Mutters Intrigen, Einsteins Irrtum und das Ende der gelben Linie (eBook)

Überleben in einer narzisstischen Familie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
97 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-347-66117-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mutters Intrigen, Einsteins Irrtum und das Ende der gelben Linie - Céline Legrain
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die Folgen von Kindesvernachlässigung aus der Sicht des Kindes und deren Bewältigung

Der Anfang liegt weit zurück

Stella zog das Pech an wie die Motten das Licht. Insbesondere im Hinblick auf die Auswahl ihrer Eltern. In ihrem Leben ging anfangs so ziemlich alles schief was nur schief gehen konnte. Ihre Eltern waren so kalt wie Fische und überhaupt nicht an ihrer Tochter interessiert, eine echte Katastrophe, Geschwister nicht vorhanden, Großeltern zwar vorhanden aber nicht willig und der Zeitpunkt an dem ihr Leben begann war auch nicht ohne.

Nein, sie erlebte nicht die eine große, alles überschattende zerstörerische Katastrophe. Den einen schweren Unfall, den einen Todesfall, die eine schicksalsentscheidende Krankheit. Nein, Stella erlebte nichts von alle dem. Kein Ende mit Schrecken, dafür aber ein Schrecken ohne Ende. Sie erlebte eine kontinuierliche nicht enden wollende, mehrere Jahrzehnte andauernde Aneinanderreihung von kleinen aber zutiefst verletzenden Vorfällen. Als hinge sie an einem Tropf der ihr in homöopathischen Dosen beständig und ohne Unterbrechung Hass, Häme, Einsamkeit und Angst zuführte. Verursacht von Menschen, die aus egoistischen Motiven handelten und die nicht davor zurück schreckten dabei über Stellas seelische und manchmal auch physische Leiche zu gehen, schlimmer noch: einige hatten sadistische Freude an Stellas Angst und Verzweiflung und sie begingen diese Taten in der vollen Absicht Stella zu schaden. Und ausgerechnet ihre Eltern waren die Hauptverursacher, eben jene beiden Menschen, denen ein Kind am meisten vertraut und denen jedes Kind ohne Argwohn begegnet. Einzelne dieser Vorfälle waren vielleicht zu verkraften, ihre Summe jedoch zerbrach Stellas Seele wie ein teures Glas dass auf dem Steinboden zerspringt. Nur langsamer. Sozusagen in Zeitlupe. Stückchen für Stückchen.

Stella wurde 1960 geboren. Der Krieg war seit 15 Jahren vorbei, eine Zeitspanne, die für die Genesung der menschlichen Seele gerade einmal ein un-zureichender und unbedeutender Wimpernschlag ist. Die Menschheit war durchseucht9 von traumatisierten Männern und Frauen, Trinkern, Neurotikerinnen, Verlorene, Einsame und Brutale über die sich viele andere aus Unkenntnis amüsierten. Stella machte da keine echte Ausnahme. Der Alkoholiker aus dem Haus an der Ecke sorgte auf seinem unsteten, schwankenden, mitunter halbstündigen Heimweg, der ihn, die volle Straßenbreite nutzend, von Zaun zu Zaun mühsam die knappen hundert Meter von der Kneipe nach Hause führte, für große Erheiterung. Der ehemalige Matrose, den alle nur „Süden“ nannten, war sowohl nüchtern als auch betrunken ein freundlicher Geselle, der überall gerne gesehen war. Seine Exzesse wurden von allen als Kavaliersdelikt und als vollkommen harmlos eingestuft - außer von seiner Frau. Die machte sich oft Sorgen um ihn wenn er nicht nach Hause kam. Dann klingelte sie an den Haustüren in der Nachbarschaft und suchte ihn. Nicht zornig sondern ehrlich besorgt und tieftraurig. Sie wußte wohl um die Gründe seiner Trunksucht. Unzählige Männer waren während des Krieges damit konfrontiert worden, einen Menschen von Angesicht zu Angesicht töten zu müssen um nicht selbst getötet zu werden. Manch einer musste eine irrwitzige Entscheidung fällen: Sollte er im Kugelhagel des Feindes oder vielleicht durch die Kugel des eigenen Kameraden sterben, der mit der Aufgabe betraut war all jene zu erschießen die aus Angst wieder zurück in den Schützengraben wollten? Vielleicht gehörte „Süden“ auch zu ihnen. Oder musste er Menschen von Angesicht zu Angesicht töten? Nur eben auf See.

Unzählige Frauen waren ebenfalls vom Krieg und seinen Folgen gezeichnet. Viele mussten ihren Vergewaltigern ins Gesicht sehen. Die Frauen der Verlierer empfangen die Kinder der Gewinner. Kinder litten, weil sie aus diesem Grund in ihrem Familien ungewollt und nur geduldet waren. Und viele Mütter standen vor der übermenschlichen Aufgabe, die Kinder ihrer Vergewaltiger versorgen und sogar lieben zu müssen. Viele Mütter haben es nicht geschafft. Viele Kriegsheimkehrer nicht und viele Kinder auch nicht. So, wie der Sohn der Nachbarin, deren Mann an der Front kämpfte während sie, von russischen Soldaten vergewaltigt, gegen Ende des Krieges einen Jungen zur Welt brachte. Jahrelang war sie ohne Lebenszeichen von ihrem Mann, der erst fünf Jahre später - sowieso schon seelisch gebrochen - vor der Tür stand. Sie schafften es nicht, ein gemeinsames Kind zu zeugen. Der Junge, Frucht der Vergewaltigung, endete als Alkoholiker in einem Pflegeheim noch bevor seine Eltern Rentner wurden.

Und nebenbei musste aus den Trümmern der Vergangenheit wieder ein Zuhause aufgebaut werden. Dabei fehlte es an allem: Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Baumaterial, Schutz und Sicherheit. Der Kampf ums Überleben war gnadenlos. Die Mordrate in Deutschland war nie so hoch wie unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg. Von Geborgenheit konnten die Menschen nur träumen.

Wie viele Menschen möglicherweise von den NS-Gräueltaten gewusst haben aber aus Selbstschutz schwiegen, vielleicht nicht fähig waren sich diese kolossalen Verbrechen einzugestehen. Wie viele Menschen unüberlegt mitmachten und erst später ihre Schuld erkannten - oder davor weglaufen mussten weil sie sie nicht ertragen haben. Wie viele Menschen ermordet, wie viele Menschen Angehörige verloren hatten oder unvorstellbaren Gräueltaten ausgesetzt waren. Manche hatten gleich zweimal einen Krieg erlebt, der ihnen jeden seelischen Halt nahm. Doppelte Traumatisierung, doppelt so viele Ängste und Dämonen. Und alle erlebten Hunger und Kälte.

All diese zahllosen Männer, die zum Töten gezwungen waren um nicht selbst zu sterben, all diese Frauen, die die Vergewaltigungen, vielfach auch der Zwang zur selbstgewählten Prostitution um nicht zu verhungern oder die Kinder verhungern zu lassen, all die Männer und Frauen die blind und gedankenlos dem Nationalsozialismus folgten verloren ihre humane Unschuld, die ihnen bislang das Gefühl gab, ein Mensch von Wert zu sein; sie waren plötzlich Schuld am Tod von Menschen oder fühlten sich lebenslang beschmutzt und erniedrigt. Es gab keine Möglichkeit diese gigantische seelische Verletzung aufzuarbeiten. Zudem war in diesem Meer aus Angst und Schuld einfach kein Platz für die Nöte der Kinder. Später, als Stella in Gesprächen mit Freunden, Bekannten und ehemaligen Nachbarn versuchte, Licht ins Dunkel ihrer frühen Lebensgeschichte zu bringen, hörte sie ab und zu von ihnen dass sie durchaus die schlimmen Umstände in ihrer Familie gesehen haben, sie aber nicht in der Lage waren Stellas Mutter zur Rede zu stellen. Mutter, die ein ausgesprochen unangenehmer Mensch sein konnte, hatte eine zweifelhafte Gabe. Ihre rhetorischen Fähigkeiten übertrafen stets die Ihrer Mitmenschen. Ihre präzise Wortwahl, die feinfühlige Intonation, ihr untrügliches Gespür für den richtigen Moment und ihr kompromissloser Wille andere zu verletzen verschaffte ihr den Freiraum den sie brauchte um von niemanden zur Rede gestellt zu werden. Man ging ihr geflissentlich aus dem Weg. Damit war Mutter quasi unantastbar. Niemand wagte es sie auf die Vernachlässigung der Tochter anzusprechen.

Die aus dem gigantischen seelischen Trümmerfeld des zweiten Weltkriegs entstandene Sehnsucht nach Normalität und Frieden erschuf, basierend auf dem Wirtschaftswunder, eine neue heile Welt, verpflanzte die vergewaltigten, müden und ausgehungerten Trümmerfrauen plötzlich mit gestärkter weißer Schürze hinter den heimischen Herd und die ehemaligen Soldaten stolz hinter das Lenkrad eines babyblauen oder beigefarbenen Kleinwagens, später eines VW Käfers, der - während im Autoradio der Sprecher die laufenden Fußball-Bundesligaspiele kommentierte - allwöchentlich samstags blitzsauber gewaschen wurde. Denn seit Neuestem, gerade mal elf Jahre nach Ende des Krieges, war der Samstag ein Feiertag, die Gewerkschaften hatte dafür mit dem Slogan „samstags gehört Vati mir“ auf großen Plakaten mit strahlenden Kindern und in fröhlichen Fernsehspots im ganzen Land geworben. Vater wienerte samstags stolz das Auto, Mutter putzte die Treppe und fegte den Gehweg. Korrekte Kleidung bis hin zum Herrenhut und tadelloses Benehmen bis hin zur endlich gelösten Frage wer wen wie und in welcher Reihenfolge bei einem Zusammentreffen fremder Menschen vorstellt verschafften allen Distanz und verhinderten zwischenmenschliche Zusammenstöße; der Knigge erlebte eine Renaissance bis hin zur vollkommenen Steifheit. Eine heile schöne Fassade hinter der sich die schlimmsten Erlebnisse und Taten, wahre Alpträume, versteckten. So, als ob eine Nation kollektiv eine Pause von den Gräueltaten brauchte. Man wollte sich nicht mehr daran erinnern und schon gar nicht der nächsten Generation davon berichten. Wie schwarze Schatten hinter der Tür verstörten die unausgesprochenen Erinnerungen, Verletzungen und Schuldgefühle der Eltern ihre Kinder. Die jungen Leute, die sich Klarheit verschaffen wollten, wurden von den Alten mit „das verstehst du nicht“ oder „dafür bist du noch zu jung“ abgespeist aber die schwarzen Schatten...

Erscheint lt. Verlag 8.7.2022
Mitarbeit Cover Design: Annika Orsinger
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Angst • Arbeit • Augen • Ende • Essen • Familie • Frau • Geld • Geschichte • Gesicht • Hand • Herz • Jahre • Jahren • Kinder • Kopf • Mann • Mensch • Menschen • Nacht • oft • Paar • Recht • Tag • Tage • Tisch • Welt • Wissen • Zeit • Zimmer
ISBN-10 3-347-66117-6 / 3347661176
ISBN-13 978-3-347-66117-2 / 9783347661172
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