Der Zauber der Welt (eBook)

Trost finden in unruhigen Zeiten | Das neue Buch von der Autorin des Bestsellers »Überwintern«
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2023 | 1. Auflage
222 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77803-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Zauber der Welt -  Katherine May
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Der Zauber der Welt ist eine Einladung an uns alle, das Leben in seiner sinnlichen Komplexität zu feiern und die Schönheit zu entdecken, die überall um uns herum auf uns wartet.

Gibt es auch eine andere Art, zu leben? Sinnerfüllter, eine Lebensweise, die uns ein stärkeres Gefühl der Verortung schenkt und uns zugleich ausgeruhter und gelassener macht? Erschöpft von den Krisen unserer Zeit und einer Welt in Aufruhr, erkundet Katherine May die heilsame Kraft der Natur. Ihr Weg führt sie in wilde Moore und an heilige Quellen, in die umarmenden Wellen des Meeres und unter überwältigende Sternenhimmel. Im Staunen über die Vielfalt und Schönheit der Welt findet sie Stärkung und Trost.



Katherine May schreibt Romane und Sachb&uuml;cher, u. a. &uuml;ber Autismus. Sie verfasste zahlreiche Artikel f&uuml;r u. a. die <em>Times </em>und unterrichtete Creative Writing an der Christ Church University in Canterbury. Sie lebt am Meer im englischen Whitstable und liebt es, drau&szlig;en zu sein. Mays B&uuml;cher erscheinen in 26 Sprachen. Ihr Buch <em>&Uuml;berwintern. Wenn das Leben inneh&auml;lt </em>war ein internationaler Erfolg und stand monatelang auf der <em>Spiegel</em>-Bestsellerliste.

In letzter Zeit


In letzter Zeit wache ich nachts auf und weiß ein paar panische Sekunden lang nicht, wo ich bin. Ich weiß, wie ich heiße, das schon, aber ich weiß nicht, mit welcher Version meiner selbst ich es gerade zu tun habe.

Einmal dachte ich, ich würde wieder in meinem alten Bett bei meinen Eltern liegen. Fast meinte ich, das Quietschen der Metallfedern hören zu können, während ich im Geiste meinen Stundenplan durchging: Physik, Geschichte, Kunst. Aber die Illusion war unbeständig und löste sich in Luft auf, und ein paar freischwebende Sekunden lang war ich überhaupt niemand beziehungsweise einfach nur jemand, der sich erinnert, dieses Mädchen gewesen zu sein. Dann war ich wieder ich, das heutige Ich, das in seinem blauen Polsterbett saß, während durchs offene Fenster Meeresluft hereinströmte.

Das war ungewöhnlich. Meistens wenn ich aufwache, bin ich niemand, ich bin dann einfach nur ein Bewusstsein in der Dunkelheit, das versucht, sich einen Reim auf alles zu machen. Es ist ein seltsamer Schwebezustand, in dem das Ich ohne jede Verankerung existiert. Es ist ein Zwischenspiel, wie angehaltener Atem. Dann, endlich, entweicht er, die Lungen füllen sich wieder, die Welt flutet herein. Ein sehr willkommener Fakten-Upload. Ein Neustart. Ich bin wieder da.

*

In letzter Zeit schaffe ich es kaum, eine ganze Seite in einem Buch zu lesen. Die Aufmerksamkeit entgleitet mir, einfach so, ohne jede Reibung. Ich dachte, das würde sich wieder geben, wenn die Lockdowns erst vorbei wären, aber das tat es nicht. Es ist, als kämen in meinem Kopf Schmiermittel zum Einsatz. Ich will eine bestimmte Sache machen, aber mein Unterbewusstsein schiebt mich in eine andere Richtung. Es hat etwas anderes mit mir vor. Ich soll beobachten. Ich soll mich umsehen, nach der nächsten Bedrohung.

Ich kaufe mir trotzdem Bücher. Und mir werden Bücher geschickt. Sie werden zur Gefahr, sie türmen sich auf jedem Tisch im Haus, rotten sich zusammen wie die Entrechteten vor einem Aufstand. Auf dem Stapel neben meinem Bett liegt eine alarmierende Staubschicht.

Ich beschließe, mehr Bücherregale aufzustellen, aber auch das Vorhaben verläuft im Sand. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, zu beobachten. Dafür brauche ich all meine Aufmerksamkeit, ich kann keinen Funken davon entbehren.

*

In letzter Zeit kribbeln meine Hände, sie wollen beschäftigt werden. Jetzt, da die Schulen wieder geöffnet sind, mache ich mich daran, den Saum von Berts grauer Hose auszulassen. Eine neue Hose zu kaufen wäre sinnlos. In einem Monat wäre sie zu kurz.

Er wächst so schnell. Ich kann ihn nicht mehr einfach auf meinen Schoß ziehen und die Arme um ihn schlingen. Gemeinsam suchen wir nach einer Alternative, aber ständig sind irgendwelche Gliedmaßen im Weg, und für einen von uns wird es unbequem. Wir wollen ihn beide, diesen Körperkontakt, aber wir verlieren dabei das Gleichgewicht. Stattdessen sitzen wir nebeneinander und versuchen uns daran zu erinnern, wie es sich anfühlt.

Ich beschäftige mich also mit Hosensäumen und denke daran zurück, wie ich Nähen gelernt habe. In den sterbenslangweiligen Sommerferien nähten meine übereifrigen kleinen Hände nachmittags Kulturbeutel. Meine Großmutter sah zu und erklärte, Stiche müsse man setzen, nicht ziehen. Ich dürfe nicht zu kräftig ziehen, aber der Faden dürfe auch nicht zu locker bleiben. Vielleicht wären Nadel und Faden die Antwort auf das Umherstreunen meines Geistes. Vielleicht könnte ich mit ein paar sorgfältig gesetzten Heftstichen das ständige Verrutschen verhindern.

*

Das vergangene Jahrzehnt hat viele von uns mit einem wachsenden Gefühl der Unwirklichkeit erfüllt. Schon vor der globalen Pandemie waren wir gefangen in ständigem Wandel, ohne je genügend Zeit zu haben, uns anzupassen. Die ständig neuen Nachrichten, das Geplapper in den Sozialen Medien, die Parteigrenzen, an denen entlang sich unsere Familien spalten: Es ist, als seien wir erst halbiert worden, dann geviertelt und als seien wir jetzt sowas wie ein sozialer Trümmerhaufen.

Wenn es einen Zeitgeist gäbe für diese Ära, dann wäre er der Angst nicht unähnlich. Seit Jahren rennen wir herum wie Kaninchen. Wir sehen irgendwo einen weißen Schwanz aufblitzen, erkennen das Alarmsignal, und schon rennen wir los und lassen unseren eigenen Schwanz weiß aufblitzen. Es ist eine Kettenreaktion, ein Fluss des Schreckens, der uferlos strömt und andere wilde, wachsame Wesen mitreißt, die ihrerseits Alarmsignale aussenden. Es gilt nicht, sich vor einem einzelnen Raubtier in Sicherheit zu bringen, sondern vor vielen. Rennen ist das Gebot der Stunde. Alles ist so furchtbar dringend. Und mit jedem Jahr müssen wir schneller rennen, ob wir wollen oder nicht. Wir können nur rennen und in Panik verfallen und anderen unsere Ängste mitteilen, und die anderen werden uns unsere Ängste spiegeln.

Alles in dieser Zeit verschwört sich gegen uns, gibt uns das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein. Als seien die Maßstäbe über uns hinausgewachsen. Das wankende numerische Gewicht der Welt wurde preisgegeben, und es ist, als wären wir direkt mit Gott konfrontiert: Ihre fürchterliche Komplexität, ihre unfassbare Größe hauen uns um. Nichts hätte uns darauf vorbereiten können. Wir arbeiten uns daran ab, die Grundlagen des Überlebens zu sichern. Eine unendliche, undankbare Arbeit. Manchmal könnte man meinen, wir würden den Kessel einer riesigen Maschine anfeuern, die uns am Ende verschlingen wird. Wir sind müde. Wir sind so unendlich müde, wie es Menschen sind, die sich nirgends mehr zu Hause fühlen. Und wir sehen keinen Ausweg.

Gleichzeitig bemerken wir an den Rändern unseres Bewusstseins eine gewisse Abwesenheit. Sie ist nicht einfach in Worte zu fassen, aber sie bringt ihre eigene dunkle Nachtangst mit sich, ihr eigenes Grauen. Nämlich das Gefühl, dass wir keinerlei Verbindung zu Sinnhaftigkeit mehr haben und auch das kaum noch wahrnehmen. Wir spüren das, wenn wir fürchten, unseren Materialismus nicht mehr eindämmen zu können. Wir spüren es, wenn die Anziehungskraft unserer Smartphones sich anfühlt wie eine Abhängigkeit. Wir spüren es, wenn uns klar wird, dass wir unser Leben in klimatisierten Räumen verbringen und eigentlich gar nicht wirklich wissen wollen, wie das Wetter draußen ist.

In alldem manifestiert sich diese Abwesenheit jeden Tag. Doch am deutlichsten spüren wir sie, wenn wir nach Worten der Trauer suchen und nichts als Plattitüden finden, wenn wir die dunkelsten Abfälle unserer Erfahrungen in den Äther schleudern und niemand sie auffangen will. Etwas ist verloren gegangen, ist verschwunden jenseits lebendiger Erinnerung: der Fluss der Erfahrungen, die die Menschheit seit Anbeginn prägen. Wir haben die Übergangsriten aufgegeben, die uns früher von der Geburt bis zum Tod begleiteten, und gleichzeitig haben wir viele unserer Erfahrungen unaussprechlich gemacht. Aber wir durchleben diese Dinge weiterhin, jeder für sich, stumm, isoliert von Freunden und Nachbarn, denen es ganz ähnlich ergeht. Jahrhundertealtes Wissen geht in diesem Schweigen verloren, Generationen der Gemeinschaft. Wir sind permanent von Gesprächen umgeben, und doch sind wir chronisch einsam.

Ich habe mehr und mehr das Gefühl, ein Teil von mir würde fehlen, und zwar der Teil, der die Erschütterungen des Wandels aushalten kann, der sie erspürt und erfährt und annimmt, statt sie einfach nur zu verwalten. Je älter ich werde, desto mehr empfinde ich das als einen gravierenden Mangel. Tief in mir steckt eine Sehnsucht, die ich erst jetzt langsam begreife, ein Verlangen nach metaphysischen Erfahrungen, nach Tiefe, nach Sinn. Nicht nur die Welt muss sich ändern – auch ich muss mich ändern. Ich muss meine eng gesteckten Grenzen empirischen Denkens aufweichen, muss flexibler, offener werden. Ich bin auf der Suche nach dem, was der Dichter John Keats negative Befähigung nannte, jene subtile und intuitive Art des Denkens, die es uns erlaubt, »in Unsicherheiten, in Unerklärlichkeiten, in Zweifeln zu sein, ohne das ärgerliche Ausstrecken nach Faktum und...

Erscheint lt. Verlag 24.9.2023
Übersetzer Marieke Heimburger
Sprache deutsch
Original-Titel Enchantment. Reawakening Wonder in an Anxious Age.
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Sozialwissenschaften Pädagogik
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ISBN-10 3-458-77803-9 / 3458778039
ISBN-13 978-3-458-77803-5 / 9783458778035
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