Blinde Passagiere (eBook)
480 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-497-4 (ISBN)
Karl Heinz Roth, geboren 1942, promovierte in Medizin und Geschichtswissenschaft und war bis 1997 in einer hausärztlichen Gemeinschaftspraxis tätig. 1986 gründete er mit anderen die Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts und ist seither Vorstandsmitglied. Er hat zahlreiche Publikationen zur Arbeits-, Medizin-, Sozial-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte des 20. und frühen 21. Jahrhunderts veröffentlicht.
Karl Heinz Roth, geboren 1942, promovierte in Medizin und Geschichtswissenschaft und war bis 1997 in einer hausärztlichen Gemeinschaftspraxis tätig. 1986 gründete er mit anderen die Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts und ist seither Vorstandsmitglied. Er hat zahlreiche Publikationen zur Arbeits-, Medizin-, Sozial-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte des 20. und frühen 21. Jahrhunderts veröffentlicht.
EINLEITUNG: KRANKHEITSERREGER ALS BLINDE PASSAGIERE
Krankheitserreger, die weltweite Epidemien auslösen, sind blinde Passagiere. Ihre Reservoire haben sie häufig in der Tierwelt. Die Flöhe beherbergen die Pestbakterien und die Erreger des Fleckfiebers. Die Influenzaviren sind bei den Wildvögeln heimisch, und die Coronaviren nisten in den Fledermäusen. Von dort breiten sie sich seit Jahrtausenden auf weitere Zwischenwirte aus. Die Pesterreger besiedeln die Populationen der wilden Nager und Hausratten, die Grippeviren die Geflügel- und Schweinezuchten, und die Coronaviren exotische Wildtiere.
Wenn die Erreger die Populationen ihrer Zwischenwirte verlassen, wird es für den Menschen gefährlich. Die Flöhe der Hausratten springen auf sie über und infizieren ihre eigenen Flöhe, die Kleiderläuse. Auch von den Geflügel- und Schweinefarmen ist es nicht weit zum Menschen. Und viele exotische Wildtiere werden in Asien als gesundheitsfördernde Delikatessen gehandelt und verspeist.
Wenn die Krankheitserreger die Artenbarriere überspringen, ist es zu Anpassungsvorgängen gekommen, die auf kleineren oder größeren Veränderungen ihres Erbguts beruhen. Die dann in Gang kommende Ausweitung der tierischen Infektionskreisläufe auf die Lebenssphäre der Menschen ist nicht häufig. Oft ist sie harmlos, weil das menschliche Immunsystem sie in Schach hält. Aber manchmal versagt die Immunabwehr. Dies ist vor allem bei neu auftretenden Krankheitserregern häufig. In solchen Fällen bleibt ihre Weiterübertragung von Mensch zu Mensch nicht auf bestimmte Siedlungsgebiete beschränkt. Wenn diese Gebiete über Verbindungen zu ihren Nachbarregionen verfügen, begeben sich die Bakterien und Viren mit auf die Reise. Sie verstecken sich in den mitgeschleppten Zwischenwirten – Hausratten, Kleiderläusen, Geflügel und Schlachtvieh sowie in exotischen Wildtieren. Häufig haben sie vor Reisebeginn auch schon die Menschen befallen. Es kommt aber auch vor, dass sie sich ausschließlich bei den Menschen als unerkannte blinde Passagiere einnisten. Infolgedessen verlaufen die Reiserouten und Geschwindigkeiten, in denen sich die Krankheitserreger in der menschlichen Zivilisation ausbreiten, sehr unterschiedlich. Dazu zwei Beispiele: Der Schwarze Tod des 14. Jahrhunderts und die Influenzapandemie 1918/20.
Der Schwarze Tod
Seit Jahrtausenden koexistieren die Pestflöhe mit den wilden Nagern der zentralasiatischen Hochebene.1 Als der Klimawandel diese Weltregion im 14. Jahrhundert auszutrocknen begann, begaben sich die Nager – und mit ihnen die Pestflöhe – auf Wanderschaft. Sie kamen in näheren Kontakt mit menschlichen Siedlungen. Die Flöhe sprangen auf die dort heimischen Hausratten über. Ende der 1330er Jahre brach bei einer nestorianischen Christengemeinde in Issyk-Kul im heutigen Kirgistan die Pest aus. Von hier aus bildeten sich größere Infektionsherde, die sich nach und nach über Nordindien nach China ausbreiteten. Dort herrschten Hungersnöte und Kriegswirren, die ohnedies Millionen Menschen das Leben kosteten. Bis Mitte der 1340er Jahre sind in China und im übrigen Asien etwa 25 Millionen Menschen der Pest zum Opfer gefallen. Wie dies im Einzelnen geschah, ist unbekannt.
Über die Ausbreitungswege der Pest in die übrigen Weltregionen2 sind wir besser unterrichtet: Sie folgten den Routen des Fernhandels, der unter der Mongolenherrschaft neu aufgeblüht war. Händlerkarawanen und Mongolenheere kreuzten Zentralasien auf den Verzweigungen der Seidenstraße, die nördlich des Kaspischen Meers verliefen. Gegen Mitte der 1340er Jahre erreichten die in den Handels- und Armeetrecks mitreisenden blinden Passagiere die untere Wolga und die Don-Region. Dort sprangen sie auf den Armee-Tross der Goldenen Horde über, die sich gerade anschickte, die Krim zurückzuerobern. In den Jahren 1345/46 belagerte sie die an der Ostküste der Krim gelegene genuesische Handelsniederlassung Kaffa (heute Feodosia), um sie auszuhungern. Die Pest dezimierte jedoch ihren Belagerungsring. Daraufhin katapultierten die Mongolen die Leichen ihrer Gestorbenen über die Mauern, und so erreichte der tödliche Erreger Europa.3 Es gelang den Genuesen, auf mehreren Galeeren zu fliehen. Im Frühjahr 1347 machten sie in Trapezunt und anschließend in Konstantinopel, der Metropole des Byzantinischen Reichs, Zwischenstation. Dort lösten sie eine katastrophale Epidemie aus und infizierten die Besatzungen weiterer genuesischer Handelsschiffe. Von hier an folgte die Pest den Seerouten des genuesischen Fernhandels, und nun wurde die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Epidemie durch die Rudergeschwindigkeit ihrer Galeeren bestimmt.
Eine Hauptroute verlief nach Alexandria, wo die ersten todbringenden Schiffe im Frühsommer 1347 ankamen. Die Hafenstadt wurde zum Knotenpunkt der weiteren Ausbreitung, die die Küstenstädte der Levante und Nordafrikas sowie den gesamten Nahen Osten erfasste.
Die zweite Hauptoute führte in die Hafenstädte Siziliens und danach Italiens: Messina, Pisa, Genua und Venedig. Italien wurde um die Jahreswende 1347/48 zum europäischen Epizentrum des Schwarzen Todes. Von hier aus wurde ganz Süd- und Westeuropa in die Pandemie einbezogen: Frankreich schon im Herbst 1347 von Marseille aus, das spätere Österreich über Tirol, den Brennerpass und Venedig, Spanien über Barcelona und die Balearen. Danach zog die Pest stromaufwärts nach Mittel- und Nordeuropa, vor allem über die Rhône und das Rheintal bis zu den Städten der Nordseeküste, nach England und zum Handelsnetz der Hanse. Schließlich verlangsamte sich ihr Tempo, zugleich verstärkte sich jedoch die regionale Ausbreitung.
Lange wurde über die Frage diskutiert, was dazu geführt hatte, dass sich der Pesterreger im Tempo der Handelskarawanen, der mongolischen Heere, der genuesischen Galeeren und anschließend der Flussschifffahrt sowie der Pferdefuhrwerke der Binnenhändler ausbreiten konnte. Der Grund dafür war, dass man in der klassischen Seuchenhygiene die Hausratte für den einzigen Zwischenwirt hielt, von dem die infizierten Flöhe auf den Menschen übersprangen. Hausratten aber sind sesshaft. Sie verlassen auch die Schiffsräume nur selten, und deshalb war ihr Transmissions- und Reproduktionsverhalten weitaus gemächlicher als die tatsächliche Ausbreitungsgeschwindigkeit des Schwarzen Todes. Das Rätsel konnte erst in den 1890er Jahren durch den bakteriologischen Nachweis des Erregers4 und die nachfolgenden epidemiologischen Untersuchungen geklärt werden. Der zweite Zwischenwirt, der Menschenfloh, folgte dem Menschen in seinen Kleidern auf Schritt und Tritt. Zudem konnte die Pest auch direkt von Mensch zu Mensch, nämlich durch Tröpfchen, übertragen werden. Somit gab es insgesamt drei mögliche Übertragungswege gleichzeitig. Da der in mehreren genetischen Varianten auftretende Erreger der Beulen- und Lungenpest zudem hoch pathogen war, war der Schwarze Tod ein furchtbares Ereignis. Er raffte ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung dahin, in den übrigen Weltregionen war es wohl ähnlich. Die Pest blieb seither jahrhundertelang endemisch. Selbst heute flackert sie noch manchmal auf. Wir wissen inzwischen recht gut, wie die blinden Passagiere der Pest die damals bekannte Welt heimsuchten und entvölkerten. Über die Frage, wie und warum sie überhaupt seit 1351 wieder abklang, wird hingegen noch immer gerätselt.
Die Influenzapandemie 1918–1920
Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte die als ›Spanische Grippe‹ bezeichnete Influenzapandemie von 1918–1920 ihren Ursprung in einem County des US-Bundesstaats Kansas, in dem sich viele Schweinezuchtfarmen befanden. Dort wurden ab Januar 1918 zahlreiche schwere Atemwegserkrankungen beobachtet.5 Mehrere Rekruten aus diesem Landstrich verschleppten das Virus in ein benachbartes Camp der US Army, in dem 56.000 junge Männer für ihren Europa-Einsatz in den Expeditionary Forces ausgebildet wurden. Innerhalb kürzester Zeit entwickelten zahlreiche Soldaten Symptome, die sich von den seit langem bekannten Influenza-Zeichen durch ihre Heftigkeit unterschieden. Der Infektionsherd breitete sich rasch in weiteren Militärcamps aus, griff auf die Ausbildungszentren der US Navy über und erfasste die Zivilbevölkerung der benachbarten Großstädte.6 Im März 1918 stiegen in Detroit, in South Carolina und im Zuchthaus San Quentin die Infektionszahlen. Da die Militärbehörden keine wesentlichen Unterschiede zu den Influenza-Saisons der vergangenen Jahrzehnte feststellten, hielten sie an ihren Transportplänen fest. So konnte sich die erste Pandemiewelle fast gleichzeitig in den USA und in der Transatlantikregion ausbreiten.
Im April traf ein erstes Schiff, dessen Besatzung infiziert war, in Bordeaux, einem der größten Umschlagszentren der Entente in Europa, ein. Die Epidemie griff rasch um sich und erfasste auch Einheiten des britischen Expeditionskorps und der britischen Marine. Zudem dehnte sie sich auf das Hinterland aus und erreichte im Mai–Juni Italien und Spanien sowie über...
Erscheint lt. Verlag | 24.1.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Corona • Covid 19 • Forschung • Gesellschaftskritik • Global • lockdown • Medizin • Pandemie • SARS-CoV-2 • Virus • Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-95614-497-X / 395614497X |
ISBN-13 | 978-3-95614-497-4 / 9783956144974 |
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