Geschichte des Vietnamkriegs (eBook)
256 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-78822-2 (ISBN)
Marc Frey ist Professor für Geschichte an der Jacobs University Bremen.
II. Ein geteiltes Land (1954–1960)
Die Demokratische Republik Vietnam im Umbruch
Der Norden Vietnams litt während des französischen Indochinakrieges am meisten unter den Kampfhandlungen. Viele Straßen waren unpassierbar geworden, zahllose Kanäle und Deiche beschädigt. Nach der Ausbeutung durch die Japaner während des Zweiten Weltkrieges hatte sich der Verfall der Wirtschaft im Norden des Landes in den frühen fünfziger Jahren fortgesetzt. Wenn die Viet Minh ihre breite Akzeptanz in der Bevölkerung nicht verlieren wollten, mußten sie versuchen, diese Entwicklung umzukehren. Ideologische Vorstellungen über eine sozialistische Gesellschaft und wirtschaftliche Notwendigkeiten trafen in einem wesentlichen Punkt zusammen: der Verteilung von Grund und Boden.
Bereits im November 1945 hatten die Viet Minh den Boden französischer Grundbesitzer enteignet und an Kleinbauern verteilt. Nachdem die Viet Minh fast den gesamten Norden des Landes unter ihre Kontrolle gebracht und ihren Einfluß im Süden verstärkt hatten, kam es zwischen 1949 und 1951 zu weiteren Enteignungen, besonders in den eroberten Gebieten in Cochinchina. Zwei Jahre später, 1953, führten die Viet Minh im Norden verstärkt Enteignungen durch. Dabei gehörten auch solche Landbesitzer zu den Leidtragenden, die mit den Viet Minh kooperierten oder sie unterstützten. Viele wurden verhaftet, einige sogar exekutiert. Nach dem Teilungs- und Umgruppierungsbeschluß der Genfer Konferenz wurde die Bodenreform verschärft. In den Jahren 1955 und 1956 enteigneten die Kommunisten fast alle der noch im Norden verbliebenen Grundbesitzer. Landeigentümer wurden aus der Viet Minh ausgeschlossen, politisch kaltgestellt und sozial isoliert. In weiten Teilen Nordvietnams kam es zu regelrechten Verfolgungen und zahlreichen Hinrichtungen. Bis zu fünfzehntausend Menschen fielen der Kampagne zum Opfer, weitere zwanzigtausend wurden inhaftiert oder in Umerziehungslager gesteckt. Die Terrorwelle war nicht zentral gesteuert, sondern nahm ihren Ausgang in der lokalen Zusammenarbeit aggressiver, oftmals ortsfremder Kader mit den ärmeren bäuerlichen Schichten. Diese nutzten die Bodenreform, um sich der verhaßten Grundbesitzer und der wohlhabenden Bauern ein für alle Mal zu entledigen. Die Verfolgungen wurden im Herbst 1956 auf Druck der Führung eingestellt. Die wirtschaftlichen Verluste waren erheblich, der außenpolitische Schaden enorm. In den Augen der westlichen Welt hatte das Regime endlich seinen wahren Charakter gezeigt. In einem für kommunistische Regime höchst seltenen Akt räumten General Giap und Ho Chi Minh öffentlich schwere Fehler ein. Einige leitende vietnamesische Funktionäre wurden entlassen, und Ho Chi Minh übernahm für kurze Zeit den Posten des Generalsekretärs der kommunistischen Partei. Vorübergehend herrschte ein Klima der Angst und des Unmuts. In Hos Heimatprovinz Nhge An kam es sogar zu Massenprotesten der bäuerlichen Bevölkerung. Daß die Kommunisten ebensowenig wie vormals die französische Kolonialmacht bereit waren, oppositionelle Ansichten zu tolerieren, dokumentierten sie auf brutale Art: Einige Tausend Bauern wurden von der Armee deportiert oder umgebracht.
Im Zuge dieser letzten Umverteilung des Bodens wurden die meisten Dorfgemeinschaften zu Kooperativen zusammengefaßt. Diese Form der Bodenbewirtschaftung entsprach durchaus der traditionellen Nutzung, wie sie vor Ankunft der Franzosen praktiziert worden war. Land und Gerätschaften blieben in Privatbesitz, aber die Vermarktung der Produkte erfolgte im Namen der Kooperative. Im Verlauf der sechziger Jahre allerdings entwickelten sich diese unter dem Druck der kommunistischen Partei zu Kollektiven. Land, Werkzeuge und Nutztiere wurden in Gemeinschafts- bzw. Staatsbesitz überführt. 1968 gehörten bereits 90 % der Bauern einem Kollektiv an. Unter den Bedingungen des amerikanischen Krieges in Vietnam hat sich die kollektive Landwirtschaft offenbar bewährt. Bauernunruhen, Obstruktion oder sinkende Arbeitsmoral sind für die sechziger und frühen siebziger Jahre nicht bekannt. Der Lebensstandard stieg von einem allerdings äußerst bescheidenen Niveau seit 1957 leicht, aber kontinuierlich an.
Analog zur schrittweisen Kollektivierung der Landwirtschaft wurde die Industrie nach und nach verstaatlicht. Sie erwirtschaftete jedoch bis weit in die sechziger Jahre hinein einen verschwindend geringen Prozentsatz des nordvietnamesischen Bruttosozialprodukts. 1954 beispielsweise arbeiteten nur wenige Tausend Menschen in rund dreitausend industrieähnlichen Betrieben, die insgesamt nicht mehr als 1,5 % zum Bruttoinlandsprodukt beitrugen und von denen zwei Drittel in Städten angesiedelte Handwerksbetriebe waren. Bis 1960 wurde ein Großteil dieser Betriebe verstaatlicht bzw. in Handwerkskooperativen zusammengefaßt.
Parallel zur wirtschaftlichen Umwälzung vollzog sich im politischen Bereich eine Entwicklung zum zentralistischen Einparteienstaat. Nach 1954 war die kommunistische Partei, die Lao Dong (Arbeiterpartei), die einzige politische Kraft im Land. Ihre Organisation entsprach in etwa sowjetischen Vorbildern. Sie verfügte mit einem Politbüro und einem Zentralkomitee über leitende Gremien, deren personelle Besetzung mehr oder minder mit der Staatsführung identisch war. Darunter agierten eine schmale Schicht hoher Funktionäre und eine breitere Gruppe von Kadern, die lokale Verwaltungsaufgaben und politische Tätigkeiten ausübten. Bis zur Kollektivierung besaßen die Dorfgemeinschaften noch eine relativ große Autonomie und Entscheidungsfreiheit. Produktionsmethoden und -ziele sowie Beschlüsse von lokaler Bedeutung wurden gemeinschaftlich von den Kadern und der Dorfleitung gefaßt. Doch nach 1960 entwickelte sich die Partei mit den ihr angeschlossenen Massenorganisationen zur ausschließlichen und alles beherrschenden Kraft. Ho Chi Minh hatte noch 1950 erklärt, es sei überflüssige Mühe und verschwendetes Geld, Bauern zum Kommunismus bekehren zu wollen. Gegen Ende der fünfziger Jahre jedoch forderte er die Partei dazu auf, der Bevölkerung mehr marxistisch-leninistisches Gedankengut nahezubringen. Er wandte sich allerdings stets gegen eine ungeprüfte Übertragung ideologischer Grundsätze auf die besonderen vietnamesischen Verhältnisse. Beispielsweise blieb das Recht auf freie Religionsausübung einigermaßen gewahrt, und die im Norden lebenden Katholiken wurden nicht verfolgt. Zwar versuchte die Partei- und Staatsführung Einfluß auf die katholische Kirchenhierarchie zu nehmen, doch gelang dies nur in begrenztem Maße.
Ein von der Parteispitze verordneter Personenkult wie in der Sowjetunion oder in der Volksrepublik China blieb in der DRV ebenfalls aus. Dies hing eng mit der Persönlichkeit Ho Chi Minhs zusammen. Im Unterschied zu anderen kommunistischen Führern praktizierte er die marxistisch-leninistische Theorie auch im Privatleben. Sein bescheidener Lebensstil – Ho lebte in einer Hütte neben den Regierungsgebäuden –, seine Forderung nach politischer Partizipation der Bauern und nach Gleichberechtigung von Mann und Frau machten „Onkel Ho“ zur personifizierten Revolution und glaubwürdigen nationalen Vaterfigur.
Die amerikanische Vietnampolitik nach der Genfer Konferenz
Die amerikanische Regierung hatte nur unter großen Vorbehalten an der Genfer Indochinakonferenz teilgenommen und sich sogar geweigert, dem Waffenstillstand und dem Teilungsbeschluß mit ihrer Unterschrift offiziell zuzustimmen. In Washington betrachtete der Nationale Sicherheitsrat die Ergebnisse von Genf als eine „Katastrophe“.1 Allerdings bot die vorübergehende Teilung des Landes zumindest die Möglichkeit, den Süden Vietnams dem Einfluß der Kommunisten zu entziehen. Damit standen von nun an zwei wesentliche Ziele im Vordergrund der amerikanischen Indochinapolitik: Zum einen mußten die anti-kommunistischen Kräfte in Südvietnam gestärkt und eine nationalistische Alternative zu den Kommunisten unter Ho Chi Minh aufgebaut werden. Dies erforderte ein rasches Zurückdrängen des französischen Einflusses in Südvietnam. Zum anderen mußte eine regionale Sicherheitsarchitektur geschaffen werden, die eine Ausdehnung des kommunistischen Einflusses verhindern konnte. Die Lösung dieses Problems fand Außenminister Dulles in einer Neuauflage seiner Bemühungen um ‚vereintes Handeln‘.
Im September 1954 gründeten die Vereinigten Staaten gemeinsam mit Großbritannien, Australien, Neuseeland, Frankreich, den Philippinen, Thailand und Pakistan die ‚Südostasiatische Vertragsgemeinschaft‘ (Southeast Asian Treaty Organization, SEATO). Darin verpflichteten sich die Signatarstaaten zu gegenseitigen Konsultationen für den Fall einer äußeren – kommunistischen – Bedrohung. In einem separaten Protokoll dehnten die SEATO-Mitglieder den Geltungsbereich des Vertrages auf Laos, Kambodscha und „das freie Territorium unter der Jurisdiktion des Staates von Vietnam“ aus. SEATO unterschied sich grundlegend von der NATO, deren Mitglieder freiwillig eine kollektive Schutzgarantie für die Territorien der Teilnehmerstaaten übernommen hatten. SEATO sah nur wechselseitige Beratungen vor, jedoch keine weitergehenden Verpflichtungen. Darüber hinaus erstreckte sich SEATO auf Gebiete (Indochina), denen explizit die Zugehörigkeit zu Militärbündnissen verboten worden war. Dies war eine klare Verletzung der Genfer Beschlüsse. Bedauernd nahmen Eisenhower und Dulles zur Kenntnis, daß Indien, Burma und Indonesien, also die bevölkerungsreichsten und politisch wichtigsten Staaten am Rande der Region, sich weigerten, dem Club der vorwiegend ‚weißen‘ Nationen beizutreten. Ihnen war klar, daß SEATO in erster Linie ein Mittel der US-Regierung darstellte, um künftige Einmischungen in die Angelegenheiten Südostasiens zu legitimieren.
Ein...
Erscheint lt. Verlag | 5.1.2022 |
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Reihe/Serie | Beck Paperback | Beck Paperback |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Geopolitik • Geschichte • Ho Chi Minh • Indochina • Kalter Krieg • Kommunismus • Krieg • Militär • Nordvietnam • Opfer • USA • Vietcong • Vietnam • Weltpolitik |
ISBN-10 | 3-406-78822-X / 340678822X |
ISBN-13 | 978-3-406-78822-2 / 9783406788222 |
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