Schulratgeber ADHS -  Kathrin Hoberg

Schulratgeber ADHS (eBook)

Ein Leitfaden für LehrerInnen
eBook Download: EPUB
2023 | 3. Auflage
245 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61805-7 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
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In fast jeder Schulklasse gibt es unaufmerksame, impulsive und hyperaktive SchülerInnen. Doch was steckt eigentlich hinter der Diagnose ADHS und wie können LehrerInnen im Unterricht damit umgehen? Die Autorin liefert kompaktes Basiswissen für Lehrkräfte, die SchülerInnen mit ADHS unterrichten. Sie schildert anschaulich und praxisnah viele konkrete Maßnahmen für den Unterricht, die sowohl die SchülerInnen selbst stärken als auch das Lernklima in der Klassengemeinschaft verbessern. Ein Erste-Hilfe-Teil für Problemverhalten in der Schulklasse rundet das Buch ab und macht es zu einer wertvollen Fundgrube für alle LehrerInnen.

Kathrin Hoberg ist als Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin im Sozialpädiatrischen Zentrum in Aachen tätig. Sie gibt regelmäßig Fortbildungen für LehrerInnen zum Thema ADHS.

Kathrin Hoberg ist als Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin im Sozialpädiatrischen Zentrum in Aachen tätig. Sie gibt regelmäßig Fortbildungen für LehrerInnen zum Thema ADHS.

2 Das Erklärungsmodell

Im ersten Kapitel wurde beschrieben, wie sich die Kinder mit einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung typischerweise verhalten und wie das Störungsbild erkannt sowie von Fachleuten definiert und diagnostiziert wird. Jetzt soll beleuchtet werden, wie man sich das Zustandekommen einer ADHS erklärt.

In diesem Kapitel wird gezeigt,

welche Ursachen für die ADHS angenommen werden,

welche Prozesse sich „im Verborgenen“ abspielen, die zu den Verhaltensbesonderheiten der Kinder mit ADHS führen.

2.1 Ursachen

Die Ursachen für das Zustandekommen einer ADHS sind bis heute nicht vollständig geklärt. Als gesichert gilt aber, dass es keinen alleinigen Verursacher gibt, sondern dass mehrere Faktoren eine Rolle spielen, die sich gegenseitig bedingen. Wie bei vielen anderen Erkrankungen auch, greifen genetische Faktoren und äußere Umwelteinflüsse mit individuell unterschiedlichen Anteilen ineinander. Beim Vorliegen einer solchen Konstellation spricht man im klinischen Bereich gerne von einer multikausalen Verursachung. Die Ausführungen im folgenden Kapitel werden zusammenfassend berichtet (Barkley 2006; Kuntsi et al. 2006; Konrad / Gilsbach 2007; Durston et al. 2008; Konrad / Eickhoff 2010; Thapar et al. 2012; Dark et al. 2018).

Wir können also davon ausgehen, dass ein Ineinanderwirken von

A genetischen Faktoren und

B Risikofaktoren stattfindet, das Auswirkungen auf das

C neurobiologische Geschehen hat.

Diese einzelnen Faktoren werden im Folgenden genauer unter die Lupe genommen.

A Genetische Faktoren

Inzwischen weiß man, dass eine genetische Komponente eine entscheidende Rolle für die Ausbildung einer ADHS spielt. Man nimmt an, dass auf erblicher Basis eine gewisse Anlage im Sinne einer Verwundbarkeit (= Vulnerabilität) zugrunde liegt, die bei Zusammentreffen mit weiteren Einflüssen zur Ausbildung des Störungsbildes führen kann. Weitgehend einig ist man sich darin, dass damit eine Veranlagung zur Dysfunktion im Haushalt der Nervenbotenstoffe (= Neurotransmitter) vererbt wird. Der Einfluss der genetischen Komponente wird bei Studienanalysen übereinstimmend mit bis zu 80 % angegeben. Belege bieten beispielsweise Familienstudien, die zeigen, dass eineiige Zwillinge mit einer identischen genetischen Ausstattung sehr häufig gleichermaßen betroffen sind (zu ca. 50 bis 80 %), zweieiige Zwillinge immer noch auffällig oft (zu ca. 35 %). Betrachtet man die Verwandten ersten Grades eines männlichen Patienten mit ADHS, findet man unter ihnen viel mehr ADHS oder andere psychiatrische Störungen, als dies in der Normalbevölkerung üblich wäre. Nahe Familienangehörige sind insgesamt zu 30–60 % ebenfalls vom Störungsbild betroffen.

Aus Adoptionsstudien weiß man, dass die leiblichen Eltern von Kindern mit ADHS zu einem wesentlich höheren Prozentsatz eine ADHS aufweisen als die Adoptiveltern, bei denen die Kinder aufwachsen. Auch entwickeln die Kinder in ihren neuen, nicht von ADHS betroffenen, Familien eine ADHS.

Zudem kann mit molekulargenetische Analysen, das sind sehr spezielle und komplizierte Methoden, das Vorkommen einzelner Gene untersucht werden. Auf diese Weise kann man beispielsweise analysieren, welche Gene bei Geschwistern mit ADHS gleichermaßen betroffen sind. Mit Hilfe solcher Studien konnte herausgefunden werden, dass möglicherweise Gene, die das dopaminerge System und die entsprechenden Rezeptoren beeinflussen, beteiligt sind. Es könnten das Dopamin-Transporter-Gen DAT-1 und die Dopamin-Rezeptor-Gene DRD4 und DRD5 involviert sein. Zudem ist in der Diskussion, ob große seltene submikroskopische Chromosomenveränderungen (Copy Number Variations CNV), bei denen Duplikationen oder Deletionen von Abschnitten in den Chromosomen vorliegen als Risikofaktor infrage kommen können.

Der Prozess der Vererbung, nicht nur der ADHS, ist äußerst komplex, weshalb hinsichtlich der vorliegenden Untersuchungen und ihrer Ergebnisse mit Vorsicht argumentiert werden muss. Die entsprechenden Chromosomen und Gene sind bislang noch bei weitem nicht mit Sicherheit identifiziert worden. Zum einen ist vermutlich eine wirklich sehr hohe Zahl an Genen involviert, die in ihrem wechselseitigen Zusammenspiel unterschiedlich beteiligt sind. Zum anderen zeigen die Ergebnisse der Epigenetik, dass es ein komplexes Wechselgefüge dahingehend gibt, unter welchen Bedingungen bestimmte vorliegende Gene durch das Eintreten oder Ausbleiben äußerer Bedingungen aktiviert oder ausgeschaltet werden.

B Risikofaktoren

Wie soeben beleuchtet erklärt die genetische Komponente nicht zu 100 % die Entstehung einer ADHS. Zudem gehören zu den postulierten epigenetischen Vorgängen in der Entstehung des Störungsbildes äußere einflussnehmende Faktoren dazu. Im bio-psycho-sozialen Bereich ist es grundsätzlich kaum möglich, isolierte Faktoren zu finden, die allein eine bestimmte Wirkung erzeugen, das Wirkgefüge ist zu komplex. Es ist zwar gelungen, einige externe Faktoren zu identifizieren, die mit ADHS einhergehen, da diese aber lediglich gemeinsam mit ADHS auftreten, kann man nicht bei allen von direkten Verursachern sprechen, sondern lediglich von Risikofaktoren. Das Beobachten von puren Zusammenhängen lässt es nicht zu, eine direkte und damit unmittelbare kausale Ursache-Wirkungs-Beziehung herstellen.

Bei Kindern mit ADHS gibt es eine höhere Rate an Komplikationen sowohl in der Schwangerschaft als auch während und nach der Geburt. In der Schwangerschaft finden sich des Öfteren emotionale Probleme bei den Müttern, erhöhte Unfallraten der Mütter und Blutungen.

Am ehesten direkt ursächlich zu interpretieren ist ein Einfluss von starkem Nikotin- und Alkoholkonsum der Mütter während der Schwangerschaft auf die Ausbildung einer ADHS. Beides scheint für kognitive Defizite und spätere Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich zu sein. Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft geraucht haben, zeigen viermal so häufig die Leitsymptome einer ADHS und haben oftmals einen niedrigeren IQ als Kinder von Nichtraucherinnen. Das Auftreten einer ADHS nach Nikotinkonsum während der Schwangerschaft erklärt sich möglicherweise dadurch, dass während einer kritischen Entwicklungsphase des Gehirns des Fötus die dopaminergen Systeme ungünstig beeinflusst werden. Nach Alkoholmissbrauch der Mütter während der Schwangerschaft sind oftmals sogenannte „Alkoholeffekte“ (bis hin zum Fetalen Alkohol Syndrom) bei Kindern beobachtbar. Diese gehen häufig mit ADHS einher. Diese Kinder sind oft kleiner als ihre Altersgenossen und im Verlauf schwerer zu behandeln als andere Kinder mit ADHS, wofür es bisher noch keine plausible Erklärung gibt (Wurmser 2005; Ware et al. 2012).

Die jeweiligen Effekte waren zunächst sehr plausibel, allerdings bleibt nur ein kleiner Effekt beider Faktoren übrig, wenn man berücksichtigt, dass viele Mütter, die während der Schwangerschaft rauchen und trinken, selber unter einer ADHS leiden, so dass hier wiederum die genetische Komponente dominierend ist (Thapar et al. 2009). Um den Einfluss genauer bestimmen zu können, braucht es mehr prospektive, also in die Zukunft gerichtete, Studien.

Damit besteht der einzige recht übereinstimmend nachgewiesene ursächliche Zusammenhang zwischen Frühgeburtlichkeit und ADHS (Franz et al. 2017). Viele Frühgeborene, insbesondere diejenigen mit extrem niedrigem Geburtsgewicht, zeigen auch in späteren Jahren deutliche Aufmerksamkeitsstörungen, die oftmals im Rahmen einer ADHS gesehen werden. Dies liegt möglicherweise daran, dass bei Frühgeborenen ein Sauerstoffmangel während der Geburt ungünstige Auswirkungen auf bestimmte sauerstoffempfindliche Neurone hat bzw. auch insgesamt Unreife und leichten Schädigungen des Gehirns bei Frühgeburt verantwortlich sind. Auch späte Frühgeborene sind hiervon betroffen und mit zunehmender Unreife des Gehirns und damit extremerer Frühgeburt, steigt das Risiko, eine ADHS zu entwickeln. Interessanterweise zeigen auch reif Geborene mit extrem niedrigem Geburtsgewicht diese Symptome (Groen-Bloekhuis et al. 2011; Lindström 2011).

Zudem sind einige weitere Faktoren gefunden worden, die überzufällig häufig mit ADHS einhergehen, beispielsweise finden sich öfter Probleme bei der Versorgung des Säuglings und chirurgische Eingriffe in den ersten Lebensmonaten des Kindes. Auch eine frühere psychiatrische Behandlung der Mütter, Alkoholmissbrauch beim Vater, beengter Lebensraum, alleinerziehender Elternteil, niedriges Einkommen, niedriges Ausbildungsniveau der Mütter werden berichtet. Umweltgifte, wie Bleibelastung, die mit ADHS im Zusammenhang stehen können, kommen immer wieder in die Diskussion, müssen aber als unspezifisch bewertet werden.

Man sollte sich das Wirkgefüge vor Augen halten, um voreilige Schlüsse zu vermeiden:

Es werden viele dieser Punkte auch als Faktoren genannt, die das Risiko für ganz andere psychiatrische Erkrankungen, wie z. B. Schizophrenie oder Depression, erhöhen.

Diese so genannten Umweltfaktoren sind nicht unabhängig von der genetischen Ausstattung. So könnte beispielsweise die erhöhte Unfallrate in der Schwangerschaft oder das niedrige Ausbildungsniveau der Mutter darauf zurückzuführen sein, dass diese selbst eine ADHS hat. Es handelt sich dann damit um Variablen, die mit einer ADHS bei der...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2023
Zusatzinfo 33 Abb. 6 Tab.
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Partnerschaft / Sexualität
Sozialwissenschaften Pädagogik Schulpädagogik / Grundschule
Schlagworte adhs schule • ADHS Symptome • Aufmerksamkeitsdefizit • Aufmerksamkeitsproblem • Aufmerksamkeitssyndrom • Behandlungsplan • Buch • Diagnose • Differentialdiagnose • exekutive Funktion • Hyperaktiv • Hyperaktivitätsstörung • Hyperaktivitätssyndrom • Klasse • Lehrer • Maßnahmen für die Praxis • Motivationale Funktion • Pädagogische Psychologie • Schule • Schulkind • Störungsbild • unaufmerksam • Unterricht • Vorschulkind
ISBN-10 3-497-61805-5 / 3497618055
ISBN-13 978-3-497-61805-7 / 9783497618057
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