Der Fußgänger (eBook)
160 Seiten
Gräfe und Unzer (Verlag)
978-3-8338-8211-1 (ISBN)
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Impressum
Wichtiger Hinweis
Prolog
Womit wandern?
Mit wem wandern?
Wohin wandern?
Wie schnell wandern?
Epilog
Wigald Boning
Womit wandern?
So alt das Gehen, so groß ist das Bestreben des Menschen, sich und sein Tun immer wieder neu zu erfinden.
So alt das Gehen, so groß ist das Bestreben des Menschen, sich und sein Tun immer wieder neu zu erfinden. Beim Reisen zu Fuß ist dies besonders augenfällig. Zügiges Gehen heißt neuerdings »Speed-Hiking«, und da ich dies schreibe, sind gewiss gleich mehrere Werbeagenturen auf der Suche nach weiteren Bezeichnungen. Rapid Feet, Forward Going, Steps ahead. Ähnlich verhält es sich mit dem wenigen, was zum Wandern für erforderlich gehalten wird. Unterschätzen wir womöglich altertümliche Ausrüstungsgegenstände, setzen allzu sehr auf die chemischen Lösungen unserer Ära? Beispiel Rucksack. Wenn man der zeitgenössischen Reklame trauen darf, ist wandern ausschließlich mit einem Traggestellrucksack aus einem Hause à la Globetrotter möglich. Nur ein mehrere Hundert Euro teures Modell der neuesten Generation ist in der Lage, Kleidung, Ausrüstung und Proviant in einer Weise aufzunehmen, die ein Vorwärtskommen überhaupt möglich macht. Die Verwendung von Rucksäcken, die mehr als drei Jahre auf dem Buckel haben, führt unweigerlich zu starken Rückenschmerzen, die bis in Knie, Knöchel und Kapuze ausstrahlen, zu irreversiblen Schäden, auch an den Schultern, im Beckenbereich und an den Augen. Den Augen? Gewiss! Das grelle Design vergangener Wandermoden frisst sich tief in die hilflose Retina, belastet ferner die Psyche des Betrachters und vermittelt außerdem den Eindruck, dass der Träger ebenso von gestern ist wie sein Rucksack, mithin altes Eisen, ein abgemeldeter Hans Wurst beziehungsweise eine Wurstin, fürderhin nicht ernst zu nehmen, ein Mensch, der sich ins Off befördert, womöglich auch noch ein Handy aus dem letzten Jahr mit sich herumträgt, schlimm-schlimm. Da Geschmack- und Erfolglosigkeit bekanntlich ansteckend sind, heißt es für den Betrachter: Am besten beide Augen schließen und sodann nichts wie Reißaus nehmen. Hat man sich in Sicherheit gebracht und ist der optische Schock verarbeitet, gilt es verzugsfrei die Geschmackspolizei zu verständigen. Wo hat sich der Vorfall ereignet? Handelt es sich beim wandernden Gefahrenquell, oh weh, um eine Seniorin, einen Senior, einen Nonkonformisten, einen Waldschrat, allesamt Trouvaillen aus dem Spülsaum der Gesellschaft? Gefährdet nur der Rucksack die öffentliche Sicherheit, oder ist womöglich auch das Wams grell gefärbt, die Hose aus den Achtzigern, die Mütze nicht atmungsaktiv? Ganz wichtig: Spielen Sie nicht den Helden und ziehen den Modeverächter auf eigene Faust aus, sondern überlassen Sie dies den Spezialkräften der Geschmackspolizei. Fast noch wichtiger: Lassen Sie sich nie, niemals einreden, man könne auch in ollen Neon-Windbreakern vom Speicher aufbrechen! Kann man nicht, der Wind wird in diesen eben nicht gebrochen, Ihnen droht folglich der Tod durch Erfrieren bzw. Verblasung, oder doch wenigstens der soziale Tod wegen Hässlichkeit.
»Beispiel Rucksack. Wenn man der zeitgenössischen Reklame trauen darf, ist wandern ausschließlich mit einem Traggestellrucksack aus einem Hause à la Globetrotter möglich.«
Das Geheimnis der roten Aktentasche
Klar, man kann sich natürlich immunisieren. Voller Abenteuerlust habe ich mich bereits vor langer Zeit den geschilderten Gefahren bewusst exponiert. Ein Spaziergang im Bergischen Land kommt mir in den Sinn, Mitte der Achtzigerjahre, kurz nach dem Besuch am Aletgletscher. Ich spielte mit meiner Punk-Jazz-Band KIXX auf den »Wuppertaler Postnuklearen Aktionstagen«, und bei mildem Abendlicht schnappten wir ein wenig Luft, ehe wir uns auf unseren Auftritt vorbereiteten. »Wir« – das sind in diesem Fall ich und zwei Mitglieder jenes Wuppertaler Künstlerklüngels, der hinter diesem ebenso mitreißenden wie hirnrissigen Festival steckte. Ich wiederum steckte in einem Leinenanzug, den ich mir wenige Tage zuvor in einem der damals populär werdenden Second-Hand-Läden gekauft hatte, pro Kilo 20 Mark, oder so ähnlich. An den Füßen trug ich spitz zulaufende Straßenschuhe aus den Fünfzigern, Aki-Kaurismäki-Style, deren Absätze allerdings so abgelaufen waren, dass die blanken Nägel in Kontakt mit dem Asphalt traten, was sie weniger nach 20 Mark denn nach Pfennigabsätzen klingen ließ, klack-klack, klack-klack.
Mein erster Wanderrucksack, randvoll mit hart gekochten Eiern.
Die beginnende Dämmerung tunkte das Weichbild der Schwebebahnstadt in leuchtendes Orange, und beim Beschlendern einer steil in das Tal der Wupper hinabführenden Straße machten wir eine atemberaubende Entdeckung: Wenn ich die Eisenstifte, die aus meinen Schuhen ragten, mit Verve über den Asphalt streifte, so wie Streichhölzer über eine Reibfläche, kam es zu opulentem Funkenflug. Eine wunderkerzenhafte Schleppe hinter mir herziehend, sorgte ich bei meinen Begleiterinnen für Ahs und Ohs, und mir wurde klar, dass auch Schuhe, deren Beschaffenheit nicht nur einer Fernwanderung, sondern schon einem kleinen Spaziergang theoretisch im Wege steht, praktisch enorme Vorzüge haben können, nicht zuletzt optisch. Als wir das Ufer der Wupper erreichten, war es fast dunkel geworden, und ich zum Funkenmariechen. Lustvoll schlurfte, schrappte ich über den Teer und fühlte mich wie der Halleysche Komet, der hellste unter den kurzperiodischen Kometen, letztmals in Erdnähe mit bloßem Auge sichtbar im Jahr 1986 – also ungefähr während der Wuppertaler Postnuklearen Aktionstage, und das nächste Mal 2061 – dauert also noch ein Weilchen. Der Halleysche Komet verliert im Laufe der Jahrhunderte an Helligkeit, was mit der Freisetzung von Gasen und Staub bei intensiverer Sonneneinstrahlung zusammenhängt – in Sonnennähe verliert er bis zu 50 Tonnen Masse pro Sekunde. Klingt nach extremer Diät, trotzdem reicht es mindestens seit der Antike für beständige, viel rezensierte Tourneetätigkeit. Meine Schuhe hingegen verloren mit jedem Ratsch neben dem Funkenschweif einige Metallspäne der hervorstehenden Nägelchen, und überdies reichlich Absatzfurnier und Sohlenkork. Und so war meine mobile Feuerwerksanlage bereits nach wenigen Tagen außer Betrieb und meine Kometenwanderung endete vorläufig. Ich möchte mich nur ungerne langfristig festlegen, aber sollte ich 2061 noch gehfähig sein, so werde ich rechtzeitig zur Rückkehr des Halleysche Kometen erneut Pyro-Pantoffeln anziehen und den himmlischen Vagabunden zum Duett auffordern.
Ein deutlich haltbareres Wanderutensil ist mein roter Ranzen. Nein, ich trug ihn nicht in der Schule, aber meine Kladden steckten in ähnlichen Tornistern, ehe die Firma Scout 1975 wenigstens in Westdeutschland das Ancien-Ranzen-Régime hinwegfegte. Leder galt nach dieser Wegscheide der Gepäckgeschichte als rückständig und schwer, man meinte damals, das hohe Eigengewicht der Traditionstaschen belaste die zarten Schülerrücken, und der kunstfaserige Scout versprach Abhilfe. Eine weitere Innovation dieser von der Alfred Sternjakob GmbH in Frankenthal (Pfalz) entwickelten und bis 1990 ebenda hergestellten Revolutionsranzen war die Integration von Katzenaugen in die Verschlüsse, was die Verkehrssicherheit des Trägers sichtbar erhöhte. Die klassische Aktentasche mit Trageriemen wurde mitleidslos ausrangiert wie die Dampfmaschine oder die ostfriesischen Häuptlinge.
Aber was hat die Revolution gebracht? Sind die Rücken der Scout-Träger wirklich gesünder? Verlässliche Zahlen kann ich keine finden, aber gefühlt hat heute ein jeder Rücken, auch und gerade jene, die nicht lebenslang Kraxen, Mehlsäcke und eben Lederaktentaschen mit einschneidend schmalen Trageriemchen schleppten. Eher im Gegenteil: Wer sich sein Leben lang über die Riemchen ärgert, bekommt gar nicht mit, dass die Bandscheiben vom Dreier gesprungen sind, und zwar alle. Schmerz, so lehrt das Leben, ist nur so lange spürbar, wie ihn kein stärkerer Schmerz zur Petitesse werden lässt.
Die Katzenaugen wiederum haben selbstverständlich unzählige Leben gerettet, aber heute ist ein original Lederranzen aus der Ära meiner Kindheit eine Attraktion. Wenn ich damit auf einem herkömmlichen Vorstadtgehweg spaziere, spricht sich das Unikum auf meinem Rücken zügig herum. An den Fenstern der Mietskasernen erspähe ich ältere Hausfrauen, wie sie mit Lockenwicklern im Haar ihren Freundinnen vom roten Ranzen in ihrer Straße erzählen. Katzen nähern sich vorsichtig, legen den Kopf schief, Blauracken und Eichelhäher setzen sich auf das patinierte Klappendach, Fahrradfahrer steigen ab und schieben, sobald sie meiner Aktentasche angesichtig werden, und der Motor des gemeinen Automobils wird stantepede abgewürgt, wenn ich im Lichtkegel eines Wagenlenkers erscheine. Autos, die das autonome Fahren beherrschen und sich mir von hinten nähern, bleiben sowieso stehen und verweigern für zwölf Stunden die Wiederinbetriebnahme. Doch, stimmt wirklich, Elon Musk sagt dazu bisher nichts, ich weiß, aber ich würde doch niemals lügen, schon gar nicht, wenn’s um meinen roten Ranzen geht!
Dass ich mit meinem roten Ranzen nie überfahren wurde, könnte (Arbeitshypothese zwei) auch damit zusammenhängen, dass ich in meinem Wanderalltag, von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen, autoarmen Wegen den Vorzug gebe. Alle Welt fährt heutzutage SUV, aber eben nicht auf den Wegen, für die sie gemacht sind – gut so!
Übrigens habe ich neben meiner Aktentasche, die auf dem Umschlagbild dieser Publikation prominent platziert ist, noch ein weiteres Spezialgepäckstück im Einsatz, nämlich einen Jägerrucksack von der Firma Parforce....
Erscheint lt. Verlag | 4.10.2022 |
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Reihe/Serie | Edition Humor | Edition Humor |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | Bewegung • Comedian • Genial daneben • Glück • Jakobsweg • Joggen • Lebensführung • Lebenshilfe • lol • Marathon • Meditation • Mental Health • Persönlichkeit • Ratgeber • Sachbuch • Selbstfindung • Spazierengehen • Spaziergang • spiritualität beim Wandern • Stress • Wandern • Wanderrouten • work life balance • Zu Fuß • zu sich finden |
ISBN-10 | 3-8338-8211-5 / 3833882115 |
ISBN-13 | 978-3-8338-8211-1 / 9783833882111 |
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