Die Superkräfte der Vögel (eBook)
192 Seiten
Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG
978-3-440-50845-9 (ISBN)
Mit offenem Mund stand ich da. Minutenlang. Wie in einem Comic. Als ich das endlich bemerkte, versuchte ich, meinen Mund zu schließen. Meine Gesichtsmuskeln setzten diesen Befehl nur zögerlich um.
KURZ DANACH STAND MEIN MUND WIEDER OFFEN und ich merkte, dass mir der Atem stockte. Nach meinen weit geöffneten Augen und meinem klopfenden Herzen zu urteilen, war es nicht das erste Mal. Kurz fiel mir auf, wie uncool ich wohl aussehen musste, aber das war egal. Ich stand ganz allein an einer großen Lichtung mitten im Wald. Die Dämmerung hatte eingesetzt, um mich herum lag eine zentimeterdicke Schneedecke. So richtig allein war ich allerdings nicht: Direkt über den Wipfeln der Bäume zogen zwei Mäusebussarde ihre Kreise, ein Habicht saß unweit von mir auf einem Ast und einen Merlin hatte ich auch schon registriert. Doch die Greifvögel interessierten mich ausnahmsweise nur am Rande. Und sie interessierten sich nicht für mich. Unser aller Aufmerksamkeit galt den zweieinhalb Millionen BERGFINKEN um uns. Sie waren überall und ich stand mitten im Schwarm.
Was für eine Show
Genau das hatte ich vermeiden wollen. Ich war mehrere Hundert Meter entfernt von dem Schlafplatz, an dem sie sich seit einigen Tagen abends nach ihren Streifzügen durch die umliegenden Wälder einfanden. Eigentlich hatte ich nur von Ferne ihren Einflug beobachten wollen, um sie nicht zu stören. Die Bergfinken hielten sich allerdings nicht an mein Abstandskonzept: Statt irgendwo da drüben, wie ich das erwartet hatte, sammelten sie sich in meiner Nähe und vollführten ihre Flugshow direkt vor mir. Nur für mich.
Es war Mitte Januar in der Nähe eines südniedersächsischen Dorfes am Rand des Sollings. Bis vor wenigen Minuten hatte ich mich gedanklich in einem wissenschaftlichen Fachartikel befunden, den ich für dieses Buch gelesen hatte und noch nicht richtig einordnen konnte. Überhaupt steckte ich gedanklich grade sehr tief in Zahlen, Daten, Fakten aus Forschungen, über die ich gerne staune, keine Frage! Aber nur wegen solcher Begegnungen mit echten Vögeln in der Natur gibt es dieses Buch.
Dicht an dicht saßen die Bergfinken wie Blätter in den Bäumen.
© Kai Pätzke
Zweieinhalb Millionen Bergfinken wirbelten in dichten Wolken direkt vor mir.
© Kai Pätzke
Vögel sind supercool
Vögel begeistern mich und ich liebe es zu staunen. Diese Begeisterung will ich teilen, um andere damit anzustecken. Es ist die beste Möglichkeit, die mir einfällt, um Vögel sichtbarer zu machen und um ihnen beim Überleben zu helfen. Am leichtesten geht das, wenn ich zeige, warum sie so supercool sind. Vögel leben im Alltag so nah um uns wie kaum ein anderes Tier, und doch sind sie häufig nicht mehr als ein Hintergrundrauschen in unserem Alltag. Sie fallen vielen Menschen erst auf, wenn sie mitten in der Nacht von ihrem Geträller geweckt werden, sie ihnen das Auto und die Gartenstühle vollkleckern oder gegen die Wohnzimmerscheibe knallen. Zugegeben: Das wirkt auf den ersten Blick nicht sehr cool.
Auch in unserer Alltagssprache hat sich ein abfälliges Bild von Vögeln verankert: Bei uns piept es, wenn wir eine Meise oder allgemein einen Vogel haben, jemand ist eine dumme Pute, lahme Ente oder blöde Gans mit einem Spatzenhirn. Wir lassen den Pleitegeier kreisen, klauen wie die Raben oder wie die diebischen Elstern. Wir attestieren uns gegenseitig wahlweise Rabeneltern, ein Dreckspatz, ein Schmierfink oder ein Schluckspecht zu sein. Am Ende schicken wir sogar gerne mal den Kuckuck vor, wenn wir uns nicht trauen, Teufel und Hölle ins Spiel zu bringen: Was zum …?!
Das alles klingt wenig schmeichelhaft, und doch bin ich fest davon überzeugt: All das ist nur Tarnung. Hinter der Fassade der scheinbar leicht verpeilten, nervös flatternden Tierchen verbergen sich Wesen mit Superkräften.
Superviele Superkräfte
Schon auf den zweiten Blick offenbaren Vögel ihre genialen Eigenschaften: Sie sind sehr intelligent, leben in komplexen sozialen Verbänden, navigieren zielsicher über Tausende Kilometer und können fliegen (hallo???)! Mit ihren Superkräften haben sie sich dem großen Dinosauriersterben widersetzt und sich auf allen Kontinenten ausgebreitet. Sie haben sich das Land, die Luft und das Wasser als Lebensräume erobert. Sie bewohnen karge Wüsten, überfliegen die höchsten Berge, trotzen der Kälte und tauchen Hunderte Meter hinab in die Tiefen der Ozeane.
Hinter der Fassade der flatternden Tierchen verbergen sich Wesen mit Superkräften.
Menschliche Superheld:innen sind besonders groß, besonders klein, besonders schön, besonders hässlich, besonders klug oder zur Tarnung besonders durchschnittlich – in jedem Fall haben sie aber eine Spezialfähigkeit, die sie von anderen absetzt. Vögel sind all das und noch viel mehr. Vor allem haben sie aber besondere Fähigkeiten, die wir nicht haben. Und selbst bei den Fähigkeiten, die wir scheinbar mit ihnen teilen, lohnt sich genaueres Hinsehen.
Wir neigen dazu, das Alltägliche normal zu finden und nur das Seltene, das Außergewöhnliche wertzuschätzen. Das gilt viel zu oft sogar unter Vogelbegeisterten auch für Vögel. Tauben und Spatzen? Nerven! Amseln oder Kohlmeisen? Laaaaangweilig. Aber Bienenfresser und Eisvögel? Yeah, mega! Und Rebhühner und Kiebitze? Tja, die waren auch lange langweilig, jetzt plötzlich sind sie eine Rarität und somit wieder interessant geworden.
Ich begeistere mich nicht nur für die seltenen, besonders bunten Vögel irgendwo in der Ferne, sondern auch für die Normalos bei uns im Garten. Für mich ist jeder Vogel ein Grund zum Freuen. Erstens natürlich, weil Vögel realgewordene Wunderwesen sind, über die ich mich einfach freuen muss. Zweitens aber auch, weil sie insgesamt immer seltener werden. Das liegt vor allem daran, dass wir ihnen das Leben schwer machen.
Wissenschaft, Baby!
Bergfinken werden in diesem Buch nur noch am Rande vorkommen. Das liegt zum einen daran, dass sich die Auswahl der Arten am Stand der Forschung und unserer Erkenntnisse orientiert. Manche Vogelarten sind besonders populär bei Forschenden, weil es hier schon Grundlagenwissen gibt oder das besondere Verhalten einer Art sie für eine Superkraft verdächtig gemacht hat. Dass die BERGFINKEN (oder andere Vögel, die jeweils unerwähnt bleiben) nicht in den Abschnitten über die fünf Sinne oder beim Thema Intelligenz vorkommen, heißt nicht, dass sie nicht klug wären oder über keine außergewöhnliche Sinnesleistungen verfügen. Sie sind dafür einfach noch nicht in den Fokus der Wissenschaft geraten.
Überhaupt ist es eine spannende Zeit in der Vogelforschung. Die moderne Technik eröffnet uns so viele neue Möglichkeiten, Vögel besser zu verstehen – oder zumindest zu verstehen, was sie wie machen. Sie ermöglicht es Forschenden, Vögel in der Natur zu beobachten, ohne sie großartig zu stören, zu verwechseln oder sonst wie aus den Augen zu verlieren. Mit winzigen Geräten folgen wir den Vögeln hoch in die Lüfte und über Kontinente hinweg. Wir messen, zählen, treten in Interaktion mit ihnen und verstehen immer besser, warum und wie wir sie dringend noch viel besser schützen müssen.
Seit langem weiß ich: Wenn man anfängt, Vögel wahrzunehmen, schaltet das ein neues Realitätslevel frei. Aber beim Schreiben dieses Buches habe ich gemerkt: Wenn ich versuche, zu verstehen, wie Vögel die Welt sehen, öffnet das nochmal eine ganz neue, noch viel größere Welt direkt um uns, die wir so nicht wahrnehmen können. Die Vögel hingegen schon.
Seit langem weiß ich: Wenn man anfängt, Vögel wahrzunehmen, schaltet das ein neues Realitätslevel frei.
Wissenschaft hilft uns, unsere Welt ein bisschen verstehen zu lernen. Dieses Buch ist also auch eine Liebeserklärung an die Wissenschaft, weil sie mir mit ihren Erkenntnissen immer wieder hilft, noch mehr über Vögel zu staunen. Wobei es „die Wissenschaft“ gar nicht gibt. Es gibt viele Forschende, die auf Basis von wissenschaftlichen Methoden neue spannende Erkenntnisse über die Welt erlangen und diese mit uns teilen. Wissenschaft ist immer im Fluss und kein feststehendes Glaubenskonzept. Sie baut auf vorhandenem Wissen und Theorien auf, verändert sich mit neuen Erkenntnissen, die wir Puzzlestück für Puzzlestück in ein Gesamtverständnis der Welt einfügen. Das wächst immer weiter und verändert sich stetig. Wenn wir unsere Vorstellung von dem, was wahr ist, anpassen an neue Erkenntnisse, ist das wissenschaftlicher Fortschritt. Wahrheit ist stets nur das, was wir aufgrund der aktuellen Beweislage für wahr halten. Auf dieser Grundlage beschreiben und interpretieren wir das, was wir sehen – oder zu sehen glauben. Fragen bestimmen die Antworten, die wir erhalten. Wenn wir nach der Uhrzeit fragen, werden wir nichts über das Wetter erfahren – es sei denn, der Regentropfen fällt grade genau auf die Armbanduhr (oder das Handy). Das gilt auch für die Wissenschaft.
Ich war überrascht, wie oft ich im Laufe der Recherchen für dieses Buch an den Punkt kam, an dem Forschende mir sagten, dass sie etwas noch nicht genau wissen. Aber so ist das wohl: Je mehr wir wissen, desto mehr neue Fragen ergeben sich. Das mag auf den ersten Blick frustrierend wirken. Aber ich finde diese Wissenslücken aufregend, weil sie so viele neue Möglichkeiten eröffnen. Es bleibt spannend. Und auch ein bisschen geheimnisvoll.
Flitzende kleine Teichhuhnküken wuseln sich mitten in jedes Herz.
© Kai...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2023 |
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Illustrationen | Véro (Veronika) Mischitz |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturführer |
Schlagworte | Beobachten • Biologie • Birding • Bird Watching • Erkennen • Forschung • Frauen Vogelforschung • fun facts • Kurioses • Ornithologe • Ornithologie • Ornithologin • Verhalten • Vögel beobachten • Vogelbeobachtung • Vögel bestimmen • Vogelforschung • Vogelkunde • Vögel sehen • Vogelstimmen |
ISBN-10 | 3-440-50845-5 / 3440508455 |
ISBN-13 | 978-3-440-50845-9 / 9783440508459 |
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Größe: 10,8 MB
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