Hexen (eBook)
448 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3522-0 (ISBN)
In 13 Prozessen aus Geschichte und Gegenwart begegnet Marion Gibson Menschen vom Rand der Gesellschaft, meist Frauen, die als böse und gefährlich abgestempelt, als Hexen angeklagt, verurteilt und nicht selten getötet werden. Die Geschichte hat sie zum Schweigen gebracht, Marion Gibson gibt ihnen ihre Stimmen zurück. Sie erforscht die Überschneidungen von Geschlecht und Macht, indigener Spiritualität und kolonialer Herrschaft sowie politischer Verschwörung und individuellem Widerstand - und zeigt, wie in jeder Epoche und an jedem Ort Angst als Waffe gegen unliebsame Menschen eingesetzt werden kann. Ein unglaublich wichtiges Buch in Zeiten, in denen die Rechte von Frauen weltweit wieder auf der Kippe stehen.
»Marion Gibson gelingt etwas Wertvolles: Sie redet nicht über die Opfer, sie lässt sie lebendig werden, sie würdigt sie. Wie nebenbei und dennoch präzise entlarvt sie dabei die Motive der Verfolger. Nach der Lektüre wird man anders auf dieses Thema blicken. Zum ersten Mal vielleicht richtig.« Jarka Kubsova, Autorin Von »Marschlande«.
»Gibson untersucht, wie Hexenjagden seit Langem nicht nur mit Fragen von Geschlecht und Sexualität, sondern auch mit Klasse, Herkunft, Kolonialismus und Nationalismus verknüpft sind.« The Guardian
Marion Gibson ist Professorin für Renaissance und magische Literaturen an der Universität von Exeter, UK. Sie denkt über Hexen in der Geschichte nach, seit sie ein Buch über einen Hexenprozess las, das ihr an einem dunklen, regnerischen Nachmittag im November 1991 geliehen wurde. Sie war so begeistert von der Geschichte, dass sie vergaß, das Buch zurückzugeben. Heute ist sie Autorin von neun Büchern über Hexen in Geschichte und Literatur. Karin Schuler studierte Latein und Geschichte in Tübingen und Bonn. Sie übersetzt seit 1993 Bücher aus dem Englischen und Italienischen. Zu den von ihr übersetzten Autor:innen gehören Henry Kissinger, Philippa Perry und Janina Ramirez. Thomas Stauder studierte Germanistik, Anglistik und Romanistik in Erlangen, Canterbury und Siena. Er übersetzt aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Spanischen. Zu den von ihm übersetzten Autor:innen gehören Umberto Eco, Henry Kissinger und Esther Paniagua.
Eins
Der Prozess der Helena Scheuberin
Ein Dämonologe schwingt den Hexenhammer
Im österreichischen Innsbruck steht ein Haus mit goldenen Dachziegeln, die im alpinen Sonnenschein glänzen. Das Haus ist zum Hauptplatz der Stadt hin ausgerichtet, und sein »Goldenes Dachl«, wie es im Volksmund heißt, beschirmt einen Erker, von dem aus man den Markt überschaut. In den 1480er-Jahren gehörte das Haus – noch ohne goldenes Dach, das erst ein Jahr nach Sigismunds Tod angebracht wurde – Erzherzog Sigismund von Österreich und seiner Ehefrau Katharina, die in Innsbruck das Sagen hatten. Sigismund war eine Art Minikaiser, er zählte zu den reichsten katholischen Fürsten Europas. Von seinen Fenstern blickte er hinab auf Marktstände, die venezianisches Glas, Seidenstoffe und Gewürze aus China und Indonesien, Salz und Silberwaren aus den Alpen sowie deutsche Wurst und Weine verkauften. Innsbruck verdiente sein Geld – Kreuzer und später die Silbertaler – mit den deutschen und italienischen Handelsrouten, die sich in der Stadt kreuzten. Die modische Kleidung seiner Bürger:innen zeigte ebenso wie die vergoldeten Dachziegel, dass es der Stadt gut ging. Sigismunds Kaufleute, die den Reichtum hervorbrachten, wohnten um den Markt und die Brücke über den Inn herum, die der Stadt ihren Namen gegeben hatte. An Feiertagen fanden hier Feste, Umzüge und religiöse Schauspiele statt. Afrikanische Tänzer:innen und polnische Musikant:innen unterhielten die Menschenmassen. Am Platz standen auch die Gebäude, von denen aus Innsbruck regiert wurde, und eines Samstagmorgens, am 29. Oktober 1485, konnte man sehen, wie die Würdenträger im Rathaus zusammenkamen. Viele Priester in langen Talaren waren darunter, gegen die Herbstkälte in schwarze Wolle gehüllt. Schreiber huschten mit Büchern und Papieren umher. Das waren die Unterlagen für einen Hexenprozess.
Das Rathaus von Innsbruck bildete das Herz des Stadtlebens. Im Erdgeschoss befanden sich Läden, und über den Schreibstuben und Versammlungsräumen, in denen die Ratsherren tagten, erhob sich ein riesiger, 55 Meter hoher Turm. Von dort oben hatten Wachen das Stadtleben und das Land jenseits der Mauern im Auge. Sie hielten nach Feuern, Eindringlingen und Störenfrieden Ausschau, die sie festnehmen und in ein Gefängnis im Rathaus sperren konnten. In diesen Zellen warteten im Oktober 1485 sieben Frauen, die man der Hexerei beschuldigte, auf ihren Prozess: Helena Scheuberin, Barbara Selachin, Barbara Hüfeysen, Agnes Schneiderin, Barbara Pflieglin, Rosina Hochwartin und Rosinas Mutter, die ebenfalls Barbara hieß. Sie waren alle schon im Ratssaal befragt worden und saßen seit mehreren Wochen in Haft, um jetzt der Hexerei angeklagt zu werden. Den Prozess hatte ihr Richter, der Inquisitor Heinrich Kramer, geplant. Inquisitoren waren katholische Spitzenfunktionäre, die Häresien untersuchten – Glaubensüberzeugungen, die den Lehren der Kirche zuwiderliefen. Im späten 15. Jahrhundert hielten manche Kirchenmänner Hexerei für eine Häresie, deren Anhänger:innen den Teufel anbeteten. Zu diesen Denkern einer neuen Generation zählte auch Heinrich Kramer, einer der ersten Dämonologen. Er wollte nun einen Schauprozess führen, um die dämonologische Theorie in die Praxis umzusetzen.
Die Geschichte des Hexenprozesses, der Innsbruck 1485 erschütterte, beginnt mit Heinrichs Besessenheit von Hexen – und ganz allgemein davon, abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen.
Abb. 2: Häretiker:innen der »Vaudois«-Gruppe in den französischen Alpen, die in einem Manuskript aus dem fünfzehnten Jahrhundert als Hexen auf Besenstielen dargestellt werden. Ideen wie diese nährten Heinrich Kramers Interesse an den Verbindungen zwischen Ketzerei und Hexerei.
Er war um 1430 im elsässischen Schlettstadt zur Welt gekommen, zu einer Zeit, in der Reformer die Hierarchie der katholischen Kirche in der Region angriffen. Der junge Heinrich verfügte über den notwendigen Intellekt, um die Kirche zu verteidigen, und er wurde Mönch. Ein großer Schritt nach oben für jemanden, der aus einer Krämerfamilie stammte, und er stieg schnell in der Kirchenhierarchie auf. Ab 1474 war Heinrich ein Inquisitor, der alle möglichen Arten von Häresie untersuchte, doch es war die Hexerei, die ihn besonders faszinierte. In den 1480er-Jahren hatten die meisten Kirchenmänner noch sehr traditionelle Ansichten zum Thema: Sie hielten Hexen für Träumerinnen, die nichts bewirkten, für Pfuscherinnen, die Flüche und Amulette feilboten. Doch im Laufe des letzten halben Jahrhunderts war eine einflussreiche Minderheit, zu der auch Heinrich zählte, zu der Überzeugung gekommen, dass Hexen Teufelsanbeterinnen seien, die ihre Seelen Satan verkauft hätten, ihn anbeteten, Tiere und Menschen töteten und alles Böse vollbrachten, das man sich nur vorstellen konnte. Oder vielmehr, das Heinrich sich vorstellen konnte.1 Als zölibatär lebender Mönch wusste Heinrich herzlich wenig von den Frauen, die er verdächtigte. In seinen Augen waren sie geistlose, eitle Geschöpfe, verführerisch, unzuverlässig, besessen von Sex und Macht. Wie die Incel-Community unseres digitalen Zeitalters suchten manche mittelalterliche Kirchenmänner eine Möglichkeit, Frauen ihrer Sexualität wegen zu verurteilen, während sie gleichzeitig gerade davon unglaublich fasziniert waren. Heinrichs Brüten über dieses Thema überzeugte ihn schließlich davon, dass die Hexen, da der Teufel nun einmal männlich war, als Teil ihres satanischen Handels mit ihm schliefen. Zudem, so glaubte er, nutzten sie ihre Macht in Evas Nachfolge rein dazu, um Männer zu täuschen.
Abb. 3: »Die Hexe«: ein Stich von Albrecht Dürer aus dem frühen 16. Jahrhundert. Die dargestellte Frau reitet rücklings auf einer Ziege durch die Lüfte, um die unnatürlichen Fähigkeiten und die verdrehte Moral von Hexen auszudrücken.
Auf den ersten Blick wundert man sich, dass Kirchenmänner gerade zu solchen Überzeugungen kommen und sie verbreiten konnten, doch dieses neuen Denken, die Dämonologie, fand in gelehrten Kreisen Anklang.
Heinrich hatte seine persönliche dämonologische Theorie und Methode der Hexenjagd ein Jahr zuvor in Ravensburg, etwa 150 Kilometer westlich von Innsbruck, perfektioniert. Im Jahr 1484 war er mit einem Brief Erzherzog Sigismunds, der nicht nur über Innsbruck, sondern über einen großen Teil Österreichs sowie Teile Deutschlands, Ungarns und Italiens herrschte, in die Stadt gekommen. In Zusammenarbeit mit dem Stadtrat hatte Heinrich dann, wie es unglücklicherweise sein Recht war als österreichischer Inquisitor, Frauen unter der Folter befragt. In Ravensburg konzentrierte er sich auf zwei Angeklagte, Anna von Mindelheim und Agnes Baderin. Unter seiner hochnotpeinlichen Befragung gestanden beide Frauen alles, was Heinrich ihnen vorwarf. Sie bestätigten seine Theorien: Ja, sie hatten Pferde getötet, Stürme heraufbeschworen und den Teufel angebetet. Anna und Agnes bekannten auch, dass sie mit Teufeln verkehrt und sogar den Penis eines Mannes hatten verschwinden lassen. Warum? Weil Heinrich davon ausging, dass weibliche Hexen Männer hassten und sie kastrieren wollten. Es war eine lächerliche Hypothese, die nur in einer männerdominierten Gesellschaft entstehen konnte, doch so bizarr Heinrichs besondere Form des Dämonenglaubens auch war – Anna und Agnes wurden ihretwegen bei lebendigem Leib verbrannt.2
Im August 1485 kam Heinrich Kramer also in Innsbruck an. Nach den Hinrichtungen in Ravensburg hatte er seinen Erfolg bei der Hexenjagd an Erzherzog Sigismund gemeldet. Als Mann der Kirche war er theoretisch nicht Sigismunds weltlicher Herrschaft unterworfen, doch aus praktischen,...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Übersetzer | Karin Schuler, Thomas Stauder |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Witchcraft. A History in Thirteen Trials |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Mittelalter |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität | |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Mittelalter | |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Blutbuch • Empowerment • female empowerment • Femizid • Frauen in der Geschichte • Frauenrechte • Frauenverachtung • Geschichtsschreibung • Hexen • Hexenhammer • Hexenjagd • Hexenverfolgung • Hexerei • Inquisition • Jarka Kubsova • Katholische Kirche • Kim de l'Horizon • Kirche • Marschlande • Patriarchat • Salem • weibliche Geschichtsschreibung • Wicca • Witchcraft • witchhunt |
ISBN-10 | 3-8412-3522-0 / 3841235220 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3522-0 / 9783841235220 |
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