So bin ich - und du bist anders (Fachratgeber Klett-Cotta, Bd.) (eBook)
168 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12075-2 (ISBN)
Klaus Blaser, Dr., ist Psychiater, Psychotherapeut und Bewusstseinsforscher. Neben seiner Arbeit in der eigenen psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis in Basel gründete er die 'School for Boundary Awareness'; er leitet Seminare und Weiterbildungen in Deutschland, der Schweiz und in den Niederlanden.
Klaus Blaser, Dr., ist Psychiater, Psychotherapeut und Bewusstseinsforscher. Neben seiner Arbeit in der eigenen psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis in Basel gründete er die "School for Boundary Awareness"; er leitet Seminare und Weiterbildungen in Deutschland, der Schweiz und in den Niederlanden.
Kapitel 3
Wie Ich-Fremdes von mir erkannt wird
Weil wir mit unserer Umgebung in Kontakt sind und weil ein Austausch stattfindet zwischen der Außenwelt und unserer Innenwelt, geschieht es häufig, dass ein Gefühl, ein Bild oder auch eine Ansicht in unseren Innenraum gelangt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Dabei bemerken wir weder, wie Fremdes in unseren Raum eindringt, noch wie lange es bleibt. So kommt es, dass eigene Gefühle und fremde Gefühle, z. B. eine eigene und eine fremde Wut, sich in unserem psychischen Innenraum aufhalten und als ein einziges Gefühl, eine einzige Wut, wahrgenommen werden. Da uns diese Dynamik nicht bewusst ist, sind wir nicht in der Lage, die zwei Gefühle als verschieden und jeweils eigenständig zu erkennen. Trauen wir uns, unsere Gefühle, vor allem auch die unangenehmen, genau anzuschauen und haben wir Kenntnis von diesem Gefühlsaustausch, dann können wir auch Jahre nach Aneignung dieser Gefühle die eigenen von den fremden Gefühlen unterscheiden.
»Imke ist eine 32-jährige Frau, die in die Sprechstunde kam, weil sie unkontrollierte Wutanfälle hatte. Es sei ein Wunder, dass sie noch nie jemanden dabei verletzt habe. Sie habe vor einem halben Jahr ihre zweijährige Beziehung zu einem 34-jährigen Mann beendet, weil sie ihn schützen wollte vor ihren Wutausbrüchen. Die Zornanfälle kamen plötzlich, steigerten sich und äußerten sich durch Schreien, Schimpfen, Demütigen des Gegenübers sowie manchmal auch durch Herumwerfen von Gegenständen. Nach der Wutentladung war sie immer völlig erschöpft, weinte stundenlang und bereute ihre Taten. Ihr Freund war am Ende seiner Kräfte und wusste nicht mehr weiter. Gemeinsam mit ihrem Therapeuten suchte sie zuerst in der Beziehung zum Exfreund nach einer Ursache. Doch der Mann, der selbst selten aufgebracht war, gab ihr keinen Grund für ihr Verhalten. Ihr Benehmen war ihm gegenüber nicht angemessen und völlig fehl am Platz, wie sie selber eingestand. Es zeigte sich, dass sie als Kind vom Vater, der unter Alkoholeinfluss jähzornig wurde, öfter grundlos beschimpft worden war. Von ihrer Mutter wurde sie gelegentlich als »dummes Huhn« oder »Hure« verunglimpft. Im Verlauf der Therapie wurde es Imke immer deutlicher, dass ihre Wut nicht einfach eine große, schwere Masse war, die sie Wut nannte, sondern dass dieser Zorn aufgeteilt werden konnte in drei Einheiten. Ein Teil gehörte ursprünglich ihrem Vater, der andere gehörte früher ihrer Mutter und der dritte Teil war ihr eigener Zorn. Sie konnte nicht nur die Wut unterteilen, sondern auch ganz klar die verschiedenen Qualitäten der drei »Wutarten« unterscheiden. In einer therapeutischen Sitzung, wo sie die fremden Teile des Zorns der Mutter, respektive dem Vater zurückgab (wir werden später noch darauf zurückkommen), fand eine Art Heilung statt. Mit der übrig gebliebenen eigenen Wut kann sie jetzt bestens umgehen, so versicherte sie dem Therapeuten später. Sie habe ihrer Wut jetzt einen guten Platz gegeben, und vielleicht werde sie diese eines Tages auf eine gute Art nutzen können.
Wie dieses Beispiel zeigt, war Imke verzweifelt, dass sie ihre Wut nicht verorten konnte. Sie ahnte, dass da etwas in Ordnung gebracht werden musste. Obwohl sie irgendwie wusste, dass ihr Zorn zum größten Teil nicht ihr eigener war, konnte sie diese Vermutung nicht benennen und vor allem auch nichts damit anfangen.
Die meisten von uns haben wahrscheinlich Gefühle im eigenen Innenraum, die nicht die eigenen sind, die irgendwann irgendwo dort hinterlassen wurden. Dies sind die Gefühle, die keinen Sinn machen, die in der Situation nicht adäquat sind, nicht angebracht sind, uns überfluten, uns blockieren oder machtlos machen. Diese Gefühle wollen wir begreifen. Wir alle kennen das Verlangen, Gefühle verstehen zu wollen. Es sind vor allem die ich-fremden Gefühle, die uns zu diesem Wunsch leiten. Mit den eigenen Gefühlen sind wir meistens im Einklang, die brauchen wir nicht zu erklären. Dem Bedürfnis, Gefühle nachvollziehen zu wollen, begegnen wir z. B. häufig bei der Angst. Unerklärliche Ängste sind oft übernommene oder bei uns deponierte Gefühle, machen also für uns keinen Sinn, sind in unserer Biographie ein Fremdkörper und somit störend.
»Lilian bekannte, dass sie, obwohl sie politisch gegen Ausländerfeindlichkeit sehr engagiert war, immer wieder einen Fremdenhass verspürte. Sie musste diese Gefühle aktiv unterdrücken und merkte, wie auch Angst aufkam, jemand könne diese Gefühle bei ihr entdecken. Wenn sie einen fremdenfeindlichen Artikel las, freute sie sich heimlich darüber und schämte sich anschließend. Ihr Kopf und Herz sagten klar, alle Menschen sind gleich wertvoll und sollten gleich behandelt werden. Die Herkunft dieser unsinnigen Gefühle konnte relativ einfach lokalisiert werden. Ihr Vater war während des zweiten Weltkriegs bei den Nazis NSDAP-Mitglied und aktiv an der Judenverfolgung beteiligt gewesen. Als sie den Zusammenhang erkannte und sich auch eingestehen durfte, dass diese Gefühle zum Vater gehören, war sie erleichtert. Es gelang ihr jetzt, z. B. über Immigrationsfragen unbeschwert zu diskutieren.
Gefühle, die man loswerden will, sind ebenfalls meistens Gefühle, die ich-fremd sind. Die Gefühle, die zu uns gehören, können wir selber tragen, diese brauchen wir nicht abzuschütteln. Oft ist es uns gar nicht bewusst, dass wir mit unserem Verhalten versuchen, Gefühle bei anderen loszuwerden, obwohl es durchaus verständlich ist, dass wir uns von den ich-fremden Gefühlen befreien möchten. Weil wir das aber nicht auf adäquate Weise tun, werden sie von einem Territorium zum anderen weitergereicht, anstatt an die Person zurückgegeben zu werden, der sie angehören. Die »Projektion« ist ein Beispiel für die Gefühlsübertragung von Person A auf die Person B. Die Projektion erfolgt für den Projizierenden meistens unbewusst, kann von Therapeuten, aber auch von sogenannten Laien, als solche erkannt werden. Wenn jemand uns auf unser Projektionsverhalten aufmerksam macht, sollten wir dies ernst nehmen und dankbar sein für den Hinweis. So können wir mit dem Nachforschen beginnen, welche Gefühle wir projizieren und von wem wir diese Gefühle ursprünglich erhalten haben. Nur so kann das unbewusste Weiterreichen beendet werden.
Wir haben in diesem Kapitel vor allem auf die Gefühle Bezug genommen und werden uns jetzt noch kurz ein Beispiel aus dem Bereich der Ansichten anschauen. Es gibt einen schönen Spruch: »Hast du eine Meinung und du leidest darunter, dann hast du eine falsche Meinung«. Dieser Satz könnte jetzt modifiziert werden und dann folgendermaßen lauten: »Hast du eine Meinung und du leidest darunter, dann ist diese Meinung wahrscheinlich durch einen Fremden bei dir hinterlassen worden«.
Trennung der ich-fremden Ansichten von den eigenen Ansichten ist meistens einfacher als die Trennung der eigenen und ich-fremden Gefühle. Oft übernehmen wir die politischen, religiösen, moralischen Ansichten unserer Eltern und unseres Kulturkreises. Tausende Menschen verdienen ihr Geld mit dem Versuch, andere zu überzeugen, also ihre Ansichten in andere einzupflanzen. Die Werbebranche, die Medien, die Grafikdesigner, die Politiker usw., sie alle sind spezialisiert in der zwischenmenschlichen Ansichts- und Bilderweitergabe. Wenn wir darauf achten, können wir eine körperliche Reaktion wahrnehmen, wenn jemand ungewünscht versucht, seine Ansichten in unserem Territorium zu platzieren. Gut spürbar wird diese Weitergabe, wenn uns die Grenzüberschreitung bewusst wird. Eigentlich sollten wir den anderen immer um seine Erlaubnis bitten, wenn wir eine Meinung, beziehungsweise eine Ansicht, zu einem Thema äußern möchten. Wie wir später noch sehen werden, kann das Festlegen der Ansichtszugehörigkeit einen wichtigen Beitrag zur Konfliktlösung oder zumindest zur Konfliktmilderung leisten.
Unsere Sprache kann uns dabei helfen, zu einem frei uns selbst beobachtenden Individuum zu werden. Der Satz: »Ich bin wütend« hält uns oft davon ab oder verunmöglicht uns sogar durch die Identifikation mit der Wut, das Gefühl offen und mit Distanz anzuschauen. Erst wenn wir präzise hinschauen, und manchmal braucht es viel Mut dazu, können wir unterscheiden, ob ein Gefühl, in diesem Beispiel die Wut, uns oder einem anderen zugehörig ist. Der Satz »Ich bin wütend« erschwert dies. »Ich habe eine Wut« oder noch besser, »ich verspüre eine Wut«, vereinfacht das Hinschauen. Also: Nicht ich bin streitsüchtig, ich bin gereizt, ich bin...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2023 |
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Reihe/Serie | Fachratgeber Klett-Cotta |
Fachratgeber Klett-Cotta | Leben Lernen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Partnerschaft / Sexualität |
Schlagworte | Achtsame Begegnung • achtsame Kommunikation • Achtsamkeit • Beziehung • beziehungsdynamik • Beziehungsgestaltung • Eltern • Familie • Grenzen setzen • Kommunikation • Partner • Partnerschaft • psychische Grenzüberschreitung • psychischer Innenraum • Selbstschutz • Selbstwahrnehmung • Übergriffigkeit • Zwischenmenschlicher Austausch |
ISBN-10 | 3-608-12075-0 / 3608120750 |
ISBN-13 | 978-3-608-12075-2 / 9783608120752 |
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