Von Wundern und Weltmeistern: Die 11 größten Spiele des deutschen Fußballs (eBook)
240 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3126-3 (ISBN)
NIKLAS BAUMGART, Jahrgang 1995, schreibt am liebsten über Fußball von vor seiner Geburt. 2014 startete er 'Baumgarts Fußballblog', der inzwischen knapp 10.000 Abonnenten zählt, seit 2017 schreibt der studierte Sportjournalist auch für den kicker. Vor allem über historische Spiele.
Niklas Baumgart, Jahrgang 1995, verfolgt die Welt des Fußballs seit dem Sommer 2002, schon damals auch intensiv die vor seiner Zeit. Aufgewachsen im württembergischen Reutlingen studierte er in Nürnberg Sportjournalismus und arbeitet seit 2017 beim kicker - seit 2022 als festangestellter Redakteur.
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DAS JAHRHUNDERTSPIEL
Italien gegen Deutschland,
WM-Halbfinale 1970
Der Name ist Programm. Als »Jahrhundertspiel« wurde das WM-Halbfinale 1970 zwischen Italien und Deutschland sogar mit einer Plakette am legendären Aztekenstadion verewigt. Auch wenn sich die Protagonisten nicht ganz einig sind, wie toll es wirklich war.
4:3 n. V.
Italien – Deutschland
17. Juni 1970 im Aztekenstadion, Mexiko-Stadt; Tore: 1:0 Boninsegna (8.), 1:1 Schnellinger (90.+2), 1:2 Müller (95.), 2:2 Burgnich (99.), 3:2 Riva (104.), 3:3 Müller (110.), 4:3 Rivera (111.)
Der längste Tag des Jahres ist nur noch vier Nächte entfernt, doch über Deutschland bricht bereits die Dunkelheit herein, als alle ihre Positionen einnehmen. Die 22 Spieler auf dem Rasen im imposanten Aztekenstadion in Mexiko-Stadt; die Daumendrücker in den heimischen Wohnzimmern, wo sich auch manch Schlafanzug tragender Nachwuchsfan auf die Fußballnacht des Jahres vorbereiten darf. Auf dem Sofa wird zusammengerückt, die Flimmerkisten flimmern – ein paar wenige sogar schon in Farbe.
Die WM 1970 findet in Mexiko statt, was für europäische TV-Zuschauer aber gar nicht so kompliziert ist. Damit sie sich, sieben Stunden zeitversetzt, noch zu halbwegs christlicher Uhrzeit vor ihren kleinen Kasten-Fernsehern versammeln können, müssen die Mannschaften einige ihrer Spiele in der erbarmungslosen mexikanischen Mittagshitze bestreiten. Die Nachfrage bestimmt das Angebot.
Um 12 Uhr Ortszeit war es auch für Deutschland ins Viertelfinale gegen Titelverteidiger England gegangen, der als sogar noch stärker galt als vier Jahre zuvor, als die Deutschen im WM-Finale auch dem berühmt-berüchtigten »Wembley-Tor« zum Opfer gefallen waren. In León, wo die Sonne zu dieser Tageszeit keine Schatten warf, führte der Weltmeister schon mit 2:0.
Doch ein Solo von Franz Beckenbauer, der Hinterkopf des Uwe Seeler und der unwiderstehlich eingesprungene Gerd Müller drehten die Partie, in der die Engländer ihren Strategen Bobby Charlton vorzeitig ausgewechselt hatten, in der Verlängerung. So kann man sich mal zum Mitfavoriten mausern. Im Schatten von überragenden Brasilianern natürlich. Vielleicht der einzige Schatten bei dieser WM.
Im Halbfinale also Italien. Noch nicht der große Angstgegner späterer Jahre, auch wenn das DFB-Team von den bis dato vier gemeinsamen Länderspielen in der Nachkriegszeit keines gewinnen konnte. Sehr wohl aber der amtierende Europameister mit Namen, die Deutschlands Wolfgang Overath beinahe den Mund offen stehen ließen.
»Riva, Mazzola, Boninsegna, Rivera, … boah, war das eine Mannschaft«, schwärmt noch Jahrzehnte später der Mann, der 1970 in Mexiko zum besten Mittelfeldspieler des Turniers gewählt werden sollte. Und um den sich bekanntlich ähnlich eindrucksvolle Namen scharten. In der Rückschau. Denn die Italiener hatten ihren Titel zu diesem Zeitpunkt schon gewonnen – Beckenbauer, Müller oder Overath noch nicht.
Fußball-Deutschland hatte soeben die siebte Saison seiner Bundesliga verabschiedet, die 1962 Hals über Kopf in erster Linie deshalb gegründet worden war, weil der Weltmeister von 1954 international den Anschluss zu verlieren drohte. 1958 in Schweden war es als Titelverteidiger zumindest noch bis ins Halbfinale gegangen, wo die gealterten »Helden von Bern« höchst unglücklich dem Gastgeber unterlagen. Das konnte passieren. Doch 1962 in Chile wurden der Mannschaft von Bundestrainer Sepp Herberger schon von Viertelfinal-Gegner Jugoslawien krachend die Grenzen aufgezeigt. Grenzen, die man durch die Einführung einer Profi-Liga, wie es sie in anderen Nationen teilweise schon lange gab, zügig einreißen wollte.
Der Erfolg lag bald auf der Hand. Schon 1965 hatte Deutschland mit dem TSV 1860 München den ersten Europapokal-Finalisten vorzuweisen. 1966 gewann dann Borussia Dortmund als erster Bundesligist einen solchen Pott – den Europapokal der Pokalsieger gegen den FC Liverpool –, und Wochen später erreichte die inzwischen von Herberger-Assistent Helmut Schön trainierte Nationalmannschaft bei der WM in England das Finale. Sie wurde Zweiter.
Vier Jahre später in Mexiko, große Talente wie Beckenbauer und Overath waren nun gestandene Führungsspieler, trug die Schön-Elf mit dem vielleicht offensivsten WM-Fußball einer deutschen Mannschaft zu einem Weltturnier bei, das durch seine großen Namen und noch größeren Spiele in vielen Augen das bisher herausragende bleibt. »Als Spieler war das meine schönste WM«, ist sich DFB-Torhüter Sepp Maier nach kurzem Überlegen sicher. Und er ist 1974 immerhin Weltmeister im eigenen Land geworden.
Die Aufholjagd gegen England hatte 1970 zweierlei bewirkt: einerseits große Euphorie, andererseits großen Kräfteverschleiß. Das eine half, das andere schadete gegen Italiener, die sich in der Gruppenphase keineswegs mit Ruhm bekleckert, die im Viertelfinale gegen Gastgeber Mexiko (4:1) aber rechtzeitig zu alter Form gefunden hatten.
»Riva und Rivera spielten groß auf«, vermeldete der kicker chronistenpflichtig, was in Deutschland keinem schmecken konnte. Denn Luigi »Gigi« Riva vom italienischen Meister Cagliari verfügte mit seiner linken Klebe über den wahrscheinlich gefährlichsten Schuss Europas. Und Gianni Rivera, eleganter Spielmacher der AC Mailand, hatte erst im Vorjahr den Europapokal der Landesmeister und deshalb auch den prestigeträchtigen Ballon d’Or gewonnen.
Doch Deutschland konnte aufatmen. Als der peruanische Schiedsrichter Arturo Yamasaki das WM-Halbfinale anpfiff, das als »Jahrhundertspiel« in die Fußballgeschichte eingehen sollte, stand Rivera gar nicht auf dem Platz.
Der italienische Nationaltrainer Ferruccio Valcareggi war der Überzeugung, dass Rivera und Sandro Mazzola, der Spielgestalter von Milans Stadtrivale Inter, einfach nicht zusammenspielen konnten. Oder sollten. So entschied er sich in Mexiko tatsächlich dazu, zunächst den körperlich stärkeren Mazzola einzusetzen, den er nach der Halbzeit meistens für Rivera austauschte, dessen etwas gemächlicheres Spieltempo besser passte, wenn alle anderen Spieler schon einige Minuten in den Knochen hatten. Das war auch der Plan gegen die Deutschen, die im brütend heißen León gegen England lange Zeit einem Rückstand hinterhergelaufen waren.
Ob Rivera nun spielte oder nicht – in Overaths Augen machte das kaum einen Unterschied. »Die Italiener konnten auf solche tollen Leute verzichten und hatten trotzdem noch eine überragende Mannschaft«, resümiert nüchtern ein Platzhirsch, der 1970 selbst Teil eines personellen Luxusproblems war, das eine ungewöhnliche Lösung erforderte.
Der Kölner Mittelfeldlenker hatte mit Günter Netzer, dem Zehner von Borussia Mönchengladbach, einen ziemlich ebenbürtigen Rivalen um eine Position, die es eben nur einmal gab. Bundestrainer Schön hatte immer mal wieder versucht, die beiden ballfordernden Rasengeneräle auch gemeinsam aufzubieten, was jedoch überhaupt nicht funktionierte. Im Dezember 1967 hatte diese Konstellation in der EM-Qualifikation in Albanien (0:0) für die »Schmach von Tirana« und das Verpassen des damals nur von vier Mannschaften ausgespielten Endturniers gesorgt. Overath und Netzer standen sich auf den Füßen. Es konnte nur einen geben.
In Mexiko gab es dann auch nur einen. Schön hatte das zweifelhafte Glück, dass sich Netzer, der mit Gladbach soeben erstmals Meister geworden war, kurz vor dem Turnier verletzt hatte. Neben Overath im faktischen Zwei-Mann-Mittelfeld spielte wie schon 1966 Beckenbauer, der sich mit seinem Nebenmann besser ergänzte als Netzer.
»Franz hat mehr von hinten raus gespielt«, unterscheidet der horizontaler agierende Overath sich selbst vom nach vorne stoßenden »Kaiser«, der das deutsche Spiel nur noch angriffslustiger machte. Den Libero in Schöns Abwehr gab dagegen Karl-Heinz Schnellinger – ein Verteidiger, der sich nur in Ausnahmefällen nach vorne einschaltete. Der Legionär der großen AC Mailand musste hinter durchaus offensiv denkenden Manndeckern wie Berti Vogts und Bernd Patzke aufräumen. Und hinter allen anderen.
Denn in der Zentrale hatten Overath und Beckenbauer den Blick auch eher nach vorne gerichtet, auf den Außenbahnen stürmten Jürgen Grabowski und Hannes Löhr, vorne drin Müller und etwas dahinter Uwe Seeler. Ob 4-2-4 oder 4-2-3-1 – offensiver war Deutschland seither wohl bei keiner WM aufgestellt.
Die Italiener, mit den unerwarteten vier Toren gegen Mexiko im Gepäck, lassen sich im Halbfinale von dieser Herangehensweise anstecken: Beide Teams suchen von Beginn an den Weg nach vorne. Durch ihr Passspiel. In diesem Klima, das man von den Spielbedingungen laut Overath mit der WM 1974 in Deutschland überhaupt nicht vergleichen konnte, muss man mehr den Ball als die eigenen Mitspieler laufen lassen. Wenigstens wird die Vorschlussrunde erst um 16 Uhr Ortszeit angepfiffen, was für die Protagonisten im Vergleich zu den Mittagsspielen deutlich angenehmer ist.
Sieben Stunden zeitversetzt nehmen die aufgebliebenen deutschen Anhänger amüsiert zur Kenntnis, wie Vogts – ohne, dass es nötig gewesen wäre – gleich ein...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Sachbuch/Ratgeber ► Sport | |
Schlagworte | Beckenbauer • Deutscher Fußball • dortmund bvb • FC Bayern • Fußballgeschichte • Fußballhistorie • Gerd Müller • Günther Netzer • Helmut Schön • Hrubesch • HSV • Jupp Derwall • Nationalmannschaft • Schalke |
ISBN-10 | 3-8437-3126-8 / 3843731268 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3126-3 / 9783843731263 |
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Größe: 7,3 MB
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