Begehrenswert (eBook)

Erotisches Kapital und Authentizität als Ware

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
191 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-3008-9 (ISBN)

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Begehren und Wert erscheinen auf den ersten Blick als Gegensätze. Während Ersteres auf das Persönliche und Intime abzielt, beschreibt Letzteres die abstrakte Beurteilung. Doch der Gegensatz wird brüchig, sobald wir im Begehren das beständige Auf- und Abwerten anderer entdecken, und im Wert das unablässige, affektgeladene Spiel der Bewertungen. Jule Govrins fulminanter Essay Begehrenswert fragt danach, wie Begehren die wirtschaftlichen Wertordnungen durchdringt und sich ökonomische Bewertungsmuster feinstofflich in soziale Beziehungen und Selbstwahrnehmungen einschreiben - in Semantiken des Selbstwerts, auf der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen und unique selling points, um sich von anderen abzuheben. Der Streifzug durch die Gegenwart geht mit Abstechern in die Kapitalismus- und Sexualitätsgeschichte einher, um aufzuzeigen, wie sich Begehren an Waren, Menschen und Werte bindet. Im Dreieck von Wert, Begehren und Authentizität ergründet Begehrenswert die Matrix unserer Gegenwart - und weist zugleich im alle verbindenden Begehren nach anders gelagerten, solidarischen Beziehungsweisen den Fluchtpunkt einer emanzipatorischen Perspektive auf. 

Jule Govrin ist politische Philosoph*in und forscht an der Schnittstelle von Feministischer Philosophie, Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik zur politischen Dimension von Körpern und Begehren als transformativer Kraft.

Jule Govrin ist politische Philosoph*in und forscht an der Schnittstelle von Feministischer Philosophie, Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik zur politischen Dimension von Körpern und Begehren als transformativer Kraft.

1. Wert


Gebrauchswert. Geschäftswert. Geldwert. Gegenwert. Grenzwert. Liebenswert. Lebenswert. Liquidationswert. Marktwert. Mehrwert. Messwert. Menschenwert. Neuwert. Normwert. Nominalwert. Sachwert. Schrottwert. Selbstwert. Spekulationswert. Seltenheitswert. Arbeitswert. Tauschwert. Unternehmenswert. Orientierungswert. Durchschnittswert. Distinktionswert. Richtwert. Realwert. Zeitwert. Zeichenwert. Symbolwert. Sachwert. Inszenierungswert. Erlebniswert. Eigenwert. Wahrheitswert. Barwert. Börsenwert. Bezugswert. Begehrenswert. Wie die Wertform beziffern, von der die Rede ist, wenn wir über affektive und ästhetische Wirkungsweisen von Wert und Bewertung sprechen? Anscheinend handelt es sich weniger um direkten Geldwert, der – einem Preisschild gleich – Waren angeheftet wird, und mehr um eine symbolische Wertform, die mit Wunschbildern spekuliert und darauf einwirkt, wie wir wahrnehmen und begehren.

Gemäß Pierre Klossowski bildet der Wert eine »dem Genuß innewohnende Strategie«.6 Wert entspringt dem Begehren, weil der Akt des Bewertens eine Handlung des Begehrens ist. Das kapitalistische Wirtschaften schreibt dem Begehren seinerseits seine Wertlogik ein, die auf Verknappung und Tausch beruht. Diese bemächtigt sich der Lüste und Sehnsüchte, formt Fantasien in flimmernden Werbebildern und strukturiert Begehrensbeziehungen. Für Klossowski ist das »Vermarktungsprojekt der wollüstigen Emotion«7 im Erotischen angelegt. Die begehrliche Wertungsform, die sich in Vorlieben verwandelt, ist monetären und moralischen Werten vorgeschaltet. Angelehnt an Gebrauchs- und Tauschwert unterscheidet Klossowski zwischen erotischem Wert und kapitalistischem Wert.8 Während erotischer Wert auf sinnlichen Genuss abzielt, entbehrt der kapitalistische Wert Sinn und Sinnlichkeit, da er als steriler Geldwert operiert. Klossowskis Idee eines ursprünglichen Begehrens und erotischen Werts als unmittelbarer Sinnlichkeit ist irreführend, ist doch Begehren seinerseits immer schon sozial vermittelt. Bestechend ist jedoch die Beobachtung, dass Begehren und Wert unauflöslich verbunden sind. Während für Klossowski Begehren dem Wert vorgelagert ist, situiert Georg Simmel Wert und Begehren in einem Korrelationsverhältnis: Für Simmel bildet Begehren den subjektiven Ausdruck und sein Korrelat, der Wert, ist dessen objektiver Ausdruck.9 In dieser Perspektive bezieht sich Wert auf das Allgemeine der Gesellschaft und Begehren auf das Partikulare des Individuums. Wert verweist auf die sachlichen Verhältnisse der Dinge, Begehren bezeichnet die affektiven Verhältnisse der Menschen. Wert steht für Rationalität, Begehren bedeutet Affektivität – so Simmels Bilanz. Statt von solch starren Gegensätzlichkeiten auszugehen, werden im Folgenden affektive Wertwirkungen ausgehend vom Begehren betrachtet, wie es Klossowski vorschlägt. Doch während dieser Begehren als übergeschichtliche Kraft fasst, wird seine Einsicht radikalisiert und das Wechselspiel von Begehren und Wert in ihren kapitalismusgeschichtlichen Wandlungswegen verfolgt.

Wertgesetz und Beziehungsweisen


Um sich dem Begriff des Begehrenswerts anzunähern, führt der Weg zu den Arbeitsweisen von Wert, Mehrwert und Warenform und ihren Auswirkungen auf soziale Beziehungen. Erste Konturen nimmt das Konzept des Begehrenswerts im Gang von Karl Marx’ Wertkritik zu Bini Adamczaks Konzept der Beziehungsweise an.

In seinen Anfängen verstehen liberale Philosophien wie die von Adam Smith den Markt als Ort demokratischer Gleichheit, an dem Gleiche unter Gleichen vertraglich geregelten Geschäften nachgehen. Allerdings übersieht dieses marktliberale Ideal den Umstand, dass das wettbewerbsorientierte Wirtschaftssystem systematisch Armut und Ungleichheit erzeugt. Marx weist dafür auf die verheerenden Auswirkungen der Industrialisierung in England im 19. Jahrhundert hin. Er beschreibt, wie die Enteignung des Kommunalen, der Allmende, die Besitzlosen in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zwang, die damit nur formell frei waren.10 Die geleistete Lohnarbeit entspricht nicht dem gezahlten Gehalt, da die Produktivität der Arbeit höher ist als deren Entlohnung, daraus entsteht Mehrwert. Der Akkumulationsantrieb des Kapitals begründet sich in der Mehrwertlogik, die Produktions-, Konsum- wie Lebenssphären durchdringt. In wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen finden sich zwei zentrale Denkrichtungen, die subjektiven und die objektiven Werttheorien. Subjektive Werttheorien bestimmen Wert durch Nutzen oder Nachfrage, objektive Werttheorien durch Arbeitskraft und -zeit, die in die Ware investiert werden. Für Marx, Vertreter der Arbeitswerttheorie, bildet Wert die Schlüsselkategorie des Kapitalismus, da Wert als gespenstische Abstraktion arbeitet und gleichwohl materiell wirkmächtig ist. Hierzu nimmt er die Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwert auf: Der Gebrauchswert bezeichnet den praktischen Nutzen eines Gegenstandes, der Tauschwert den ökonomischen Zweck der Gewinnerzielung. Der Wert einer Ware, ihr Tauschwert, entsteht aus der Zeit, die Arbeiter*innen aufwenden, um diese herzustellen. Im Kapitalismus gilt das Primat des Tauschwerts, betont Moishe Postone: »Gebrauchswerte werden nur produziert, weil und insofern sie Träger von Wert sind. Das Ziel der Produktion ist also nicht nur der Gebrauchswert, sondern es ist der Wert – genauer gesagt: der Mehrwert.«11 Waren erhalten durch ihre Preise ein allgemeines Äquivalent, ihre Wertform besteht in der Geldform. Nach Marx schreibt sich die Wertform tief in Gesellschaftsverhältnisse ein, schließlich ist sie »die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise« und somit auch »eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion«.12 Das Wertgesetz, durch das Geld zum allgemeinen Äquivalent wird, lässt Tauschwerte als quasinatürliche Eigenschaften erscheinen. Sie nehmen eine »phantasmagorische Form« an,13 die soziale Beziehungen bestimmt. Daher sieht Postone im Wert keine reine Kategorie des Marktes, sondern des Gesellschaftlichen. Während traditionelle marxistische Lektüren die Kategorie des Wertes auf die Produktionssphäre beschränken, formt Wert im Kapitalismus gesellschaftliche Verhältnisse – und wird durch diese hervorgebracht. Daher sollte nach Postone die »Marxsche Theorie […] auch als Versuch gesehen werden, die Grundlagen einer Gesellschaft zu analysieren, die durch die universelle Austauschbarkeit der Produkte charakterisiert ist«.14 Die Wertlogik ist in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen zu betrachten. Denn Wert bezieht sich nicht allein auf Waren, zuvorderst weisen Menschen einander Wert zu, angefangen bei der Inwertsetzung ihrer Arbeitskraft.

In diesem Sinne deutet Marx’ Wertkritik die soziale Dimension des Begehrenswerts an, der sich als Bewertungslogik in Beziehungen einzuschreiben scheint. Darauf weist ebenso sein Konzept des Warenfetischs hin. In den kapitalistischen Konsumwelten scheinen Restbestände des Religiösen fortzuwirken, sie lassen die künstliche Gemachtheit von Wert in Vergessenheit geraten. Der sakrale Schimmer der Waren ist für den Begehrenswert bedeutend. Die moderne Marktgesellschaft bildet sich mit der aufklärerischen Säkularisierung heraus, doch sie bleibt von religiösen Vorstellungen beeinflusst, was Marx’ mit seinem Konzept des Warenfetischs ironisch kommentiert. Während sich die Bürger seiner Gegenwart rühmten, gänzlich aufgeklärt zu sein, unterstellten sie den Menschen in Kolonien religiöse, animistische Rituale. Marx greift diesen überheblichen Gestus der Europäer auf und wendet ihn gegen sie, immerhin erliegen sie im Marktsystem dem Glauben an eine Natürlichkeit der Produktionsverhältnisse. Dieser Glaube an eine lenkende Macht des Marktes lädt künstliche Wertverhältnisse religiös auf.15 Diese quasireligiöse Illusion des Warenfetischs verdeckt die Künstlichkeit von Wert und Warenform, naturalisiert das Wertgesetz und lässt vergessen, dass es sich um ein menschengemachtes Gesetz handelt. Im Zuge dessen erscheint der Preis nicht mehr als Effekt der Produktionsverhältnisse, stattdessen werden den Gütern der Status als Ware und mithin der monetäre Wert als dingliche Eigenschaften zugeschrieben.16

Wert, Warenform, Warenfetisch – Marx’ ökonomiekritische Konzepte lassen Konturen des Begehrenswerts als Wertform hervortreten. Genauso wie der Tauschwert beruht der Begehrenswert auf materieller Ausbeutung. Beim Begehrenswert von Waren ist offenkundig, dass deren Produktion auf ausgebeuteter Arbeitskraft beruht – etwa Modeartikel, die in den Maquilas in Mexiko hergestellt werden. In Bezug auf die soziale Dimension des Begehrenswerts stellt sich das schwieriger dar: Wer beutet wen durch symbolische Wertformen aus, wie schreibt sich Ungleichheit fort? Diese Fragen sollten wir im Hinterkopf behalten. Immerhin legt Marx’ Kritik der Warenform offen, wie sich ökonomische Wertverhältnisse in soziale Bewertungen übersetzen, welche über Inwertsetzungen hergestellt werden. Derweilen muss man...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Beziehungen • Dating • Gilles Deleuze • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Markt • Michel Foucault • Sexualität • Sigmund Freud • Ware • Warenfetisch
ISBN-10 3-7518-3008-1 / 3751830081
ISBN-13 978-3-7518-3008-9 / 9783751830089
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