Hyperpolitik (eBook)
136 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77684-1 (ISBN)
Die Ära der Postpolitik ist vorbei
Dass die Politik wieder da ist, dass Debatten um Corona oder »Wokeness« längst über Twitter hinausgeschwappt sind, wird bestätigen, wer im Privaten heftige Streite erlebt. Nach einer Ära der Postpolitik, in der technokratisch verwaltet wurde, während die Bürger dies höchstens vom Sofa aus kommentierten, stehen wir vor einem allgegenwärtigen Zittern und Beben.
Anton Jäger hat dafür den Begriff »Hyperpolitik« geprägt. Zugleich stellt er fest, dass Aufregungswellen sich selten in kollektives Handeln übersetzen: Die Politisierung hat kaum politische Folgen. Dies, so Jäger in seinem Durchgang durch 150 Jahre Demokratiegeschichte, ist die Folge einer von digitaler Einsamkeit geprägten Situation, in der die Menschen nicht länger über Massenorganisationen am politischen Prozess beteiligt sind.
Anton Jäger, geboren 1994, ist ein belgischer Historiker, der sich insbesondere mit der Geschichte des ökonomischen Denkens befasst. Er wurde 2020 in Cambridge promoviert und ist derzeit Postdoctoral Research Fellow an der Katholieke Universiteit Leuven. Jäger schreibt für Magazine wie die<em> New Left Review</em> und <em>Jacobin</em>.
332. Putnam von links
2021 veröffentlichte das Survey Center on American Life eine Studie über Freundschaften in den USA.1 Der Bericht, neun dichte Seiten mit detaillierten Statistiken, war alles andere als ermutigend. Er verzeichnete eine »Freundschaftsrezession«, und die Wissenschaftler stellten fest, dass die Amerikanerinnen und Amerikaner zunehmend einsam und isoliert lebten: 12 Prozent von ihnen gaben an, keine engen Freundschaften zu haben, 1990 hatte dieser Wert bei gerade einmal 3 Prozent gelegen. Und fast 50 Prozent sagten, sie hätten während der Coronapandemie den Kontakt zu Freundinnen und Freunden verloren. Die psychosomatischen Folgen sind laut den Autoren der Studie verheerend. Herzkrankheiten, Schlafstörungen, erhöhtes Alzheimer-Risiko. Verbunden mit einer sinkenden Heiratsneigung und steigender Jungfräulichkeit unter amerikanischen Männern habe die Freundschaftsrezession potenziell lebensgefährliche Folgen: »Angesichts der außerordentlich hohen Kosten«, warnte der Surgeon General, der nationale Beauftragte für den öffentlichen Gesundheitsdienst, im April 2023, »muss die Wiederherstellung sozialer Bindungen eine der obersten Prioritäten […] unserer Nation sein.«2
Ein Bericht der EU-Kommission dokumentiert ähnliche Entwicklungen: Hatten sich vor der Pandemie 12 Prozent der EU-Bürger »mehr als die Hälfte der Zeit« einsam gefühlt, stieg dieser Wert im ersten Halbjahr 2020 auf 25 Prozent, wobei junge Menschen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren besonders betroffen waren.3 Solche Studien bilden im Kleinen einen sehr viel umfassenderen Prozess ab, der in den vergangenen Jahrzehnten viele OECD-Länder erfasst hat und 34der für das Verständnis der Post-, Anti- und Hyperpolitik von entscheidender Bedeutung ist. Als Paradebeispiel freiwillig gewählter Gemeinschaften stehen Freundeskreise pars pro toto für andere soziale Institutionen – Gewerkschaften, Parteien, Vereine.
Der französische Philosoph Jean-Claude Michéa wurde 1950 als Kind überzeugter Kommunisten geboren; die Mutter war Stenotypistin, der Vater arbeitete als Radsportreporter für eine kommunistische Zeitung. In einem Interview erinnert sich Michéa, der Tag, an dem er herausfand, dass ein Nachbar nicht in der Partei war, sei einer der bestürzendsten Momente seiner Kindheit gewesen.4 Nicht umsonst verglichen die Studierenden im Pariser Mai 1968 das Verhältnis der Arbeiterschaft zur Kommunistischen Partei mit dem der Christen zur Kirche. Die Gläubigen sehnten sich nach Gott, die Arbeitenden nach der Revolution. Stattdessen, so die Philosophen Christian Jambet und Guy Lardreau, hätten die Christen die Kirche bekommen und die Arbeiterklasse die Partei.5
Für Michéa war die Partei eine Erweiterung der Familie, des Freundeskreises, des Viertels. Die Grenzen der Partei waren die Grenzen seiner Welt. Und während der einst stolze Parti communiste français (PCF) einen kontinuierlichen Niedergang erlebte, nahm die soziale Atomisierung auch in Michéas Heimatland zu. »Ich fragte mich schon manchmal, ob ich meine Eltern vor ihrem Tod noch einmal sehen würde«, erinnert sich der Protagonist in Michel Houellebecqs Unterwerfung, »aber meine Antwort fiel immer negativ aus; daran konnte, wie ich glaubte, selbst ein Bürgerkrieg nichts ändern«.6 Lange vor den 2020 und 2021 verhängten Lockdowns hatten die Menschen in westlichen Gesellschaften begonnen, sich auf eine sanftere, weniger koordinierte Weise sozial voneinander zu distanzieren.
35Für viele Soziologen wird Houellebecqs Refrain wohlvertraut klingen, steht er doch im Einklang mit dem Befund eines zeitdiagnostischen Klassikers des frühen 21. Jahrhunderts, Robert Putnams Bowling Alone aus dem Jahr 2000.7 Das Buch mit dem Untertitel »Der Zusammenbruch und die Wiederbelebung der amerikanischen Gemeinschaft« erlangte in der englischsprachigen Welt bald große Popularität und war nicht nur in vielen Universitätsbibliotheken, sondern auch auf dem ein oder anderen Nachttisch zu finden. Zusammen mit Putnams in den neunziger Jahren erschienenen Arbeiten über die italienische Zivilgesellschaft etablierte Bowling Alone die Vorstellung, im Westen schwinde der Gemeinschaftssinn und die Politik müsse gegensteuern. Inoffiziell war das Buch eine Art Manifest für einen neuen Kommunitarismus, der die Auswirkungen des kalten Liberalismus abdämpfen sollte, der nach 1989 triumphiert hatte.
Die Überlegungen des Soziologen nehmen ihren Ausgang von der titelgebenden Beobachtung: Am Ende des 20. Jahrhunderts gingen in den USA immer mehr Menschen bowlen – aber sie taten dies nun häufig alleine. Hatte es zuvor eine starke Tradition der festen Abende und kleinen Kegelrunden mit eigenen Ritualen und Regeln gegeben, mussten jetzt viele Bowlingligen den Betrieb einstellen. Diese Entwicklung war freilich nicht auf den Sport beschränkt. Ob Kirchen, Gewerkschaften oder Freimaurerlogen – sie alle erlebten seit den siebziger Jahren einen dramatischen Mitgliederschwund. Die Menschen hatten sogar aufgehört, regelmäßig zusammen Karten zu spielen, dafür gingen sie nun häufiger ins Casino.8
Putnam erwog eine ganze Reihe von Ursachen für diesen großen Rückzug:9 wirtschaftlich angespannte Zeiten, die gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen und den Stress in Doppelverdienerhaushalten; Suburbanisierung und verän36derte Mobilitätsmuster; die zunehmende Verbreitung von Fernsehgeräten und eine »elektronische Revolution«; einen Wandel des Einzelhandels hin zu großen Shoppingzentren in Gewerbegebieten; die Globalisierung und den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Außerdem werde oft pauschal auf die »Sechziger« verwiesen, wobei Putnam ironisch anmerkt, viele der damit assoziierten Veränderungen hätten eher in den siebziger Jahren stattgefunden (etwa die Desillusionierung in Bezug auf die politische Klasse infolge des Watergate-Skandals).10
Zwei weitere Hypothesen, die ebenfalls vielfach angeführt wurden, räumte Putnam angesichts der empirischen Daten ab. Die erste war die Idee, der eigentliche Schuldige sei der Wohlfahrtsstaat. Das »big government« in Washington übernehme immer mehr soziale Leistungen, die früher von den Kommunen oder den Bürgern erbracht worden seien, und verdränge damit lokale Netzwerke und privates Engagement. Putnam wies diese Lesart relativ schnell vom Tisch, zeigte sich doch, dass der Bestand an sozialem Kapital in skandinavischen Ländern mit stark ausgebauten Wohlfahrtsstaaten höher war als in den USA.11 Eine andere, laut Putnam »kontroverse« Interpretation bezog sich auf den Faktor Race. Da der Beginn der beschriebenen Entwicklungen zeitlich mit den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigern zusammenfalle, schlossen einige, die Erosion des sozialen Kapitals sei eine Folge rassistischer Einstellungen: Die Weißen hätten sich nach dem Ende der offiziellen Segregation aus Vereinen und anderen Organisationen zurückgezogen. Auch hier überzeugten die existierenden Daten Putnam nicht: Einerseits hätten schwarze Amerikaner gemeinschaftlichen Netzwerken ebenfalls den Rücken gekehrt; andererseits ließen sich keine Unterschiede zwischen erklärten Rassisten und toleranten Weißen erkennen.12
37Am Ende seiner soziologischen Detektivarbeit zu den Ursachen des großen Rückzugs gewichtete Putnam die gehandelten Faktoren in einem Tortendiagramm, wobei er zugab, die Prozentwerte seien »guesstimated«, sie beruhten also ebenso auf Bauchgefühl wie auf einer Bewertung der vorliegenden Literatur: Den Einfluss von Zeitdruck und gewandelten Erwerbsmustern veranschlagte er auf maximal 10 Prozent; die Suburbanisierung erkläre 10 Prozent des Problems, elektronische Unterhaltungsmedien wie insbesondere das Fernsehen 25 Prozent, der mit Abstand wichtigste Faktor sei mit 50 Prozent jedoch der generationelle Wandel: Die nachwachsenden Generationen seien schlicht weniger engagiert als ihre Eltern und Großeltern. Ein 5 Prozent großes Tortenstück fehlte, daneben war »Andere?« vermerkt.
Was ein seinerzeit optimistisch diskutiertes Gegenmittel anbelangt, war Putnam ambivalent: Das Internet könne zum Beispiel den Aktivisten von Umweltschutzorganisationen helfen Unterstützerinnen zu erreichen und zu mobilisieren; gleichzeitig berge es aber auch die...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2023 |
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Übersetzer | Daniela Janser, Heinrich Geiselberger, Thomas Zimmermann |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | AfD • Aktivismus • aktuelles Buch • Björn Höcke • Black lives matter • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Debatte • edition suhrkamp 2797 • ES 2797 • ES2797 • Essay • Fridays For Future • jacobin • Luisa Neubauer • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Occupy • Öffentlichkeit • Polarisierung • Postpolitik • Sarah Wagenknecht • Soziale Bewegung • Zusammenhalt |
ISBN-10 | 3-518-77684-3 / 3518776843 |
ISBN-13 | 978-3-518-77684-1 / 9783518776841 |
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