Großwerden (eBook)
352 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1015-5 (ISBN)
Kinder haben heute die besten Chancen, gesund aufzuwachsen. Dennoch scheint es kompliziert wie nie, sie dabei zu begleiten. Wie bleibt man souverän, wenn das Baby immerzu schreit und das Netz lauter widersprüchliche Dinge empfiehlt? Wie unterscheidet man seriöse Hinweise von flüchtigen Trends? Was hilft bei Krankheiten? Der erfahrene Pädiater und renommierte Professor für Kinderheilkunde Jörg Dötsch und die langjährige ZEIT-Bildungsjournalistin Johanna Schoener haben ein modernes medizinisches Grundlagenbuch für die ersten zehn Lebensjahre geschrieben.
Entlang aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse klären sie auf über Ernährung, Schlaf, Medienkonsum und viele andere zentrale Entwicklungsthemen. Sie wissen: Familienalltag heute bedeutet Jonglieren mit Jobs und überlasteten Kitas, mit Schul- und Freizeitstress, mit hohen inneren Ansprüchen und äußeren Krisen. Sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, ist nicht leicht. ›Großwerden‹ trennt das Wichtige vom Unwichtigen. Es zeigt, wie Eltern ihre Kinder so stärken können, dass sie ihren individuellen Weg finden, und gibt Zuversicht für die gemeinsame Zukunft.
Wieso sind die ersten 1000 Tage so entscheidend?
Wie wirkt sich die Ernährung in der Schwangerschaft aus?
Was muss man beim Reisen mit Baby beachten?
Kann man Allergien vorbeugen?
In welchem Umfang sind kindliche Ängste normal?
Was stärkt die Abwehrkräfte?
Wann muss man in die Notaufnahme?
Woran erkennt man eine Lernstörung?
PROF. DR. MED JÖRG DÖTSCH, geboren 1965, begleitet seit dreißig Jahren Kinder und deren Familien als Kinder- und Jugendarzt. Er ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln, wo er praktiziert, forscht und lehrt. Jörg Dötsch ist im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Während der Coronapandemie wurde er zu einer der wichtigsten Stimmen für die junge Generation im öffentlichen Diskurs. Als Experte berät er die Bundesregierung
JOHANNA SCHOENER, geboren 1981, ist Redakteurin bei der Wochenzeitung DIE ZEIT. Sie arbeitet im Wissen-Ressort und befasst sich seit vielen Jahren mit Bildungs- und Familienpolitik. Für ihre Berichterstattung über ausbleibenden Kinderschutz während der Pandemie wurde sie mit dem BVKJ-Medienpreis ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Grundschulkindern in Hamburg.
I
WAS PRÄGT:
DIE MONATE IM BAUCH
Familiengründung heute – kann man wirklich alles optimieren?
Schwanger?!
War das geplant?
Wisst ihr schon, was es wird?
Machst du einen Pränataltest?
Wolltest du nicht die Probezeit abwarten?
Braucht ihr dann eine größere Wohnung? Und wie macht ihr das mit der Elternzeit?
Fragen über Fragen, die vor allem eins zeigen: Kinderkriegen ist etwas, das gut organisiert sein will. Der richtige Zeitpunkt zählt. Es einfach mal drauf ankommen lassen? Das ist ziemlich aus der Mode gekommen. Soziologische Langzeitstudien zeigen, dass inzwischen gut 70 Prozent der Schwangerschaften vorher geplant und beabsichtigt sind.3 Vorbei die Zeiten, in denen Fortpflanzung eine natürliche und obendrein geheimnisvolle Sache war. Heute spricht man von Reproduktion. Und in die kann der Mensch vielfältig eingreifen: Schwangerschaften werden verhindert, abgebrochen und medizinisch unterstützt. Eizellen werden eingefroren, Spermien analysiert und die Befruchtung künstlich vollbracht.
Es sind unglaubliche Freiheiten, die wir in den vergangenen Jahrzehnten dadurch gewonnen haben. Wer möchte schon zurück in Zeiten ohne Verhütungsmittel und Kinderwunschzentren?
Doch hinter jeder Möglichkeit lauern neue Ungewissheiten. Wird die strapaziöse Hormonbehandlung wirklich Elternglück bringen? Was, wenn der Bluttest auf Trisomien auffällig ist? Ein Mehr an Wahlfreiheit zieht immer ein Mehr an Entscheidungen nach sich, die aktiv getroffen werden müssen. Dabei kann man scheinbar unzählige Fehler machen. Das raubt Kräfte und verunsichert. Vor allem, wenn man von klein auf darauf programmiert ist, bei allem das Beste für sich herauszuholen.
Die eigenen Pläne
Fitter werden, entspannter, erfolgreicher, nachhaltiger, attraktiver – die Gebiete, auf denen man sich verbessern kann, sind schier unendlich in unserer »Multioptionsgesellschaft«4. Das Leben selbst gestalten zu können ist ein Geschenk. Doch es ist auch eine Last. Ständig kann man sich optimieren und weiterentwickeln. Sich davon nicht immerfort unter Druck setzen zu lassen ist eine echte Herausforderung.
In den sozialen Netzwerken springt einen das schönere und makellosere Leben unablässig an. Und während man noch Likes verteilt und auf Follower hofft, kontrollieren im Hintergrund irgendwelche Apps, ob man sich auch gesund ernährt, sich genug bewegt und das Gerät achtsam wieder ausschaltet. Bevor man essen geht, checkt man erst mal, wie der Laden im Netz bewertet worden ist. Und auf der Restauranttoilette liest man Arbeitsmails.
Wer heute in seinen Zwanzigern oder Dreißigern ist, hat früh das Ziel verinnerlicht, möglichst selbstbestimmt und flexibel durchs Leben zu gehen. So wird man beruflich erfolgreich. So erlebt man in seiner Freizeit spannende Dinge. So kommt man weit herum. Kein Wunder also, dass im Zweifel lieber noch etwas abgewartet wird mit der Familiengründung. Alle Konstanten des Alltags werden andauernd hinterfragt. Ob Arbeit, Partnerschaft oder Wohnort – was ist schon endgültig? Geht das nicht irgendwie besser, kann man da noch was pimpen?
Seit vielen Jahren steigt das Durchschnittsalter der Eltern bei der Geburt ihres ersten Kindes. Momentan sind Mütter im Schnitt 30 Jahre alt und Väter 33.5 Nicht nur zeitlich rückt die Familiengründung nach hinten. Immer mehr Paare entscheiden sich bewusst für ein Leben ohne Kinder. »Man kann auch ohne Kinder glücklich sein« – 2012 stimmte dieser Aussage nur ein Drittel der Frauen zu. 2020 waren es bereits mehr als die Hälfte.6
Die äußeren Turbulenzen
Krisen, Kriege, Klimawandel – die Lebensbedingungen verändern sich rapide und einschneidender, als es vor ein, zwei Jahrzehnten denkbar war. Und in diese verrückte Welt soll man nun ein Kind setzen? Das würde ja bedeuten, sich all diesen Ungewissheiten zu stellen …
Wie soll man sich als Paar die Familienaufgaben aufteilen? Ist die Verantwortung auch allein zu stemmen? Woher einen Kita-Platz nehmen? Wird das Leben im Jahr 2050 noch lebenswert sein? Können die Kleinen von heute morgen noch unbeschwert für ein Jahr zum Schüleraustausch nach Kanada gehen oder sich das Wohnen in einer Großstadt leisten? Werden all die Kataststrophen die Menschen irgendwie klüger, solidarischer, stärker machen? Oder muss man das Gegenteil befürchten?
Einmal gestartet, kommt man aus so einem Sorgenkarussell manchmal nur schwer wieder heraus. Die Gedanken drehen sich im Kreis. Doch mal nüchtern betrachtet: Missliche Umstände gab es schon immer. Und trotzdem wurden Kinder geboren. Während man heutzutage am liebsten alles kontrollieren will, pflegten frühere Generationen allerdings ein schicksalhafteres Verhältnis zum Leben. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Im Deutschen Kaiserreich etwa erlebte ein Viertel der Kinder den ersten Geburtstag nicht, weitere erreichten nie das Erwachsenenalter. Noch 1938 starben 60 von 1000 Lebendgeborenen, heute sind es nur noch drei!7 Die gesundheitlichen Bedingungen, unter denen die Menschen noch wenige Generationen vor uns aufgewachsen sind, waren also ungleich schlechter. Das gerät leicht in Vergessenheit, wenn man Nachrichten guckt oder durch Schlagzeilen scrollt und das Unglück der Welt über einen hereinbricht.
Loslassen
Elternwerden ist ein Schritt ins Ungewisse. Immer. Trotz aller medizinischen Fortschritte bleibt eine Schwangerschaft ein unberechenbares Wunder. Modernste Methoden können zwar Krankheitsrisiken kalkulieren (→ siehe auch), aber sie vermögen nicht vorherzusagen, ob ein Kind gesund geboren wird oder nicht. Wie es durchs Leben kommt, ob es diese Welt besser macht oder nicht, ist von unzähligen Faktoren abhängig. Völlig unmöglich, sie vollständig im Griff zu haben als Mutter oder Vater. Sicher ist nur eins: Das Kind wird alles durcheinanderbringen – Gewohnheiten, die Wohnung, jegliche Planung, oft auch die Beziehung …
Man kann immer wieder beobachten, wie Eltern ihr eigenes Optimierungsbestreben auf die Kinder ausdehnen, noch bevor sie geboren sind. Alles muss genau nach Plan laufen. Doch so nachvollziehbar das ist – wir kennen es ja selbst –, man sollte sich da wirklich hinterfragen. Möglicherweise ist diese Art von Perfektionismus nämlich genau das Falsche. Auf welche Welt sollen Kinder denn damit vorbereitet werden? Das Leben ist nicht perfekt.
Am besten überlegt man von Anfang an: Was ist wirklich entscheidend, damit das Kind sich gesund entwickeln kann? Wo kann man getrost loslassen? Welche Dinge lässt man vielleicht sogar geschehen, damit das Kind daran wächst?
In unserer westlichen Welt müssen viele Menschen wieder neu lernen, dass Unsicherheit zum Leben dazugehört. Wenn es gelingt, Störungen als normal zu begreifen und damit umzugehen, wird nicht nur das Familienleben entspannter, man vermittelt Kindern auch eine ganz zentrale Zukunftskompetenz.
Die ersten 1000 Tage
Und – was hat dich so geprägt? Die Streifzüge durch den Wald mit Opa, die Trennung der Eltern, das Outing … Reden wir umgangssprachlich von Prägung, denken wir meistens an Menschen oder Ereignisse, denen wir einen bedeutenden Einfluss auf unseren Lebenslauf beimessen. Dass es neben dieser sozialen Prägung auch eine biologische Prägung gibt, die eine ungeheure Auswirkung auf unser ganzes Leben hat, fasziniert bisher eher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Das Forschungsfeld der Epigenetik ist noch jung, doch die Erkenntnisse zur frühkindlichen Prägung sind brisant. Man kann sie auf eine plakative Formel bringen: Die ersten 1000 Tage sind maßgebend für die Gesundheit und Entwicklung eines Kindes. Sie beginnen spätestens in dem Moment, in dem Samen- und Eizelle miteinander verschmelzen und enden mit dem zweiten Geburtstag. Das Leben, so könnte man sagen, geht also gleich zu Beginn im Mutterbauch schon in die entscheidende Phase.8
Doch was genau ist gemeint mit biologischer Prägung?
Zwei Einflussfaktoren bestimmen darüber, wie gesund ein Mensch durchs Leben geht: die Gene und die Umwelt. Beide kommen von Anfang an miteinander in Berührung. Auf der einen Seite sind da die Erbanlagen des Ungeborenen und auf der anderen Seite die Umwelteinflüsse, denen die Mutter ausgesetzt ist und die sich zum Teil auch auf das Kind übertragen.
Es mag überraschend klingen, doch es ist tatsächlich so: Die Umwelt verändert noch mal etwas an der Möglichkeit der Gene, aktiv zu werden – und zwar dauerhaft. Sie wirkt prägend.9
Genau genommen beginnt diese Prägung allerdings lange vor der Zeugung, denn die Eizelle trägt die werdende Mutter schon ihr ganzes Leben lang in sich. Auch die Spermien sind bereits geprägt durch die väterliche Gesundheit, wenngleich sie immer neu produziert werden. Es bleibt also eine gewisse zeitliche Unschärfe in dem griffigen 1000-Tage-Konzept.
Doch das macht nichts. Schließlich geht es vor allem darum zu verinnerlichen, um welch empfindliche Phase es sich handelt. Rund 80 Prozent der biologischen Prägung im Leben findet bis zum zweiten Geburtstag statt. Nie wieder wächst ein Kind so schnell wie in diesem Zeitraum. Das zunächst unorganisierte Gehirn bildet eine Vielzahl von Verbindungen und Synapsen aus. Und bei jedem dieser Schritte können prägende Ereignisse wirksam werden.
Aus dem Biologieunterricht dürfte bei den meisten hängen geblieben sein, dass das Erbgut aus der sogenannten DNA (auf Deutsch: Desoxyribonukleinsäure, DNS) besteht. Wer erinnert sich nicht an die Abbildung der in sich verdrehten Leiter,...
Erscheint lt. Verlag | 5.3.2024 |
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Zusatzinfo | Illustrationen |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Schlagworte | Abwehr • ADHS • Allergie • Ängste • Atemwegserkrankungen • Baby • Babyhaut • Babysitter • Bauchschmerzen • Chronische Erkrankung • Dyskalkulie • Einnässen • Elternratgeber • Elternschaft • Entwicklung • Ergotherapie • Ernährung • Erste Hilfe • Essstörungen • Fieber • Folsäure • Geburt • Geschenk Mütter • geschenk väter • Geschenk werdende Eltern • Geschenk werdende Mutter • Gesundheit • Gesundheitsratgeber Kind • Homöopathie • Impfung • Infekte • Kind • Kindergarten • Kinderheilkunde • Kinder Krankheiten • Kinderkrippe • Kindheit • Kindliche Sexualität • Kleinfamilie • Kleinkind • Komplikationen • Krabbeln • latenzphase • Legasthenie • Lernstörungen • LRS • Magen-Darm-Grippe • Medienkonsum • mentale Gesundheit • Mutter • Muttermilch • Naturheilkunde • Polypen • Pubertät • Ratgeber Kinderkrankheiten • Regulationsstörungen • Reisen mit Kind • Säugling • Schlafen • Schreien • Schulangst • Schule • Schwangerschaft • Töpfchen • Trotzphase • Übergewicht • Vater • Verdauung • Vorsorge • Wachstum |
ISBN-10 | 3-7558-1015-8 / 3755810158 |
ISBN-13 | 978-3-7558-1015-5 / 9783755810155 |
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