Vom Blühen und Vergehen (eBook)

Ein Gärtnerleben

(Autor)

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2022 | 1., Deutsche Erstausgabe
415 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77323-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Blühen und Vergehen - Marc Hamer
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Marc Hamer liebt Pflanzen und Tiere und hat fast sein ganzes Leben in der freien Natur verbracht. In Vom Blühen und Vergehen erzählt er anschaulich und kurzweilig aus dem Alltag eines Gärtners und kombiniert Achtsamkeit und Zen mit der Freude an der Natur und am Gärtnern.

Seit über zwanzig Jahren hegt und pflegt er »seinen« über 4 Hektar großen Landschaftsgarten in Wales. Er kennt sämtliche Geheimnisse des Gartens und ist mit jeder Pflanze vertraut. Monat für Monat berichtet er von anfallenden Arbeiten und entwirft er ein buntes Porträt des Gartens mit seinen zahlreichen Bewohnern: die frühe Blütenpracht der Primeln, die farbenprächtigen Dahlien, die emsigen Bienen, die aparten Schmetterlinge und die Vögel mit ihrem morgendlichen Gesang - sie alle sind Teil seiner Welt und zeugen vom ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens.

»Hamer greift zurück auf das, was ihn allseits umgibt - Rotkehlchen und Krähen, Buchen und Kirschbäume, Jasmin, Narzissen und Erde - als Ausgangspunkt für seine Reflexionen, wie im Kleinen ein spirituell bewusstes Leben gelingen kann ... indem er uns auffordert, unseren Platz in der Natur zu erkennen und uns an der Verbindung zu ihr zu erfreuen.« Herald



Marc Hamer wurde in Nordengland geboren, lebte aber mehr als 30 Jahre in Wales. Nachdem er einige Zeit obdachlos gewesen war, arbeitete er bei der Bahn. Schließlich studierte er Kunst in Manchester und Stoke-on-Trent. Er arbeitete in Kunstgalerien und unterrichtete Creative Writing in Gefängnissen, bevor er Gärtner wurde.

Der alte Norden


Die Männer meines Alters im Alten Norden wurden alle ähnlich erzogen. Ausgebildet, um Krieg zu führen, bereit, wenn nötig gegen eine ausländische Macht zu kämpfen, und wenn kein Bedarf bestand, hatten wir Fußball oder Rugby und schwere körperliche Arbeit, um uns fit und einsatzbereit zu halten, bis wir verschlissen waren und durch jüngere Versionen unserer selbst ersetzt wurden. Wir waren nützlich, deshalb hielten wir nicht ewig. Unser Wert bestand in der Masse, nicht im Individuum. Die Natur braucht keine Individuen; sie sind verzichtbar, solange es genug von ihnen gibt. Die Schule lehrte uns, Misshandlungen, Langeweile und Schmerzen auszuhalten, und wir lernten, dass es im Leben immer um Hierarchien und Macht geht.

Damals hatte dort oben jeder Arbeit. Die Menschen hatten die gleichen Jobs wie alle anderen in ihrer Gemeinde. Ich konnte in der Grube arbeiten wie die Männer, die das Pub meines Vaters frequentierten. Ich konnte zur Armee gehen oder im Stahlwerk arbeiten. Die Mädchen arbeiteten in den Bleichanstalten oder in der Baumwollfabrik, wurden Friseurin oder Köchin. Meine Mutter war Köchin. Ihre Mutter hatte in der Baumwollfabrik gearbeitet. Die Fabrikmädchen waren rau und, wie meine Mutter sagte, »gewöhnlich«, und ich musste während meiner Lehre vor ihnen wegrennen und mich verstecken, weil sie Jungen die Kleider auszogen, sie splitternackt durch die Fabrik jagten und lachend die Verfolgung aufnahmen. Sie verwirrten die jungen Männer mit ihrem schlüpfrigen Benehmen und schlugen und zwickten sie. Dafür waren sie berühmt.

Gleich nach meiner Ankunft in dieser kalten, nördlichen Kohlestadt verliebte ich mich in die Frauen, die in den Bleichanstalten arbeiteten. Sie liefen zu etwa zwanzig in klappernden Holzschuhen schwatzend von den nahe gelegenen Cottages über die Steinplatten der Straßen zu den großen, grünen Fabriktoren, die mit quietschenden Metallrädern auf einer Schiene hin und her rollten, und betraten den dunklen, roten Backsteinschuppen von der Größe eines Rugbyfelds. Die Bleichanstalten standen in einem Tal am Kanal, dessen Gestank einem sogar noch eine halbe Meile flussabwärts in die Nase stach. Man versuchte, den Gestank hinter den Toren zu halten, doch er drang trotzdem nach draußen. Wenn die Frauen sich unterwegs leise miteinander unterhielten, wirkten sie einander nahe, ernsthaft und doch entspannt in der Gesellschaft ihrer Kameradinnen; manchmal hörte man ein Lachen, aber meistens waren sie ruhig, anders als die Fabrikmädchen. Ihre Augen strahlten in all dem Weiß – geschrubbter, beinahe reinweißer Haut, reinweißem Haar, weißen Augenbrauen und Wimpern, weißen Mänteln, weißen Kleidern, Hosen, Strumpfhosen, Kopftüchern und Schuhen –, alles weiß von den Dämpfen, die aus den riesigen Wannen heißer Bleiche aufstiegen, an denen sie, wie ich mir vorstellte, arbeiteten. Selbst die Iris in ihren Augen schien blass und verwaschen, wie alte Bluejeans, und ich verliebte mich jedes Mal in sie, wenn ich sie stolz und elegant zu der am Stadtrand gelegenen Fabrik am Kanal gehen sah.

Sie wirkten, als stammten sie alle aus derselben Familie: Schwestern, Tanten, Mütter, Töchter, Schwiegermütter. Wahrscheinlich war das bei vielen auch der Fall. Ich hielt sie für eine große Albino-Familie. Rosige Elfen, auf die ich wartete, nur um sie zu betrachten. Ich hätte sie gern nackt gesehen. Ich war zehn und empfand erste sexuelle Regungen, die ich noch nicht verstand. Wie sahen sie unter ihren Arbeitskleidern aus? Gab es darunter Farbe, oder war ihre gesamte Kleidung weiß gebleicht wie ihre Haut? Welche Farbe hatte ihre Unterwäsche? Zuerst waren das keine sexuellen Gedanken, sondern Neugier, ihres geisterhaften, verführerischen Weiß’ wegen. Doch als ich genauer darüber nachdachte, stellte ich mir ihre Körper vor, und die Bilder wurden sexuell. Später erfuhr ich von der Monatsblutung und stellte mir vor, sie sei das einzig Farbige an ihnen. Rote Streifen und Klumpen aus der Mitte leerer, bleichweißer Geister. Ektoplasma. Dick und rot, verband das Blut die Frauen mit der Erde, damit sie nicht davonschwebten.

Ich starrte sie an und verliebte mich immer wieder aufs Neue in sie – manchmal in diese Jüngere oder jene Ältere, vielleicht wegen ihres Gangs über den großen Onkel oder ihres Schwanenhalses oder der gekräuselten Haare oder gelegentlich auch wegen einer triefenden Nase vom Schnupfen oder den Dämpfen. Meist hielt ich nach der einen Ausschau, die ich das letzte Mal gesehen hatte, konnte sie aber nie erkennen; sie ähnelten einander zu sehr. Sie ignorierten mich, das Kind. Einige der jüngeren, die nicht viel älter waren als ich (vielleicht fünfzehn), hatten gerade die Schule verlassen, und sogar sie waren weiß von Kopf bis Fuß, denn die Bleiche wirkte rasch. Die älteren, die nicht mehr arbeiteten – die Großmütter im Ruhestand, die mit Kinderwagen kamen, damit die Mütter in den Mittagspausen ihre Babys sehen konnten –, waren rosiger, hatten frischere Gesichter und glattere Haut als ihre Töchter und wirkten Jahrzehnte jünger, als sie waren, und oft hatten sie die Haare gefärbt, in blauen oder purpurroten Tönungen. Man sah damals nie wirklich alte Frauen, nicht in dieser Gegend, auch keine wirklich alten Männer. Sie starben jung. Wie die Grubenarbeiter, die sich die Lungen aus dem Hals husteten, blasiges rosafarbenes Blut auf weißen Taschentüchern. Und die Babys kamen in Kinderwagen, um zu sehen, wo sie als Erwachsene arbeiten würden.

Die Grubenarbeiter, die nach der Arbeit im Pub Bier tranken, Darts und Domino spielten, schienen in den Fältchen um ihre Augen allesamt schwarzen Lidschatten zu tragen wie meine Mutter. Ich konnte nicht anders, ich musste sie ansehen. Ich starrte. Sie fühlten sich belästigt und fragten meinen Vater, was mit mir nicht stimmte. Da ich ohnehin als Außenseiter galt, kein Mannschaftsspieler war, bestätigte dieses Starren ihren Verdacht, ich sei ein schräger Vogel. Ich zeichnete gern und zeichnete einige von ihnen, und die Bilder wurden im Pub an die Wand gehängt. Sie fragten meinen Vater, ob ich schwul sei. Ich schrieb und las gern und verbrachte meine Zeit allein, schaute ihnen in die Augen, anstatt Fußball zu spielen und mit den anderen Jungen herumzubrüllen. Ich fand sie wunderbar; sie waren aufregend, und ich wusste nicht warum. Heute glaube ich, dass ich die Transgression aufregend fand. Später, von einem von ihnen gegen die Wand gedrückt, erfuhr ich, wenn ein Mann einem in die Augen sieht, bedeute das, dass er einen entweder vögeln oder töten wolle: »Welches von beidem, Jungchen?«

Ihre Welt aus Schwarz und Weiß stieß mich ab: dieses Sieg oder Niederlage, wir und sie. Ohne jegliche Zwischentöne. Es war nicht sicher, sich irgendwo außerhalb dieser simplen Dualität aufzuhalten. Ich lernte Dualität zu verabscheuen. Ich will, dass jedes Spiel punktgleich endet. Ich fürchte und misstraue jedem, der sich seiner Sache, in welcher Angelegenheit auch immer, sicher ist. Viel später erst lernte ich, dass es in Ordnung war, sich an hübschen Dingen zu erfreuen, doch für mich als Mann in dieser speziellen Welt war die Liste der Dinge, an denen ich mich freuen durfte, sehr begrenzt – es ging um Sentimentalität oder um Macht und Konkurrenz –, und um sie zu beschreiben, hatte ich das Wort »hübsch« nicht zu benutzen. Ich durfte mich zum Beispiel an Blumen erfreuen, an Dahlien oder Rosen, doch nur, wenn ich sie zu Wettbewerbszwecken zog und einen von irgendeinem Komitee festgelegten Standard anstrebte und sie bei Blumenschauen präsentierte, um mit ihnen Medaillen zu gewinnen. Konformität war der Schlüssel. In Büchern festgehaltene Eindeutigkeit, die klar definierte, was ein Gewinner war und was nicht. Schönheit oder ein vages Mögen »einfach so« war bei diesem Prozess nicht erlaubt. Klarheit war alles – und alles, was ich zu verachten lernte. Sieg oder Niederlage war das Einzige, was zählte.

Von meinem Vater wusste ich, dass die Männer, wenn sie am Ende des Tages aus der Grube kamen, von Kopf bis Fuß mit Kohlestaub bedeckt waren und sich in den Waschkauen duschten, bevor sie nach Hause gingen. Beim Duschen blieb der Kohlestaub in ihren Augenfältchen kleben. Der schwarze...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Übersetzer Brigitte Heinrich
Sprache deutsch
Original-Titel SEED TO DUST
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik
Technik
Schlagworte Englischer Garten • Garten • Gartenbuch • Gartengeschichten • Gärtnern • Geschenkbuch • Geschenk zum Muttertag • Landschaftsgarten • Muttertag • Nature writing • neues Buch • Sachbuch • SEED TO DUST deutsch
ISBN-10 3-458-77323-1 / 3458773231
ISBN-13 978-3-458-77323-8 / 9783458773238
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