Die Spurenleserin (eBook)
320 Seiten
Knesebeck Verlag
978-3-95728-799-1 (ISBN)
Professor Patricia Wiltshire ist Biologin und Forensikerin und hat an über 250 Kriminalfällen im Vereinigten Königreich gearbeitet, darunter einige der bekanntesten Fälle der letzten 25 Jahre. Sie lebt mit ihrem Mann David und ihrer Katze Maudie in Surrey, Großbritannien.
Professor Patricia Wiltshire ist Biologin und Forensikerin und hat an über 250 Kriminalfällen im Vereinigten Königreich gearbeitet, darunter einige der bekanntesten Fälle der letzten 25 Jahre. Sie lebt mit ihrem Mann David und ihrer Katze Maudie in Surrey, Großbritannien.
2 Suchen und finden
Es war einmal eine junge Frau, die von der Bildfläche verschwand. Die Welt, in der wir leben, kennt zu viele Geschichten, die so beginnen, aber eine ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Joanne Nelson verschwand am Valentinstag 2005. Nach allem, was man hörte, war sie aufgeweckt und lebhaft. Sie wohnte in Hull, East Yorkshire, und träumte davon, die Welt zu bereisen. Sie hatte rotblondes Haar, das zu einem Bob geschnitten war und fast bis an die Augen reichte. Ihre Kollegen im örtlichen Jobcenter hatten keine Ahnung, wo sie abgeblieben sein konnte. Soweit ihre Eltern wussten, wurde sie von ihrem Freund vergöttert.
Von alledem wusste ich natürlich nichts. Ich hörte zum ersten Mal vom Valentine Girl, als es schon elf Tage vermisst war und die Polizei mich anrief. Sie baten mich, bei der Suche nach Joanne zu helfen.
So beginnt es für mich oft: mit dem unerwarteten Anruf, der mich aus dem Bett reißt und hinaus auf die Autobahn, an irgendeine Stelle, wo die Polizei an einem Tatort wartet. Manchmal stehe ich bei Morgengrauen schon an einem Entwässerungsgraben oder einem einsamen Autobahnparkplatz, schaue mir eine Leiche an und nehme Proben von den sterblichen Überresten. Wenn der Anruf eingeht, kann ich aber genauso gut in meinem häuslichen Arbeitszimmer sitzen, umgeben von Büchern, Fachaufsätzen, Zeitungen und Referenzmaterialien, mit meiner Katze auf dem Schoß und meinen Mikroskopen im Nachbarraum, bereit zum Handeln. Ein andermal bin ich vielleicht gerade im Labor oder lausche auf einer wissenschaftlichen Konferenz einem Vortrag. Dann folgen die vertrauten Fragen rasch aufeinander: »Können Sie uns helfen? Was können Sie uns dazu sagen, Pat? Was können Sie aufzeigen?« Die Polizei versteht oft nur zum Teil, was ich tun kann und welche Fähigkeiten ich mitbringen muss, um die von der Natur zurückgelassenen Spuren aufzufangen und ein Szenario der Möglichkeiten zu schaffen – mit all jenen »so könnte es gewesen sein« und »vermutlich war es so und so«.
Diesmal wusste die Polizei nur eines mit Gewissheit: dass Joanne Nelson tot war. Sie war bereits vor elf Tagen gestorben, erwürgt von ihrem Liebhaber. Ihr Mörder dachte, er wäre schlau und raffiniert genug gewesen, um die Welt zum Narren zu halten. Er erschien vor der Kamera und flehte inständig, seine Freundin möge doch bitte zurückkehren. Er gab den Zeitungen Interviews und stand in Tränen aufgelöst neben Joannes nichs ahnenden Eltern. Aber er beweinte damit seine eigene Zwangslage und nicht Joannes Schicksal.
Mörder können eitel und überheblich sein; oftmals kehren sie an die Stätte ihrer Mordtat zurück. Für viele Außenstehende ist das ein Zeichen von Bösartigkeit: Es treibe den Verbrecher zurück an den Tatort, weil er sich dort noch einmal an seiner Tat weiden möchte. Aber vielleicht geht er auch nur hin, um zu überprüfen, dass er keine handwerklichen Fehler gemacht hat, oder es zieht ihn zwanghaft zu dem zurück, was er getan hat. Joannes Mörder allerdings brauchte kein zweites Mal an den Tatort zu fahren, denn es war in seiner eigenen Wohnung geschehen. Er hatte sie in der Küche ihres gemeinsam bewohnten Hauses erwürgt. Nachdem sie ihm mit lästigen Haushaltspflichten auf den Geist gegangen war, hatte er sie dort mühelos überwältigt. Es hatte ihm einfach gereicht; die Wut war in ihm angeschwollen, und er hatte die Beherrschung verloren. Wenn ein Verbrechen zu Hause passiert, sind die Zugangsmöglichkeiten für einen forensischen Ermittler oftmals begrenzt. Wohnungen sind voll von unseren Fingerabdrücken und unserer DNA, und die Oberflächen darin sind bedeckt von Fasern aus unseren Kleidungsstücken. Joannes Haus war durchkämmt worden, und man hatte nicht viel gefunden, aber zum Glück war die Wahrheit bereits ans Tageslicht gekommen.
Eine Zeitlang war es Joannes Freund gelungen, die Fassade der Unschuld aufrechtzuerhalten. Er erzählte aller Welt, Joanne habe ihn verlassen. Er bat sie flehentlich, ins gemeinsame Zuhause zurückzukehren. Aber das Geheimnis war zu schrecklich, als dass er es für sich hätte behalten können, und als er sich einem Freund anvertraute und dieser Freund es wiederum seiner Mutter erzählte, kam die Wahrheit heraus. Paul Dyson gestand den Mord, für den er die Täterschaft zuvor abgestritten hatte. Die Polizei hatte ihren Mann, und doch gab es ein Problem: Die Leiche fehlte.
Dyson konnte ein Auto lenken, aber den Führerschein hatte er nie gemacht. Die Straßen von Hull kannte er nur so ungefähr, und überhaupt sah dort eine Straße so ziemlich wie die andere aus. In der Nacht, in der er Joanne ermordete, rollte er ihre Leiche in eine Plastikplane ein und schaffte sie mit dem Auto so weit wie möglich fort von seinem vertrauten Territorium. Verstohlen bahnte er sich einen Weg durch die Nacht, über unbekannte schmale Landstraßen, bis er eine einsame Stelle fand, an der er Joanne vergraben konnte. Jetzt, mehr als eine Woche danach, hatte er nur noch vage Erinnerungen an diesen Ort. Es hätte an allen möglichen Ecken der Grafschaft Yorkshire sein können – überall dort, wo er mit weniger als einer halben Tankfüllung hingekommen sein konnte. Das Gebiet, das ich in Betracht ziehen musste, war sehr weiträumig.
»Was können Sie für uns tun, Pat?«, fragte mich der Polizist. Und meine Antwort fiel so aus wie immer: »Nun ja, was genau wollen Sie wissen, und welche Beweisstücke können Sie mir vorlegen, damit ich versuchen kann, Ihnen Antworten zu liefern?«
Meine Arbeit beginnt oft mit Dingen, die Ihnen vielleicht banal vorkommen, und so war es auch hier: Die Polizei stellte mir die Jeans des Mörders zur Verfügung, dazu ein Paar Sportschuhe von Nike und ein anderes von Reebok sowie eine Grabegabel, die man im Haus seiner Eltern gefunden hatte. Paul Dyson hatte Joannes Leiche in ihrem eigenen Vauxhall Estate fortgeschafft, was bedeutete, dass Beweismittel in Gestalt von Pollenkörnern, Sporen oder anderen winzigen Palynomorphen aus dem Fahrzeug geborgen werden konnten. Ich erbat mir die Fußmatten vom Fahrer- und Beifahrersitz, die beiden Pedalgummis, die Matte vom Kofferraum und den Frontspoiler von der Karosserie. Solche Stücke sind mein Kapital – die Schuhe, die jemand anhatte, als er den toten Körper seiner oder seines Geliebten fortschleppte, um ihn irgendwo zu vergraben; das Material, in das eine noch warme Leiche eingehüllt wurde; Hose und Jacke des Täters. All dies ist von den Tatortermittlern vorschriftsgemäß eingesammelt, erfasst, verzeichnet und in Asservatenbeuteln versiegelt worden.
»Was können Sie aus solchen Dingen ablesen?«, fragen Sie jetzt vielleicht, und auch viele Polizisten fragen sich das noch immer. Einerseits ist die Antwort ganz einfach: Edmond Locard (1877–1966), der französische Kriminologe und Pionier der forensischen Wissenschaften, wird mit dem Grundsatz »jeder Kontakt hinterlässt eine Spur« in Verbindung gebracht. Er ist als »Locard’sche Regel« in die forensische Lehre eingegangen. Als Arthur Conan Doyle den Kriminologen einmal in Lyon besuchte, war er sehr beeindruckt. Locard postulierte Folgendes: Jedes Mal, wenn ein Verbrecher einen Tatort betritt, bringt er etwas mit, das er dort zurücklässt, und nimmt auch etwas vom Tatort mit fort. Beides kann als, wie wir es nennen, »Spurenmaterial« verwendet werden, egal ob es sich um DNA, Fingerabdrücke, Haare oder Fasern handelt – oder um die Pollen und Sporen, um die sich meine eigene Arbeit dreht. Diese Dinge helfen uns, eine Beziehung zwischen Menschen, Dingen und Orten herzustellen, und gelegentlich liefern sie einen Kontext für die Tatzeit.
Doch andererseits zeigt ein Fall wie der von Joanne Nelson sehr gut, wie sich die Arbeit des biologischen Forensikers von anderen forensischen Tätigkeiten unterscheidet, etwa von der DNA-Analyse. Natürlich versuche ich, aus den Beweisstücken, die man mir zur Verfügung gestellt hat, Spurenmaterial zu gewinnen, aber das ist nur die Vorstufe zum Eigentlichen, denn in Wahrheit suche ich ein Bild. Das Bild eines Ortes, der halb imaginär ist und halb real. Ich nehme so viele Informationen wie möglich auf und male mir damit das geistige Bild eines Ortes, den ich nie besucht habe und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nie besuchen werde. Ich nenne dieses Bild den »Schnappschuss von der Örtlichkeit« – ein Konstrukt der Einbildungskraft, dem aber dort draußen in der Wirklichkeit etwas entspricht. Diese Abbildung repräsentiert etwas Wirkliches, einen Ort, den ich ins Leben rufen kann, indem ich die Pollen, Sporen und anderen mikroskopisch kleinen Dinge, die ich aus den Beweisstücken gewinne, sorgfältig untersuche. Es ist der Ort, den ich auf der Innenseite meiner Augenlider sehen kann, sobald ich die Augen schließe. Manche Teile des Bildes sind gestochen scharf, andere sind verschwommen und gleiten hin und her wie Amöben, wenn sich beim Mikroskopieren neue Informationen ansammeln. Der Ort, an dem jemand seine Geliebte verscharrt hat; der Ort, an dem das Opfer nach eigenen Angaben zu Boden gedrückt und vergewaltigt wurde, während der Tatverdächtige behauptet, nie dort gewesen zu sein. Es ist der Ort, an dem sich vielsagende Indizien an den Täter geheftet haben – Spuren, die ihn...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2023 |
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Übersetzer | Ralf Pannowitsch, Christiane Wagler |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Cold Cases • CSI • Echte Verbrechen • Ermittlung • Fitzek • Forensik • Gerichtsmedizin • Krimi • Kriminalbiologen • Kriminalfälle • Kriminalgeschichte • Kriminalistik • Kriminalität • Kriminalroman • Kriminologie • Leiche • Mark Benecke • Mord • Mord auf Ex • Morde aufklären • Mordfall • Mordlust • Pathologie • Rechtsmedizin • Rechtsmediziner • Spuren • Spurensuche • Straftaten • Täter • Tatort • Thriller • Todesursache • True Crime • true crime buch • Tsokos • verbrechen aufklären • wahre Fälle • Wahre Kriminalfälle • Wahre Verbrechen • Weird Crimes • ZEIT Verbrechen |
ISBN-10 | 3-95728-799-5 / 3957287995 |
ISBN-13 | 978-3-95728-799-1 / 9783957287991 |
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