Anna, Alzheimer und ich -  Lorenz Nachtigall

Anna, Alzheimer und ich (eBook)

Bericht eines pflegenden Angehörigen über ein glückliches, erfülltes Leben - 2. aktualisierte, erweiterte Auflage
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2022 | 1. Auflage
myMorawa von Dataform Media GmbH (Verlag)
978-3-99129-801-4 (ISBN)
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Das Buch behandelt die Alzheimerkrankheit aus drei verschiedenen, integrierten Perspektiven: 1. Es ist der Erfahrungsbericht eines Ehemanns, der den Alltag und den Verlauf der Alzheimerkrankheit seiner Frau detailliert dokumentiert. 2. Es ist ein Ratgeber für eine an die individuelle Bedingungslage angepasste häusliche Pflege, die trotz Alzheimer die Aufrechterhaltung der Lebensqualität und eine glückliche, erfüllte Beziehung ermöglicht. 3. Es ist ein einführendes Sachbuch, das die Diagnose, Therapie und Betreuung von Alzheimerkranken anhand eines konkreten Falls erläutert. Das Buch zeigt • wie von der Alzheimerkrankheit Betroffene denken, fühlen, handeln, • wie durch ein auf die individuelle Bedingungslage ausgerichtetes, dialogorientiertes Pflegekonzept der Krankheitsverlauf verlangsamt und die Lebensqualität aufrechterhalten werden können, • welche Anforderungen häusliche Pflegekräfte von Alzheimerkranken erfüllen sollten, • welche Therapieformen es gibt und inwieweit diese wissenschaftlich fundiert sind, • welche ethischen Grundsätze für die Pflege gelten und welche Dilemmata damit verbunden sind, • welche Unterstützungsmöglichkeiten für Alzheimerkranke und ihre Angehörigen angeboten werden, was diese bringen und was sie kosten, • was für und was gegen Alten- und Pflegeheime spricht und welche Kriterien für die Auswahl eines Pflegeheims maßgeblich sind, • wie pflegende Angehörige durch die intensive Beziehung zur gepflegten Person und das Gefühl, gebraucht zu werden, belohnt werden. Die erste 2021 erschienene Auflage ist von der Kritik und dem Markt so gut aufgenommen worden, dass schon ein Jahr nach dem Erscheinungstermin eine zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage erscheinen konnte. Für diese wurden die Berichte über den Zustand und das Verhalten von Anna im siebten und achten Jahr nach der Alzheimerdiagnose fortgeschrieben und es wurden zwei Kapitel über die 24-Stunden-Betreuung und die Digitalisierung der häuslichen Pflege von Alzheimerkranken hinzugefügt. Expertenmeinung 'Dieses faszinierende Buch beweist uns, dass ein liebevolles, also verstehendes, wertschätzendes und zärtliches Umgehen mit dem demenzkranken Menschen beiden Partnern hilft und die Beziehung vertiefen kann. Ein unbedingt empfehlenswertes Buch über die Liebe in Zeiten der Alzheimer-Demenz.' Univ.Prof. DDr. Peter Fischer, FA für Psychiatrie und medizinische Psychotherapie, Wien

3

Wie Betroffene und Angehörige die Demenz erleben

In diesem Kapitel2 wird die Beschreibung fortgesetzt, was sich durch die Alzheimerkrankheit verändert hat, und wie es Anna und mir fünfeinhalb Jahre nach der Diagnose geht. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Krankheit im letzten halben Jahr leider weiter fortgeschritten ist.

Vergessen - Reduktion der Welt

Anna hat zunehmend das Interesse an der Welt verloren. Sie interessiert sich nur mehr für sich selbst und sagt das auch so. Anders als in dem lesenswerten Buch „Der alte König in seinem Exil“, in dem Arno Geiger von der Vitalität, dem Witz und der Klugheit seines alzheimerkranken Vaters schreibt, sehe ich bei Anna nur die wachsende Verkürzung der Interessen. Dinge, die sie früher interessiert haben, wie Politik, Literatur, Mode, Kochen, Natur, Kunst, Architektur usw., haben kaum mehr Bedeutung. Anderes ist nicht an deren Stelle getreten, es bleibt nur Reduktion. Dasselbe gilt für Freunde und Bekannte.

Abb. 3/1: Inhalt von Kapitel 3

Eine Konsequenz ist, dass stapelweise alte Modezeitschriften weggeworfen und unsere tollen Kochbücher verschenkt werden. Die großen Perlenbestände werden zu Ketten verarbeitet, die im Keller landen oder verschenkt werden. Das früher enthusiastisch betriebene Kettenmachen ist ziemlich bedeutungslos geworden, es geht fast nur noch um die Aufarbeitung der großen, scheinbar belastenden Materialbestände.

Anna näht noch gern Kleider, für sich und einzelne Freundinnen, aber das hat seine Grenzen. Der Kleiderschrank birst vor ihren Kreationen und in Sardinien fehlen die Ausgangsvoraussetzungen (Stoffe, gute Nähmaschine).

Das wichtigste, komplett erhaltene Interessengebiet von Anna ist die Musik. Sie hört gern Musik, sie liebt Konzerte und Straßenmusikanten und am allerliebsten spielt sie selbst Klavier – Bekanntes und neue Stücke, täglich stundenlang. Kein Besucher kommt davon, ohne sich eine Sonate anzuhören. Sie lädt völlig Unbekannte von der Straße nach Hause ein, um ihnen am Klavier vorspielen zu können. Bei jedem Straßenmusikanten bleibt sie (für mich unendlich) lange stehen und geht nur widerwillig und nach zig Aufforderungen weiter. Am Neustifter Kirtag faszinierte sie ein singender Ziehharmonikaspieler, dessen Volkslieder sie früher nie beachtet hätte.

Die Einladung Unbekannter von der Straße zum Vorspielen von Stücken am Klavier ist beunruhigend, da bei uns Geldbörse, Mobiltelefon usw. offen herumliegen und ich mich frage, wann der erste Besucher etwas „mitgehen“ lässt. Wenn ich im Garten oder auf der Veranda arbeite, bekomme ich manchmal gar nicht oder erst sehr spät mit, dass Anna wieder einmal einen Besucher eingeladen hat. Vorhaltungen und „Unterlassungserklärungen“ von Anna sind wirkungslos.

Anna liebt Abwechslung und Neues. Auf ihren Spaziergängen mit dem Hund erkundet sie gern neue Gegenden. Unseren Hausstrand in Sardinien findet sie fad, sie will immer wieder woanders hinfahren.

Eine Konsequenz der Reduktion ihres Sprechvermögens ist, dass nur noch ich sie halbwegs verstehen kann. Dass geschieht vor allem durch Raten bzw. Interpretation des von ihr Gesagten im Kontext unserer gemeinsamen Erlebnisse. Oft weiß ich nicht, ob mich Anna verstanden hat, weil es von ihr kein Feedback gibt. Erst durch Nachfragen kann ich das feststellen, meistens mit negativem Ergebnis. Wiederholungen und Google-Bilder sind dann eine wertvolle Hilfe zur Erklärung. Manchmal erzähle ich auch irgendetwas, wohlwissend, dass ich nicht verstanden werde. Am ehesten kann Anna einfachen Themen des Alltags folgen, wie Gesprächen über das Wetter, den Garten, das Essen, den Hund. Sie hat noch einen Bezug zur Zeit, kennt den Wochentag, deckt am Sonntag ein besonderes Geschirr auf und fragt, wie lange wir noch in Wien/Sardinien sein werden, ehe wir nach Sardinien/Wien zurückkehren. Fragen nach ihren Bedürfnissen und Wünschen kann Anna nicht beantworten. Ebenso kann sie bei Warum-Fragen keine Erklärungen liefern.

Die von mir schon vor Jahren angelegten Bilddateien mit Freunden und Bekannten, unserem Frühstück, Abendessen usw. sowie unsere Fotoalben und Fotobücher von den Stationen unseres Lebens sind wie erwähnt weitgehend nutzlos geworden. Sie helfen zwar immer noch zum Erkennen und Erklären von Personen und Dingen, das Gezeigte und Gesagte wird von Anna jedoch unmittelbar danach vergessen.

Das gilt auch für gute Bekannte, die wir vor ein oder zwei Tagen gesehen haben, und die Anna nicht wiedererkennt. Sie kann das gut überspielen, so dass die Betroffenen das meist nicht merken. Gelegentlich herzt und küsst sie dann auch mal eine Person, die wir nicht oder nur flüchtig kennen.

Ich habe für Anna eine Foto-Biografie erstellt, in der die wichtigsten Stationen ihres Lebens beschrieben werden. Eigentlich ist diese Beschreibung nutzlos, Anna interessiert sich nicht dafür. Sie betont immer wieder, sie interessiere sich nur noch für die Gegenwart. Die Vergangenheit habe sie vergessen, und sie wolle auch nichts mehr darüber wissen.

Annas Wortschatz ist inzwischen gering. Sie kennt nicht mehr die Bezeichnungen für Alltagsgegenstände, wie beispielsweise „Fahrrad“, „Banane“, „Ketchup“, „Schlüssel“ usw. oder die Bedeutung von Adverbien wie „oben“ und „unten“. Es kommt zu typischen Wortverwechslungen, beispielsweise von „Wind“, „Wolken“ und „Regen“, und einzelne Worte dienen als Platzhalter für verschiedene Dinge, beispielsweise „Viecher“ für Tiere, herabgefallene Blätter, Häuser und Autos oder „fahren“ für Bewegung aller Art wie Auto fahren, gehen, fliegen, schwimmen.

Anna ist sich dieser Reduktion ihres Wortschatzes bewusst. Sie kann Unterhaltungen nicht mehr folgen und meldet sich auch immer seltener zu Wort, da sie sich kaum artikulieren kann. Sie empfindet das als großen Verlust und versucht immer wieder dagegen anzukämpfen. Sie meint oft, es würde helfen, wenn ich mit ihr häufiger anspruchsvolle Gespräche führen würde. Leider gelingt uns das jedoch nicht. Dass ist ein schlimmer Verlust, denn Anna war früher eine extrovertierte, intensiv kommunizierende Person.

Moral

Anna hat viele allgemein akzeptierte moralische Regeln vergessen. Sie weiß häufig nicht mehr, was „gut“ und „böse“ ist, und sie bezieht andere Menschen kaum mehr in ihr Handeln ein. Wenn ich ihr Regeln kommuniziere, fragt sie „Warum?“ oder sie antwortet “Ich mache was ich will!“. Wenn man ihr Regeln erläutert und diese begründet, hat sie das bald wieder vergessen, oder sie übertritt diese Regeln ganz bewusst und versucht dies zu verbergen bzw. zu bestreiten.

Dafür gibt es unzählige Beispiele: Harmlose, wie wenn sie im Café oder Restaurant stets das Geschirr zusammenräumt und zur Anrichte oder in die Küche bringt. Oder wenn sie regelmäßig heimlich unseren Hund bei Tisch füttert, obwohl ich sie zigmal gebeten habe, dies nicht zu tun, und sie dies auch zigmal versprochen hat. Oder wenn sie im Auto bei der roten Ampel sagt, “fahr doch, da kommt doch keiner“. Gravierender ist es, wenn sie im Park unseren Hund frei laufen lässt, obwohl in Wien Leinenpflicht herrscht. Polizisten, die in einem Fall daraufhin ihre Personalien feststellen wollten, wurden wüst beschimpft, was diese mit einem Strafbescheid wegen Beleidigung eines Exekutivorgans quittierten – zusätzlich zu dem Strafbescheid der Stadt Wien über 330 Euro, weil die Leinenpflicht nicht eingehalten wurde (so vor einigen Monaten im Olympiapark). Unangenehm ist es auch, wenn Anna etwa bei der Bank gegen die Außentür hämmert, weil diese nicht rechtzeitig geöffnet wird. Oder wenn sie in Geschäften oder Verkaufsständen wertlose Kleinigkeiten klaut, die ihr gefallen. Es nutzt dann gar nichts, ihr zu sagen, dass wir die Dinge doch kaufen können, und ihr das Versprechen abzunehmen, das nicht wieder zu tun. Fünf Minuten später erinnert sie sich nicht mehr.

Pflichten im familiären Bereich hat Anna ebenfalls weitgehend vergessen. Gravierend sind weniger die durch mich zu übernehmenden Aufgaben der Haushaltsführung (Einkaufen, Kochen, Putzen, Waschen usw.), sondern die enttäuschten Erwartungen bezüglich freiwilliger „Verpflichtungen“ zwischen miteinander vertrauten Ehepartnern wie Anteilnahme oder Impulse zur Durchbrechung von Routine.

„Moralische Bauchschmerzen“ bereitet mir meine Rundum-die-Uhr-Kontrolle von Anna. Wir haben früher beide ein sehr selbstständiges Leben geführt, sind unsere eigenen Wege gegangen und haben den Tagesablauf vielfach nicht im Detail besprochen. Ein Symptom ist, dass wir unsere Mobiltelefone meist nicht mitgenommen haben, wenn wir außer Haus gegangen sind. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich ständig wissen muss, wo sich Anna befindet, da sie in Schwierigkeiten geraten könnte. Nach langem...

Erscheint lt. Verlag 22.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
ISBN-10 3-99129-801-5 / 3991298015
ISBN-13 978-3-99129-801-4 / 9783991298014
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