Schön ist die Nacht (eBook)

Roman | »Ein fulminanter Roman.« Elke Heidenreich
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2839-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schön ist die Nacht -  Christian Baron
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Das Dröhnen und die Herrlichkeit, die Bürde und die Notwendigkeit des Lebens der 'einfachen Leute' Willy sehnt sich nach nichts so sehr wie nach einem normalen Leben. Er will seine Arbeit als Zimmerer gut machen, er will für seine Familie sorgen, er träumt vom eigenen Häuschen. Mit seiner ehrlichen Art stößt er immer wieder an Grenzen, was nichts an seinem Entschluss ändert, anständig zu bleiben. Horst, ein ungelernter Hilfsarbeiter, glaubt schon lange nicht mehr daran, auf ehrliche Weise nach oben zu kommen. Er greift zu halbseidenen Mitteln, und seine Existenz entgleitet ihm in dem Maße, in dem er seine Aggressionen nicht im Griff hat. In die Spirale des Abstiegs zieht er seinen Freund Willy hinein - mit katastrophalen Folgen für beide. Schön ist die Nacht ist ein Roman über die westdeutschen Siebzigerjahre, der Roman einer ganzen sozialen Klasse. Zwischen ihren nach Emanzipation strebenden Frauen und streikwilligen 'Gastarbeitern', zwischen ihnen entgleitenden Kindern und sie unter Druck setzenden Chefs, zwischen Spekulantenträumen und Baustellenwirklichkeit führen Willy und Horst aussichtslose Kämpfe um ihren Anteil am Wohlstand. Müssen wir sie uns als glückliche Menschen vorstellen?

Christian Baron, geboren 1985 in Kaiserslautern, lebt als freier Autor in Berlin. Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier arbeitete er mehrere Jahre als Zeitungsredakteur. 2020 erschien bei Claassen sein literarisches Debüt Ein Mann seiner Klasse, wofür er den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Literaturpreis »Aufstieg durch Bildung« der noon-Foundation erhielt.  Die von ihm zusammen mit Maria Barankow herausgegebene Anthologie Klasse und Kampf erschien 2021 bei Claassen.

Christian Baron, geboren 1985 in Kaiserslautern, lebt als freier Autor in Berlin. Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier arbeitete er mehrere Jahre als Zeitungsredakteur. 2020 erschien bei Claassen sein literarisches Debüt Ein Mann seiner Klasse, wofür er den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Literaturpreis »Aufstieg durch Bildung« der noon-Foundation erhielt.  Die von ihm zusammen mit Maria Barankow herausgegebene Anthologie Klasse und Kampf erschien 2021 bei Claassen.

Januar 1944
Ein Ziel im Leben haben


Am Abend war die Hoffnung da. Beim Anblick der zerstörten Villa des Apothekers Jansohn am Museumsplatz überfiel sie ihn. Die Südfront war weggerissen worden, an der Nordseite hatte eine Bombe ein Loch in die Klinkersteinfassade gestanzt. Als Horst drei Tage nach dem Fliegerangriff vom siebten Januar neunzehnhundertvierundvierzig am Brückengeländer lehnte, konnte er alle drei Etagen des Apothekerhauses betrachten. In nicht ganz neun Wochen würde er elf Jahre alt werden, und in einem solchen Haus, das nahm Horst sich in diesem Moment vor, würde er später einmal leben.

Wie viele Stuben es dort drinnen wohl gegeben hatte? Auf dieser Seite ließen sich drei pro Stockwerk ausmachen, bei dem breiten Bau mussten es auf der anderen Seite mindestens ebenso viele gewesen sein. Drei mal drei macht neun, das rechnete er mit den Fingern aus, noch mal drei mal drei macht wieder neun, und neun plus neun, das sind … nicht zu fassen! Von der Einrichtung war nichts übrig, natürlich, doch Geröll und Trümmer waren auf dieser Seite schon fortgeräumt, sodass Horst bloß seiner Fantasie freien Lauf lassen musste, und schon erwachte das Leben.

Wofür der alte Jansohn mit seiner Frau und den paar Kindern so viel Platz gebraucht haben mochte, wo Horst sich im Heim mit zehn Kameraden einen einzigen Raum teilte? Nun, Horst war ein Waisenhauszögling, und der Herr Jansohn, der war Apotheker, also musste diese Villa etwas mit seinem Beruf zu tun haben. Womöglich hatte der Mann sich als Zehnjähriger auch mit zehn Kameraden oder Geschwistern einen Schlafraum geteilt, und weil er fleißig gewesen war, hatte er sich dieses Haus gebaut, oder nein: Er hatte es sich bauen lassen, was freilich noch besser war, und eines Tages, wenn der Endsieg da und Kaiserslautern wiederaufgebaut wäre, würde Horst es dem Herrn Jansohn nachtun.

Dafür durften sie ihn keinesfalls kaschen. Also riss er sich nach Einbruch der Dunkelheit los von der Aussicht auf sein Erwachsenenleben. Horst zog seine Batschkapp tief ins Gesicht und ging hinüber zur Kammgarnspinnerei. Er kam am Eingang zum Bunker vorbei. Auf dem Kellerfenster waren von außen die mit weißer Farbe aufgeschriebenen Buchstaben SR zu sehen. Es war der Schutzraum, den er seit dem Beginn des Bombenterrors Dutzende Male aufgesucht hatte, ohne dass mehr als ein paar Sprengkörper eingeschlagen waren. Feucht und stickig war die Luft dort unten, und weil die Leute ihre Angst zwischenzeitlich schon fast vergessen hatten, waren die verheerenden Angriffe vom siebten Januar umso schrecklicher gewesen. Es gab Arbeiter, die beim Einquartieren halfen, Leute aus einem Land namens Ukraine, von dem Horst in der Schule erfahren hatte, dass es nun zum Deutschen Reich gehörte, was ihn noch immer verwirrte, denn diese Menschen sprachen überhaupt kein Deutsch. Eine Frau mit blonden Zöpfen, Anusch hieß die, hatte Horst seit Monaten nach jedem Fliegeralarm dort unten in die Arme genommen und immerzu das gleiche Lied mit beunruhigendem Klang gewispert, dessen Text er nicht verstehen konnte, das ihn aber an seine Mutter denken
ließ.

Vor drei Tagen, als zum ersten Mal wirklich der Lärm der Flugzeugmotoren und der Bomben durch den Luftschacht gedrungen war, da kam der Bunkerwart heran und schlug Anusch mit seiner kurzen Peitsche ins Gesicht. Die Haut platzte auf, das Blut nahm eine finstere Farbe an, und der Mann brüllte: »Schaff dich enaus, du Drecksau!« Mit ihren feuchten Lumpen um die Füße trat Anusch in die Bombennacht, und Horst hatte sich vorgenommen, sie zu finden, tot oder lebendig. Wenn sich rund um die Spinnerei, wo es keine Trümmer und keine Sucher gab, heute Nacht vom Boden etwas abgreifen ließ, und sei es ein im Davonlaufen verlorenes Zigarettenetui, dann hätte sich der Ausflug hierher bereits gelohnt.

Außer ein paar Kippenstummeln fand Horst nichts, auch von Anusch keine Spur, also stapfte er zurück in Richtung Stadtkern. Überall in der Umgebung der Einschläge waren die Fensterscheiben eingedrückt von den Druckwellen der Sprengbomben, oft fehlten die Dächer. Aus den heil gebliebenen Häusern drang kein Licht, nur der Schein der letzten Laternen fiel auf die Straßen. Nichts war zu hören außer dem Klopfen der Holzsohlen seiner Schweinslederschuhe auf dem Trottoir. Oder? Da war noch was. Hallten ihm seine eigenen Schritte nach? Hinter ihm war was. War jemand. Starr vor Schreck stand Horst da, das Geräusch schien sich zu nähern, da sprang er am Altenhof ins Trümmerfeld der Villa Orth. Unter seinen Füßen zerbrach das gefrorene Gras bei jedem Schritt wie dünnes Glas, hinter einem der Schutthaufen duckte er sich, hielt Mund und Nase zu und hörte, wie sich Schritte näherten. Nun schloss er auch die Augen, denn er spürte, dass jemand vor ihm stand, dunkel, leise. Jetzt haben sie mich, dachte er, doch als er blinzelte, waren da bloß zwei ärmlich behoste Beine. Er hob den Kopf, da stand ein junger Mann mit einem umgeschneiderten Wehrmachtsmantel.

»Was machst du hier?«, fragte der Mann, der selbst fast noch wie ein Kind aussah. Nur seine große Nase verlieh ihm den Anschein eines Erwachsenen. »Weißt du nicht, dass wieder Alarm kommen kann?«

Horst gab keine Antwort. Was hätte er auch sagen sollen? Dass er abgehauen war, weil ihm der Sinn nicht nach täglichem Siebenstriem stand? Dass er auf der Suche war nach Anusch, die ein Bunkerwart ins Verderben geschickt hatte?

»Seit wann ist es Halbwüchsigen erlaubt, nachts durch die Stadt zu stromern? Willst du die Fliegergeschädigten bestehlen? Oder bist du ein Fliegergeschädigter? Dann zeig deinen Fliegergeschädigtenausweis! Und nimm die Batschkapp ab, oder bist du ein dreckiger Jud?«

Horst versuchte es mit einer Gegenfrage: »Wer sind Sie?«

»Brandwache. Ich mache die Nachtschicht, seit zwei Tagen schon. Wenn ich meinen Dienst weiterhin anständig ableiste, darf ich zur HJ-Feuerwehr, bald, wenn ich sechzehn bin.«

»Donnerwetter.«

»Nun sag schon: Was treibst du hier? Wo sind deine Eltern? Wo wohnst du? Wenn du die Auskunft verweigerst, muss ich dich melden. Bei der Volkswohlfahrt haben sie Methoden, glaub mir.«

»Ach, ich weiß nicht …«

»Bist also doch ein Jud?«

»Nein, ich bin kein Jud.«

»Was soll dann die Geheimniskrämerei?«

Er musste sich schnell etwas einfallen lassen, was ihm bei der Kälte schwerfiel. Statt zu reden, fing er an zu husten.

»Was ist los, hast du Tbc?«

»Ha«, sagte Horst, spuckte in die Hände und sagte: »Sehen Sie Bazillen?«

»Dumm und frech bist du auch noch. Wann war deine letzte Untersuchung?«

»Das weiß ich nicht.«

Der Mann zerrte ihn hoch: »Mitkommen!«

»Nein«, sagte Horst, »warten Sie. Ich erklär es Ihnen.«

»Dann raus mit der Sprache.«

Beim Betrachten dieses Nazis kam Horst eine Idee.

»Ich wohne im Heim«, sagte er, »weil meine Eltern fort sind.«

»Also doch ein Jud!«

»Nein, nein«, sagte er, »mein Vater ist in Dachau. Seit Jahren schon. Er ist … er war arbeitslos.«

»So? Ein Asozialer. Da hat mich mein Gespür doch auf die richtige Fährte geführt«, sagte der Mann und reckte seine fleischige Nase in den Nachthimmel.

Nun begann der Teil der Erzählung, der Horst wirklich wehtat.

»Mein Vater ist ein arbeitsscheuer Trinker. Gut, dass der im Lager ist, ich mag den nie mehr wiedersehen«, sagte er, bemüht um einen aufrichtigen Ton.

»Was ist mit der Mutter? Ist die auch in Dachau?«

»Nein.«

»Red schon. Wenn ich dir erst jedes Wort aus der Nase ziehen muss, nehm ich dich gleich mit.«

Horst presste die Lippen zusammen: »Meine Mutter war eine Hure«, sagte er, »darum hat mich ja die Fürsorge geholt. Und vor drei Tagen, nachdem die Flieger fort waren, da haben sie mich zum Kotten geschickt, wo unser Mietshaus in Trümmern lag.«

»Hast dich nützlich gemacht und Steine weggeschafft?«

»Das auch«, sagte Horst, der kämpfen musste, damit die Stimme ihm blieb, »da lagen die Leichen, aufgereiht in der Straße. Ich sollte vorübergehen und schauen, ob meine Mutter unter den Opfern ist.«

»Und, war sie?«

»Ja.«

»Bist du traurig?«

Nie hätte Horst gedacht, dass das Lügen so viel Kraft kosten könnte.

»Am Gesicht hab ich sie nicht erkannt«, sagte er. »Viel zu stark verbrannt. Darum brauchten die Schutzmänner mich. Sie trug ihr Marienkäferkleid und den dicken Armreif. Von beidem war mehr übrig als von ihrem Gesicht. Haben den Leichnam dann in einen Waschzuber verfrachtet, so geschrumpft war der.«

Horst sah sich dem prüfenden Blick dieses Mannes ausgeliefert. Er hielt ihm nicht stand und musste hoffen, dass der Kerl dennoch anbiss.

»Und nun bist du aus der Fürsorge getürmt. Weißt du, was dir blüht, wenn sie dich erwischen?«

»Im Heim kann ich mich doch nicht nützlich machen. Arbeiten will ich, für den Endsieg und dafür, dass ich mir irgendwann ein Haus bauen lassen kann, so eins wie die Villa Jansohn am...

Erscheint lt. Verlag 28.7.2022
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Partnerschaft / Sexualität
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alkoholismus • Arbeiterklasse • Armut • Aufstieg • Autofiktionaler Roman • Bundesrepublik • Bundesrepublik Deutschland • Depression • Deutsche Literatur • Emanzipation • Erinnerung • Familie • Freundschaft • Gastarbeiter • Gegenwartsliteratur • Gewalt • Herkunft • Kaiserslautern • Klasse • Klassismus • Liebe • Literatur • Nachkriegsdeutschland • neue Romane • Prekariat • Rassismus • Siebzigerjahre • Sozialer Aufstieg • Ungleichheit • Wirtschaftswunder
ISBN-10 3-8437-2839-9 / 3843728399
ISBN-13 978-3-8437-2839-3 / 9783843728393
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