkannte 1872 ein junger Kurator des Britischen Museums namens George Smith, dass eines der Fragmente die Geschichte von einem babylonischen Noah erzählte, der die von den Göttern geschickte große Flut überlebte. »Als ich die dritte Kolumne von oben nach unten durchsah«, schrieb Smith, »fiel mir die Aussage ins Auge, dass das Schiff auf dem Nisirgebirge aufruhte, an die sich dann der Bericht vom Aussenden der Taube anschloss, und wie sie keinen Ruheplatz fand und wieder zurückkam. Ich erfasste sofort, dass ich hier mindestens einen Teil des chaldäischen Berichts von der Sintflut entdeckt hatte.« Für einen Gelehrten der viktorianischen Zeit war das eine spektakuläre Entdeckung, weil dieses unabhängige Textzeugnis doch offenbar die Historizität der in der Bibel geschilderten Sintflut bestätigte (Viktorianer hielten die Schöpfungsgeschichte für viel älter, als sie tatsächlich ist). Laut einem späteren Bericht sagte Smith, als er die Verszeilen sah: »Ich bin der erste Mensch, der dies liest, nachdem es mehr als 2000 Jahre der Vergessenheit anheim gefallen war!« »Daraufhin legte er«, dem Bericht zufolge, »die Tafel auf den Tisch, sprang auf und stürmte in großer Aufregung im Raum umher und begann, zum Erstaunen der Anwesenden, sich zu entkleiden.« Wir erfahren nicht, ob er bloß seinen Mantel ablegte oder ob er sich noch weiter auszog. Ich stelle mir gern vor, dass er, in seiner Hochstimmung, bis zum Letzten ging und inmitten der erstaunten schwarz gekleideten viktorianischen Gelehrten splitternackt herumlief, wie Enkidu. Als Smith am 3. Dezember 1872 in der neu gebildeten »Society of Biblical Archaeology« offiziell bekannt gab, dass er auf einer der assyrischen Tafeln einen Bericht von der Sintflut entdeckt hatte, erregte dies großes Aufsehen, und sehr bald wurden weitere Gilgamesch-Fragmente bei Ninive und in den Ruinen anderer alter Städte zutage gefördert. Seine Übersetzung der bis zu jenem Zeitpunkt entdeckten Fragmente wurde 1876 veröffentlicht. Obwohl sie einem modernen Leser sicher absonderlich vorkommt, mit ihren zahlreichen irrigen Konjekturen geradezu surrealistisch erscheint und in vielen Passagen fast bis zur Zusammenhangslosigkeit fragmentarisch ist, war sie eine bedeutende Pionierarbeit. Mittlerweile, mehr als eineinviertel Jahrhunderte später, sind viele weitere Fragmente aufgetaucht; man kennt und versteht die Sprache jetzt viel besser, und die Gelehrten können die Geschichte des Textes nunmehr doch einigermaßen zuversichtlich zurückverfolgen. Nachstehend ist skizziert, worüber diesbezüglich Einigkeit besteht. Sagen über Gilgamesch begannen wahrscheinlich kurz nach dem Tod des gleichnamigen historischen Königs aufzukommen. Die frühesten erhalten gebliebenen Texte, die auf etwa 2100 v. u. Z. datiert werden, sind fünf gesonderte und unabhängige Dichtungen auf Sumerisch, betitelt mit »Gilgamesch und Agga«, »Gilgamesch und Huwawa«, »Gilgamesch und der Himmelsstier«, »Gilgamesch und die Unterwelt« und »Der Tod des Gilgamesch«. (Das Sumerische ist eine nichtsemitische Sprache, die keiner der uns bekannten Sprachen verwandt ist und sich (laut Bottéro) vom Akkadischen so weitgehend unterscheidet wie das Chinesische vom Englischen. Es wurde zur akademischen Sprache des alten Mesopotamiens und gehörte zum Lehrplan der Schreiberausbildung.) Diese fünf Dichtungen – geschrieben in einem ruhig-gemessenen, mit ständigen Wiederholungen arbeitenden hieratischen Stil und weitaus weniger verdichtet und anschaulich als das akkadische Epos – müssen wohl späteren Dichtern und Herausgebern vertraut gewesen sein. Der direkte Vorläufer der bei Ninive ausgegrabenen elf Tontafeln wird als die altbabylonische Version bezeichnet. Sie ist in akkadischer Sprache geschrieben (das Babylonische ist ein Sprachzweig des Akkadischen) und wird auf etwa 1700 v. u. Z. datiert; elf Fragmente sind erhalten geblieben, einschließlich dreier nahezu vollständiger Tafeln. Diese Fassung paraphrasiert zwar einige auch in den sumerischen Gilgamesch-Texten vorkommende Episoden, aber sie ist eine eigenständige, originelle Dichtung, das erste Gilgamesch-Epos. Ihren Themen und ihrer Form nach ist sie im Wesentlichen die gleiche Dichtung wie ihr ninivitischer Nachkomme: eine Geschichte über Freundschaft, den Tod des Geliebten und die Suche nach Unsterblichkeit. Ungefähr 500 Jahre nachdem die altbabylonische Version geschrieben wurde, befasste sich ein Gelehrter und Priester namens Sîn-leqi-unninni mit ihr und überarbeitete sie. Sein Epos, das die Gelehrten als die Standardversion bezeichnen, bildet die Grundlage aller neuzeitlichen Übersetzungen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind 73 Fragmente entdeckt, etwas weniger als 2000 Verszeilen des Urtexts liegen in lesbarer, zusammenhängender Form vor; der Rest ist beschädigt oder fehlt, und die erhalten gebliebenen Abschnitte weisen viele Lücken auf. Wir wissen nicht genau, worin Sîn-leqi-unninnis Beitrag zur Standardversion eigentlich bestand, da von der altbabylonischen Version einfach zu wenige Fragmente erhalten geblieben sind, um Vergleiche anzustellen. Aus dem, was wir ersehen können, redigierte und bearbeitete er oftmals konservativ, indem er sich Verszeile für Verszeile der älteren Fassung anschloss und in Wortwahl und Wortstellung allenfalls geringfügige Veränderungen vornahm. Hin und wieder jedoch erweiterte er oder zog zusammen, ließ Passagen aus oder fügte welche hinzu und fungierte dann nicht als redigierender Bearbeiter, sondern als origineller Dichter. Die zwei größeren Passagen, von denen wir wissen, dass er sie hinzufügte, der Prolog und die Rede der Priesterin Schamchat, in der diese Enkidu nach Uruk einlädt, besitzen die Anschaulichkeit und Dichte großer Kunst. Das Gilgamesch, das Sie hier in Händen halten, ist eine stellenweise freie, stellenweise textgetreue Adaption von Sîn-leqi-unninnis Standardfassung in eine moderne Sprache. Selbst Gelehrte, die wörtliche Übersetzungen anfertigen, übersetzen nicht einfach nur die Standardversion; sie füllen einige der Textlücken mit Passagen aus anderen Fassungen auf, deren wichtigste die altbabylonische ist. Ich bin in dieser Hinsicht noch weiter gegangen: Hin und wieder, in Textabschnitten, wo die Standardversion besonders fragmentarisch ist, habe ich sie durch Passagen aus den sumerischen Gilgamesch-Dichtungen ergänzt. Ich habe auch einzelne Verszeilen oder kurze Passagen hinzugefügt, um die Lücken zu überbrücken oder Klarheit in die Geschichte zu bringen. Durchweg aber schwebte mir vor, das uralte Epos als eine zeitgenössische Dichtung im Paralleluniversum meiner eigenen Sprache wieder zu erschaffen. Die Zivilisierung des wilden Mannes Gilgamesch ist die Geschichte einer Heldenreise; man könnte wohl sagen, dass es die Mutter aller Heldenreisen ist, mit seinen riesigen, ungehemmten mythischen Gestalten, die sich durch eine Traumlandschaft hindurchbewegen. Es ist auch die Geschichte davon, wie ein Mann gesittet wird, wie er lernt, sich selbst und so auch sein Volk zu beherrschen und mit Mäßigung, Weisheit und Pietät zu handeln. Die Dichtung beginnt mit der Stadt und endet mit ihr. In den Anfangszeilen seines Prologs konstatiert Sîn-leqi-unninni die Weite und Tiefe dessen, was sein Held durchgemacht hatte: »Er hatte alles gesehen, hatte alle Gefühle erfahren.« Die nächsten sieben Verszeilen teilen uns die wesentlichen Einzelheiten mit, allerdings ohne den Namen des Helden überhaupt zu erwähnen. Gilgamesch war bis an den Rand der Welt gereist und hatte Kenntnis von den urzeitlichen Tagen der Menschheit erlangen dürfen; er hatte die Reise überstanden und war zurückgekehrt zum großen Tempel der Ischtar und Uruks damals berühmter, neuneinhalb Kilometer langer Stadtmauer. Und jetzt, nach dieser Zusammenfassung, erfolgt etwas Faszinierendes. Sîn-leqi-unninni wendet sich an seine Leser und fordert sie auf, die großartige Stadt selbst in Augenschein zu nehmen: Seht, wie ihre Wälle kupfergleich in der Sonne schimmern. Erklimmt die Steintreppe, die älter ist, als das Denken fassen kann, nähert euch Eanna, dem Tempelbezirk der Ischtar, an Größe, Schönheit unerreicht von jedwedem König, wandelt auf der Mauer von Uruk, folgt ihrem Lauf rings um die Stadt, untersucht ihre mächtigen Fundamente, prüft ihr Mauerwerk, wie meisterhaft sie gebaut ist, betrachtet das von ihr umschlossne Gebiet: die Palmen, Parkanlagen, die Obstgärten, die herrlichen Paläste und Tempel, die Läden und Märkte, die Häuser, die öffentlichen Plätze. Es ist ein sehr merkwürdiger und berührender Moment. Der Dichter wendet sich vorgeblich an eine Leserschaft von Altbabyloniern im Jahre 1200 v. u. Z. und weist sie an, eine Stadt zu bewundern, die vor undenklichen Zeiten erbaut wurde. Doch dann stellt sich heraus, dass Sie und ich die Leser sind! Wir sind es, die da, mehr als 3000 Jahre später, aufgefordert werden, auf der Mauer von Uruk zu wandeln und die Pracht und das geschäftige Leben der großartigen Stadt zu betrachten. Die Aufforderung ist berührend, nicht weil die Stadt in Trümmern liegt und die Zivilisation der Vernichtung anheim fiel – das ist kein ironischer »Ozymandias«-Moment –, sondern weil wir in unserer Vorstellung eben durchaus imstande sind, die uralte Steintreppe zu erklimmen und die üppigen Grünanlagen und Obstgärten, die Paläste und Tempel, die Läden und Märkte, die Häuser, die öffentlichen Plätze zu betrachten und das Staunen des Dichters und dessen Stolz auf seine Stadt zu teilen. Dann wird Sîn-leqi-unninnis Aufforderung vertraulicher. »Findet den Grundstein«, sagt er uns, und darunter die kupferne Kassette, mit seinem Namen beschriftet. Schließt sie auf. Öffnet den Deckel. Entnehmt die Tafel aus Lapislazuli. Lest, wie Gilgamesch alles erlitt und alles vollbrachte. Selbst im Jahre 1200 v. u. Z. war das doch wohl kaum wörtlich gemeint! Selbst für einen altbabylonischen Leser waren die Verszeilen doch wohl anschaulich genug, um die physische Handlung überflüssig zu machen. Beim Lesen der Anweisungen können wir sehen, wie wir den Grundstein finden, die kupferne Kassette herausholen, sie aufschließen, ihren Deckel öffnen und die unschätzbar wertvolle Tafel aus Lapislazuli entnehmen, die sich schließlich als ebenjene Dichtung entpuppt, die wir gerade lesen wollen. Wir blicken unter die Oberfläche der Dinge, in die verborgenen Orte, die verschlossenen Behältnisse der menschlichen Erfahrung. Die Prüfungen, die Gilgamesch selbst vor langer Zeit niedergeschrieben haben soll, werden uns eben jetzt in Worten enthüllt, die, ob sie nun »in Steintafeln gemeißelt« oder auf Papier gedruckt sind, von sich aus eine Empfindung der Echtheit, Glaubwürdigkeit erwecken. Sie rühren direkt von der Quelle her: wenn nicht vom historischen Gilgamesch, dann von einem Dichter, der sich die Erfahrung dieses Helden so intensiv vorgestellt hat, dass sie wahr sein muss. Die altbabylonische Dichtung, die Sîn-leqi-unninni übernahm, beginnt mit dem Satzteil: »Alle Könige übertreffend …«. Sie beschreibt Gilgamesch als riesenhaften und manischen jungen Mann (möglicherweise bedeutet sein Name »Der alte Mann ist ein junger Mann«), einen Krieger und, nach seiner Rückkehr, als guten König und Wohltäter für sein Volk: eine Kombination aus Goliath und David. Aber zunächst einmal ist er ein Tyrann. Anfangs, wenn wir uns in das Versepos hineinbegeben, herrscht ein grundlegendes Ungleichgewicht in der Stadt; irgendetwas ist drastisch schief gegangen. Der Mann mit unübertrefflichem Mut und unerschöpflicher Energie ist zu einem Ungeheuer der Selbstsucht geworden; der Hirte ist zu einem Wolf geworden. Er drangsaliert die jungen Männer, vielleicht mit Zwangsarbeit, und drangsaliert die jungen Frauen, vielleicht mit seinem unbändigen Geschlechtstrieb. Weil er ein absoluter Monarch ist (und obendrein zu zwei Dritteln göttlich), wagt keiner, ihn zu kritisieren. Das Volk schreit klagend zum Himmel wie die israelitischen Sklaven im Buch Exodus, und sein Klagen wird gehört. Aber Anu, der Vater der Götter, schreitet nicht direkt ein. Er gewährt auf eine köstlich umständliche Weise Hilfe. Er bittet die große Muttergöttin Aruru, ihre erste Erschaffung der Menschen erneut zu vollziehen: »Jetzt geh und erschaff ein Gegenstück zu Gilgamesch, sein zweites Ich, einen Mann, der ihm gleichkommt an Mut und Stärke, einen Mann, der sein Herz-Ungestüm aufwiegt. Schaff einen neuen Helden: Ausgleichen sollen beide Einander völlig, damit Uruk Frieden hat.« Wie Gott der Herr im Buch Genesis formt Aruru aus dem Staub des Erdbodens einen Menschen, und der wird ein lebendes Wesen, der Urmensch in Person: natürlich, unschuldig, allein mit sich. Dieser zweite Adam wird nicht in einer Frau »eine Hilfe« finden, »die ihm entspricht«, sondern in dem Mann, um dessentwillen er erschaffen wurde. So beginnt – tausend Jahre vor Achill und Patroklos oder David und Jonathan – die erste große Freundschaft in der Literatur.

Reihe/Serie Arkana ; 21746
Übersetzer Peter Kobbe
Sprache deutsch
Maße 135 x 206 mm
Gewicht 302 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Östliche Weisheit / Alte Kulturen
Schlagworte Gilgamesch
ISBN-10 3-442-21746-6 / 3442217466
ISBN-13 978-3-442-21746-5 / 9783442217465
Zustand Neuware
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