Schneeflocken wie Feuer (eBook)

Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
300 Seiten
mikrotext (Verlag)
978-3-948631-32-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schneeflocken wie Feuer - Elfi Conrad
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SWR BESTENLISTE PLATZ 1 im SEPTEMBER 2023
NDR BUCH DES MONATS JUNI 2023
Anfang der 1960er Jahre: sexuelle Tabus, veraltete Frauenbilder, patriarchale Strukturen. Für die Erniedrigung, die sie jeden Tag erlebt, will sich die 17-jährige Dora rächen. Ihr Opfer ist der Musiklehrer, ihre Waffe ist ihre Weiblichkeit. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln möchte sie ihn verführen.
Der Verführer von Doras Mutter war Adolf Hitler. Als Geflüchtete aus Schlesien hängt sie ihrer Heimat und dem NS-Regime nach. Die Erzählungen der Mutter und die Folgen des Zweiten Weltkriegs prägen Doras Leben. Sechzig Jahre später schaut die Ich-Erzählerin auf ihre Jugend im Oberharz zurück, ordnet kritisch ein und verknüpft ihre Erinnerungen mit der Gegenwart.
Elfi Conrad, geboren 1944, wuchs im Harz auf, studierte Musik und Deutsch in Hamburg und lebt jetzt in Karlsruhe. Mit Leib und Seele lehrte sie dort an Schulen und an der Pädagogischen Hochschule. Daneben vertiefte sie sich in die Fächer Kognitionswissenschaft und Semiotik, in denen sie promovierte. Sie veröffentlichte bisher 'Gedächtnis und Wissensrepräsentation' (Olms-Verlag) und mehrere Romane unter ihrem Pseudonym Phil Mira.
'Schneeflocken wie Feuer lässt sich in seiner kühlen, oft selbstironischen Sachlichkeit und seinen Fragen nach weiblicher Selbstbestimmung und weiblichem Begehren durchaus vergleichen mit den Romanen von Annie Ernaux, Colette oder Simone de Beauvoir.' Beate Tröger, Büchermarkt/Deutschlandfunk
'Es ist ein Buch, das mich in Bann geschlagen hat, verzaubert, regelrecht in andere Sphären verschlagen. ... Das ist eine Zeitreise zurück ins Deutschland des Jahres 1962, in den Harz, es ist die Geschichte einer Verführung einer Frau, die mit den Waffen einer Frau, sie ist in Wahrheit ein junges Mädchen, sich ihren Musiklehrer krallt, gleichzeitig ist es eine große Analyse, woher wir kommen, was wir hinter uns gelassen haben. ... Eine hinreißende Prosa.' Denis Scheck, WDR2 Buchtipp
'Was einen aber so für dieses Buch einnimmt, ist Doras unbändige Energie, dieser unbedingte Lebenswille, der so elendig unterdrückt wird. ... Elfi Conrads Roman verhandelt jedenfalls mit beeindruckender Lebensklugheit und zupackender moralischer Urteilskraft nicht Schuld, sondern Schmerz und was aus ihm folgt, auch gegenwärtig.' Insa Wilke, Süddeutsche Zeitung
'Eine absolute Entdeckung. Dieses Buch katapultiert einen direkt zurück in die 1960er Jahre: die Nachkriegszeit, das Aufwachsen im Schatten der Nazizeit, die in vielen Strukturen natürlich noch zu spüren war, und es geht um die Geschlechterrollen, um die Frage nach Gleichberechtigung. ... Da trifft die Lebenserfahrung einer überzeugten Feministin auf eine junge unerfahrene Frau mit Lebenshunger.' Anne-Dore Krohn, rbb Kultur
',Schneeflocken wie Feuer' ist so besonders, weil sich die Erzählstimme immer der Bedingungen bewusst ist, unter denen ihre Dora handelte. Sie erzählt auf eine Weise, die einen emotional direkt erreicht, aber stets zugleich reflektieren lässt. Und sie zeigt auch die Befreiung einer Frau aus den Grenzen der Erziehung.' Cornelia Geißler, Berliner Zeitung
'Ein autobiographischer Roman, der begeistert. Elfi Conrad erzählt von einer jungen Frau, die sich nach Selbstbestimmung sehnt. Und wie sie das macht, kann einen als Leser wirklich in den Bann ziehen.' Denis Scheck, WDR2 Buchtipp (Online)
'Dieses so ehrliche wie wie kluge Buch über die Befreiung der Frauen von gesellschaftlichen Zwängen, über selbstbestimmten Sex und Körpergefühl, über Liebe und die Suche nach einem Platz im Leben gehört für mich zu den großen Entdeckungen dieses Frühjahrs. Wer Annie Ernaux schätzt sollte sich dieses kühne und unkonventionelle Buch nicht entgehen lassen!' Frank Menden
'Als Dora ihren Blick auf die Vergangenheit richtet, reflektiert sie ihr Handeln und vergleicht unter anderem die Verhaltensmuster der Gesellschaft und die Rechte der Frauen mit der Neuzeit. Eine Reise in die Vergangenheit, die spannend erzählt ist. Die Protagonistin wächst und steht für sich ein.' Henrike Lehmann, ekz Bibliotheksservice
'Radikal. Schamlos. Mehr davon!' Katarina Hellinger @schlimmehelena
'Am Beispiel eines freien Falls in die Schulklassen und Beatkeller der sechziger Jahre, aus der Perspektive der alten wie der jungen Frau, scheint Phil Miras/Elfi Conrads in früheren Büchern bewiesene Fähigkeit auf, mitreißende Handlung, psychologische Analyse und Portrait einer Zeit zu verweben.' Bodo Morshäuser
'Dieser schonungslose Blick auf sich selbst! Ich konnte nicht aufhören zu lesen.' Sarah Raich

Hitze


Handelt es sich wirklich um einen Kellerraum? Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, erinnere mich nur an schummriges Licht. Vielleicht wurden die Lampen ausgeschaltet oder mein Gedächtnis hat einen grauen Schleier über die Erinnerung gelegt. Vermutlich haben ein paar technisch versierte Jungen Lautsprecher aufgestellt und sie mit dem Plattenspieler verbunden; ich bin noch nicht so emanzipiert, dass mich das interessieren würde. Hauptsache, die Musik ist schön laut und lässt sich in meinem Bauch nieder.

Ein Junge wurde abgestellt, die Singles aus den bunten Papierhüllen zu nehmen, auf den Plattenspieler zu legen und die Nadel vorsichtig auf den Rand der Platte zu setzen. Auch Plattenwechsler sind schon erfunden worden, man könnte darauf mehrere Platten gleichzeitig aufstecken. Aber sie haben Nachteile, man kann damit die B-Seite nicht anhören und die Platten fallen unsanft auf den Plattenteller, wodurch Kratzer entstehen können.

Auch ohne Wechsler entstehen oft Kratzer. Sie schmälern den Musikgenuss durch Knacken oder Knistern. Meine Platten zu Hause haben alle leichte Beschädigungen. Manchmal ratscht die Nadel über die Platte und es bleiben Löcher zurück. Die Platte bleibt dann beim nächsten Hören an der beschädigten Stelle hängen.

„Und dann nüscht wie raus an Wannsee“, singt Conni immer wieder, bis ich sie erlöse und den Plattenarm auf der nächsten Rille aufsetze. Zwanzig Jahre später wird die CD erfunden sein, endlich werde ich Musik ohne dieses Knacken hören können. Klares Wasser, in das man eintaucht.

Es ist Sommer. Ich trage spitze Stöckelschuhe (man sagt nicht High Heels), ein enges geripptes Oberteil mit kurzen Ärmeln (es gibt noch keine Tops mit Spaghettiträgern), einen breiten, die Luft abschnürenden Ledergürtel und einen schwingenden Rock mit großen blauen Blumen. Der Rock reicht über die Knie, aber durch den Tüllpetticoat steht er hoch. Es ist kalt. Die Kälte kriecht vom Boden meine nackten Beine herauf und nur an dieser Nacktheit kann ich erkennen, dass es Sommer sein muss. Im Oberharz, in den es meine Eltern nach der Flucht aus Niederschlesien verschlagen hat, ist es auch in den Sommermonaten kalt.

Der Heimatort liegt sechshundert Meter über dem Meeresspiegel. Die technische Universität, die damals noch Bergakademie heißt, wird scherzhaft als „die einzige Uni mit zwei Wintersemestern“ bezeichnet. Im Winter liegt der Schnee meterhoch und ergibt in der Stadt eine feste Eisdecke, die mit Sand bestreut wird. Auf dieser Decke spazieren wir mit Stöckelschuhen und Nylonstrümpfen, die an Strumpfhaltern gehalten werden, zu Partys und Klassenfesten.

Mir ist nur so lange kalt, bis mich der erste Junge zum Tanzen auffordert. „Come on let’s twist again, like we did last summer.“ Die Klassenkameraden tanzen Foxtrott dazu. Den neuen Tanz „Twist“ tanzt man getrennt voneinander, ohne sich anzufassen. Er ist in unserem Bergstädtchen noch nicht angekommen.

Doch ich war gerade aus der Enge ausgebrochen, für zwei Wochen. Ich hatte den „Duft der großen weiten Welt“ eingeatmet, den die Werbung für Peter Stuyvesant-Zigaretten versprach, bunte Fotos in Illustrierten und auf Litfaßsäulen: ein Segelboot, ein Mann mit Zigarette im Mundwinkel, das Meer. Bei mir verfehlt der Spruch seine Wirkung. Die Zigarettenpackungen liegen auf unserem Wohnzimmertisch, aber ich rühre sie nicht an. Habe nur ein oder zwei Mal gepafft, ohne den Rauch durch die Lunge zu ziehen.

Mein Vater ist Kettenraucher. Ist er an der Front dazu geworden, während des Zweiten Weltkriegs? Er wurde als Siebzehnjähriger eingezogen. Gab es noch andere Drogen, damit die Kämpfenden durchhielten? Mein Vater wird mit achtundsechzig Jahren an den Folgen des Rauchens sterben, nachdem ihm ein Bein amputiert wurde.

Der Duft der großen weiten Welt hatte in London auf mich gewartet. Ein Schüleraustausch. Ich wohnte bei einer Familie mit sieben Töchtern, sieben Hunden und sieben Katzen. Ich denke mir das nicht aus. Wenn ich mir etwas ausdenke, hört es sich einigermaßen glaubwürdig an.

Freundliche Leute waren das, die Engländer. Sie gaben sich Mühe, alle gängigen Klischees zu bestätigen. Waren unkompliziert und unkonventionell. Tranken jeden Nachmittag Tee und aßen Ingwerkekse und Haferplätzchen. Mittags brachten sie mir auf mein Zimmer Dosenerbsen mit Dosenfleisch, das ähnlich aussah wie das für die Hunde. Auf den Tagesausflügen gaben sie mir zusammengelegte Toastbrotscheiben mit, zwischen die nur ein Salatblatt geklemmt war. Kopfsalat, ich erinnere mich an den nichtssagenden Geschmack. Ich nahm ein paar Kilo ab, sah aus wie Twiggy, das erste Magermodel, das erst vier Jahre später entdeckt werden wird. Die Töchter waren nett, sie brachten mir den Twist bei.

Ich schwenke gekonnt meine Hüften. Gehe dabei in die Knie, „yeah, let’s twist again like we did last year“ … Einige der Klassenkameradinnen umringen mich. Versuchen, es mir nachzumachen. Ich zeige ihnen, wie der Hauptschwung funktioniert. Es ist nicht einfach, ich habe auch erst zu Hause vor dem Spiegel üben müssen. Ich sehe, wie der Musiklehrer amüsiert zu uns herüberblickt.

Wenn eine Platte von Bill Haley & his Comets gespielt wird, drehen wir alle durch. „One, two, three o’clock, four o’clock, rock … We’re gonna rock around the clock tonight.“ Immer wieder das gleiche Lied.

Rock’n’Roll haben wir zwei Jahre vorher in der Tanzstunde gelernt. Wenn ich Glück habe, gerate ich an einen Jungen, der meine Finger geschickt in seine einrasten lässt, wenn ich davonfliege. Der mir nicht den Arm verrenkt, wenn ich unter seinem durchschlüpfe. Der mich vielleicht über die Schulter werfen kann. Das ist jedoch gefährlich, da ich auf meinen Stöckelschuhen landen muss. Flache Schuhe wären praktisch, aber damit käme ich mir zu klein vor, unattraktiv. Könnte außerdem nicht kokett mit den Hüften wackeln.

Ja, ich beherrsche das Repertoire: neben dem Hüftwackeln das Herausstrecken des schaumgummiummantelten Busens, das Schürzen der Lippen zum Schmollmund, den Augenaufschlag mit Unschuldsmiene, um die Kindfraulichkeit zu betonen. Statt Lateinvokabeln zu lernen, haben wir BB studiert. Brigitte Bardot, das Idol. Haben uns abgeguckt, wie jene Künstlichkeit funktioniert, die Männer auf Hundertachtzig bringt.

Mit meiner geballten Hitze, der keinerlei Entladung gegönnt wird – nur Männer haben einen Höhepunkt und nur sie können sich selbst befriedigen, sagt meine Mutter, und deine Unschuld musst du mindestens bis zwanzig bewahren wegen der Schwangerschaftsgefahr –, würde ich mich am liebsten auf das nächstbeste, halbwegs männliche Exemplar stürzen. Aber ich weiß, dass ich es verschrecken würde, so geht das Spiel nicht.

Es funktioniert auch Jahrzehnte später nicht, als ich mich befreit habe von alten Mustern und auch den Mann als emanzipiert wähne. Er reagiert nach wie vor ängstlich auf draufgängerische Frauen.

Hitze also, die sich mehr und mehr aufstaut.

Streichelspiele in dunklen Ecken mit Stefan, dem drei Jahre älteren Freund. Dabei erfährt nur er Befriedigung durch meine Hände, während er meine Brüste bis zur Unerträglichkeit befingert. Weder er noch ich kommen auf die Idee, seine Hände könnten mit mir etwas Ähnliches anstellen wie meine Hände mit ihm.

Herumschäkern mit einem Studenten, Ulli, sieben Jahre älter. Er lädt mich zu seinen Verbindungsfesten ein. Fast alle Mädchen der Schule, die alt genug sind, werden zu solchen Festen von Studenten eingeladen, denn Frauen sind hier Mangelware. In der männerreichsten Stadt Europas werden Frauen und Mädchen angestarrt wie Wesen von einem anderen Stern.

Treffen mit einem anderen Studenten, dessen Namen ich vergessen habe. Er ist mir etwas unheimlich, trotzdem gehe ich zu den Festen seiner schlagenden Verbindung. Er hat einen Schmiss an der Stirn, schwafelt von Kameradschaft und Tapferkeit, die man besitzen müsse, um mit einem Schwert ungeschützt auf sich eindreschen zu lassen. Ich kann dieses Ritual nicht besonders tapfer finden, denn ich habe eine spartanische Erziehung genossen. Als Kind habe ich mich für eine Belohnung ohne Betäubung am Knie nähen lassen und mein Vater gab mir Ohrfeigen, die mich wegen ihrer Heftigkeit an die Wand prallen oder hinfallen ließen. Danach nötigte er mich zum Lächeln, andernfalls hätte ich eine weitere Ohrfeige kassiert.

Die gleichaltrigen Jungen der beiden Klassen wirken unreif. Sollten sie geschlechtliche Begierde spüren, zeigen sie es nicht. Sie wissen, sie haben keine Chance. Die Mädchen sind alle liiert, mit einem Jungen, der die dreizehnte Klasse besucht, oder einem Mann, der an der Bergakademie studiert. Während langsamer Songs, bei denen man auf der Tanzfläche herumeiert (heißt das noch Stehblues, diese merkwürdige Art des Tanzens, bei der man fast auf der Stelle tritt und sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagert?), versuchen sie nicht mal, uns an sich zu drücken.

Dabei hätte ich nichts dagegen, ihre Begierde durch den Stoff hindurch zu spüren. Ich habe mich daran gewöhnt, Lust als Ersatz für ihre Sättigung zu betrachten. Genauso, wie ich mich daran gewöhnt habe, an einem Abend möglichst viele männliche Trophäen zu ergattern.

An ihren Augen kann ich erkennen, ob ich sie in die Reihe meiner Eroberungen eingliedern kann oder nicht. Mitzuzählen brauche ich nicht, meinen Erfolg messe ich an meiner Stimmung.

Es war schon länger in meinem Kopf, beinahe unbemerkt: Irgendwann würde ich diese besondere Trophäe ergattern. Und nun ist er zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Dieser fast Dreißigjährige, gegen den die siebzehn- oder achtzehnjährigen Jungen wie Kinder erscheinen.

Eigentlich wollte ich mich nach dem Klassenfest...

Erscheint lt. Verlag 15.6.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Partnerschaft / Sexualität
Schlagworte 17 Jahre • 60er Jahre • Alter • Aufklärung • Befreiung • Bestenliste • Blockflöte • BRD • Deutschland • Emanzipation • Erinnerung • Flucht • Frauenbild • Harz • Klassische Musik • Musiklehrer • Nachkrieg • Oberharz • Party • Patriarchat • Revolution • Rock n Roll • Roman • Schlager • Schlesien • Sechziger • Sexualität • sexuelle • Sexuelle Befreiung • SWR • Teenager • verliebt in den Lehrer • Westdeutschland • Winter • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-948631-32-8 / 3948631328
ISBN-13 978-3-948631-32-1 / 9783948631321
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