Der Fluch der Muskatnuss (eBook)

Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
334 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-2012-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fluch der Muskatnuss -  Amitav Ghosh
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Auf einer indonesischen Insel fällt eine Öllampe zu Boden, kurz danach begehen niederländische Soldaten ein Massaker an den Inselbewohnern. Wie hängen diese beiden Geschehnisse zusammen und was geschah danach? Mit dieser Frage beginnt Amitav Ghosh seine Recherche auf den Spuren der Muskatnuss. Heute alltägliches Gewürz, galt sie im 17. Jahrhundert als Luxusgut - allein eine Handvoll davon reichte aus, um einen Palast zu erbauen -, denn die seltene Frucht wuchs nur auf jener Insel, die niederländische Truppen vornehmlich deshalb in Besitz nahmen, um das Handelsmonopol für die Niederländische Ostindien-Kompanie zu sichern. Während Amitav Ghosh die Reise der Muskatnuss nachzeichnet, veranschaulicht er eindrucksvoll die Mechanismen von Kolonialismus und Ausbeutung der Einheimischen sowie der Natur durch westliche Länder. Mitreißend stellt er dabei die Verbindung geschichtlicher Entwicklungen mit aktuellen Realitäten her, verkettet niederländische Stillleben und die Nomenklatur nach Linné mit der Black-Lives-Matter-Bewegung, der Covid-Pandemie und der Standing Rock Sioux Reservation, um zu zeigen, dass der heutige Klimawandel in einer jahrhundertealten geopolitischen Ordnung verwurzelt ist, die vom westlichen Kolonialismus und seiner mechanistischen Weltsicht - die Erde als bloßem Ressourcenlieferant für die Menschheit - geschaffen wurde.

Amitav Ghosh, 1956 in Kolkata geboren, lebt heute als Autor und Essayist in New York. Seine Romane wurden in über dreißig Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet, unter anderem gewann Der Glaspalast 2001 den Frankfurt eBook Award und Das mohnrote Meer stand 2008 auf der Shortlist für den Man Booker Prize, 2018 war er der erste Autor, der mit einem englischsprachigen Werk mit dem höchsten indischen Literaturpreis, dem Jnanpith Award, ausgezeichnet wurde. Der Fluch der Muskatnuss ist sein zweites Sachbuch, in dem er die Klimakrise thematisiert.

Amitav Ghosh, 1956 in Kalkutta geboren, lebt heute als Autor und Essayist in New York. Seine Romane wurden in über dreißig Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet, unter anderen gewann der Glaspalast 2001 den Frankfurt eBook Award und Das mohnrote Meer stand 2008 auf der Shortlist für den Man Booker Prize, 2018 war er der erste englischsprachige Autor, der mit dem höchsten indischen Literaturpreis Preis, dem Jnanpith Award, ausgezeichnet wurde. Der Fluch der Muskatnuss ist sein zweites Sachbuch, in dem er die Klimakrise thematisiert. Sigrid Ruschmeier arbeitet seit den 90ern nach einer Tätigkeit im Verlag als literarische Übersetzerin in Berlin. Sie hat Germanistik und Politikwissenschaft studiert und unter anderem Werke von Elizabeth Bowen, Sybille Bedford, Grace Paley, Salman Rushdie und Marianne Faithfull ins Deutsche übertragen.

1


Eine Lampe fällt um


Bis heute weiß niemand genau, was in jener Aprilnacht im Jahre 1621 in Selamon geschah. Man weiß nur, dass in dem Gebäude, in dem der niederländische Kolonialbeamte Martijn Sonck einquartiert war, eine Lampe zu Boden fiel.

Selamon ist ein Dorf auf der größten der Banda-Inseln, einer winzigen Inselgruppe am äußeren südöstlichen Ende des Indischen Ozeans.1 Genauer, am nördlichen Ende Lonthors, manchmal auch als Groß Banda (Banda Besar) bezeichnet, weil sie die größte der Gruppe ist.2 Der Beiname ›Groß‹ ist ein bisschen übertrieben für ein Eiland, das nur gut vier Kilometer lang und etwa achthundert Meter breit ist. Doch innerhalb eines Archipels mit Mini-Inseln, die auf den meisten Karten nur als ein paar verstreute Pünktchen eingezeichnet sind, ist es auch gar nicht so klein.3

Und da sitzt nun Martijn Sonck am 21. April 1621, den halben Globus von seinem Heimatland entfernt, in Selamons bale-bale, der Versammlungshalle des Dorfes, die er als Quartier für sich und seine Berater beschlagnahmt hat.4 Er hat auch die altehrwürdigste Moschee der Siedlung besetzt, »ein wunderschönes Gebäude« aus weißem Stein, innen luftig und sauber, zwei große Gefäße mit Wasser am Eingang, damit sich die Gläubigen vor dem Eintreten die Füße waschen können. Die Dorfältesten sehen die Inbesitznahme ihrer Moschee alles andere als gern, doch Sonck hat ihre Unmutsbekundungen barsch abgetan – sie hätten jede Menge andere Orte, an denen sie ihre Religion ausüben könnten.

Das ist typisch für alles, was Sonck in der kurzen Zeit seit seiner Ankunft auf der Insel Lonthor veranstaltet hat. Er requiriert die besten Häuser für seine Truppen und sendet Soldaten in die Dörfer aus, die die Leute dort in Angst und Schrecken versetzen. Doch das ist nur ein Vorspiel, sozusagen die Vorarbeit für das, was er eigentlich vorhat. Sein Auftrag lautet nämlich, das Dorf zu zerstören und alle Bewohner von der idyllischen Insel mit ihren üppigen grünen Wäldern und dem glitzernden blauen Meer zu vertreiben.

Dieser Plan ist so brutal, dass die Dorfbewohner ihn vielleicht noch nicht in seiner ganzen Tragweite begriffen haben. Sonck selbst macht allerdings kein Hehl aus seinen Absichten. Im Gegenteil, er hat den Dorfältesten unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ihre unbedingte Kooperation bei der Zerstörung ihrer Siedlung und der Vertreibung ihrer Landsleute erwartet.

Sonck ist auch nicht der erste niederländische Kolonialbeamte, der Selamon diese Ansage macht. Die Dorfbewohner samt den anderen Inselbewohnern ertragen schon seit Wochen stets von den gleichen Forderungen begleitete Drohungen und Machtdemonstrationen. Sie sollen die Mauern um ihr Dorf niederreißen, ihre Waffen und Werkzeuge – sogar die Ruder ihrer Boote – abgeben und Vorkehrungen für den bevorstehenden Wegzug von der Insel treffen. Diese Forderungen sind so radikal, so haarsträubend, dass sich die derart Bedrängten sicherlich gefragt haben, ob die Niederländer noch recht bei Trost seien. Doch Sonck hat keine Mühe gescheut, ihnen klarzumachen, dass er es ernst meint: Sein Vorgesetzter, kein Geringerer als der Generalgouverneur höchstpersönlich, sei mit seiner Geduld am Ende. Die Menschen in Selamon müssten seine Befehle bis ins kleinste Detail befolgen.

Wie muss es sich anfühlen, vor jemandem zu stehen, der einem unmissverständlich zeigt, dass er die Macht hat und fest dazu entschlossen ist, die Welt, in der man lebt, zu zerstören?

Seit Jahrzehnten schon wehren sich die Bewohner Selamons und ihre bandanesischen Landsleute nach Kräften gegen die Niederländer und haben sie manchmal sogar vertrieben. Aber mit einer Truppe, die so groß und gut bewaffnet ist wie die von Sonck, haben sie es noch nie zu tun gehabt. Zahlenmäßig unterlegen, versuchen sie, soweit es geht, Sonck Zugeständnisse zu machen: Während manche Dorfbewohner in die umliegenden Wälder geflüchtet sind, bleiben auch recht viele vor Ort, vielleicht in der Hoffnung, dass das Ganze ein Irrtum sei und die Niederländer abzögen, wenn sie, die Bandanesen, nur durchhielten.

Die Dagebliebenen, darunter viele Frauen und Kinder, achten darauf, den Niederländern keinerlei Vorwand zur Gewaltanwendung zu geben. Aber Sonck hat einen Auftrag zu erfüllen, wofür er denkbar schlecht geeignet ist – er ist Steuerbeamter, kein Soldat –, und vermutlich plagt ihn das Gefühl, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. In der Gefügigkeit der Dorfbewohner wittert er aufkeimende Wut und wünscht sich womöglich, dass sie ihm einen Grund liefern – irgendeinen –, seine Befehle vollständig auszuführen.

So steht es auch am Abend des 21. April, als er sich mit seinen Beratern in das requirierte Versammlungshaus in Selamon zurückzieht, um seine Gemütsverfassung nicht zum Besten. Es liegt eine solche Spannung in der Luft, dass die Stille wie der Vorbote eines Erdbebens scheint.

Die Atmosphäre ist so geladen, dass jemand in Soncks Seelenzustand das Herunterfallen eines Gegenstandes wahrscheinlich nicht als normales Missgeschick erlebt, sondern als böses Omen. Da muss sich doch ein finsteres Vorhaben ankündigen. Als die Lampe also umkippt, denkt Sonck sofort, das sei das Signal für einen Überraschungsangriff auf ihn und seine Soldaten. Er und seine in Panik versetzten Berater schnappen sich ihre Waffen und beginnen willkürlich um sich zu schießen.

Die Nacht ist dunkel, »so dunkel wie nur eine mondlose Nacht in Ostindien sein kann«, und wenn man die Hand nicht vor Augen sieht, fällt es leicht, sich einzubilden, eine gespenstische Armee schleiche sich heran. Sonck und seine Berater feuern Salve um Salve auf ihren unsichtbaren Feind ab, selbst zur Verblüffung ihrer eigenen Wachen, die keinerlei Anzeichen eines Angriffs bemerkt haben.

Die Banda-Inseln liegen auf einer der Bruchlinien, an denen die Erde spürbar lebt. Die Inseln und ihr Vulkan verdanken ihre Existenz dem Pazifischen Feuerring, der von Chile im Osten bis zum Rand des Indischen Ozeans im Westen verläuft. Der noch immer aktive Vulkan Gunung Api (»Feuerberg«) mit seinem beständig in wirbelnde Wolkenschwaden und hochwabernden Dampf gehüllten Gipfel erhebt sich hoch über den Bandas.

Er ist einer von vielen Vulkanen in diesem Teil des Ozeans; die ihn umgebenden Gewässer sind von wunderschön geformten, majestätisch aus den Wellen aufragenden kegelförmigen Bergen übersät, manche bis zu tausend Meter hoch und höher. Ja, die Namen selbst der Region, Maluku, und der Inseln, Molukken, leiten sich angeblich von dem Wort Molòko her, das Berg oder Berginsel bedeutet.5

Die Inselberge von Maluku brechen oft mit verheerender Kraft aus und bringen den Menschen in ihrer Umgebung Tod und Verderben. Aber die Ausbrüche haben auch etwas Magisches, Geburtswehen Ähnliches, und sie schleudern Mischungen von chemischen Substanzen heraus, die mit den Winden und dem Wetter in der Region zusammenwirken und Wälder erschaffen, die nur so strotzen vor Wundern und seltenen Dingen.

Der Gunung Api hat den Banda-Inseln eine Pflanzenart geschenkt, die auf dem winzigen Archipel wächst und gedeiht wie nirgendwo sonst, einen Baum, auf dem sowohl die Muskatnuss als auch die Muskatblüte wachsen.

Dabei sind er und seine Sprösslinge von ganz unterschiedlichem Temperament. Bis zum achtzehnten Jahrhundert war er sehr heimatverbunden und begab sich aus seinem heimischen Maluku nicht hinaus, während die Muskatnüsse und die Muskatblüte unermüdlich reisten. Ihre weiten Wege kann man leicht auf einer Karte nachvollziehen, weil jede einzelne Muskatnuss und jedes Fetzchen Muskatblüte von den Banda-Inseln und Umgebung kamen. Mit der Folge, dass natürlich, wo immer vor dem achtzehnten Jahrhundert in einem Text von der Muskatnuss die Rede ist, automatisch die Verbindung zu den Banda-Inseln hergestellt wird. In chinesische Texte findet die Muskatnuss schon ein Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung Eingang, in lateinische hundert Jahre später.6 Doch vermutlich gab es sie in Europa und China schon lange, bevor sie in schriftlichen Aufzeichnungen auftauchte. Ganz bestimmt in Indien, wo man eine verkohlte Muskatnuss in einer archäologischen Grabungsstätte fand, die auf die Zeit von vierhundert bis dreihundert vor unserer Zeitrechnung zurückverweist. Die erste einigermaßen zuverlässig zu datierende Erwähnung (der Muskatblüte) in einem Schriftstück folgte zwei oder drei Jahrhunderte später.7

Eines also steht fest: Längst bevor die ersten Europäer Maluku erreichten, sind Muskatnüsse schon Tausende von Kilometern über die Weltmeere gereist.8 Und europäische Seefahrer kamen wiederum nach Maluku, weil pflanzliche Produkte wie die Muskatnuss lange vor ihnen in die entgegengesetzte Richtung gesegelt waren.9

Mit diesen Reisen der...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2023
Übersetzer Sigrid Ruschmeier
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Banda-Inseln • Black lives matter • Covid-19 • Globalisierung • Handelsrouten • Imperialismus • Indien • Indigene Völker • Indonesien • Klimakrise • Kolonialismus • Muskatnuss • Postkolonialismus
ISBN-10 3-7518-2012-4 / 3751820124
ISBN-13 978-3-7518-2012-7 / 9783751820127
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