Das pubertierende Gehirn (eBook)
240 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46383-3 (ISBN)
Eveline Crone, geboren 1975, ist Professorin für kognitive Neurowissenschaft an der Erasmus Universität in Rotterdam. 2005 gründete sie das Brain and Development Laboratory in Leiden, das sich der Erforschung des Zusammenhangs von Hirnentwicklung und geistiger Entwicklung von Kindern und Jugendlichen widmet. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet.
Eveline Crone, geboren 1975, ist Professorin für kognitive Neurowissenschaft an der Erasmus Universität in Rotterdam. 2005 gründete sie das Brain and Development Laboratory in Leiden, das sich der Erforschung des Zusammenhangs von Hirnentwicklung und geistiger Entwicklung von Kindern und Jugendlichen widmet. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet.
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Das adoleszente Gehirn in Bewegung
Was ist mit den Teenagern los?
Warum kommen Jugendliche in der Pubertät nicht aus den Federn? Warum werden Hausaufgaben immer erst in letzter Sekunde gemacht? Warum müssen sie ohne Helm auf ihren Mopeds rasen oder auf schmalen Brücken mit dem Skateboard ihren Hals riskieren und warum kommen sie nie pünktlich nach Hause? Andererseits: Woran liegt es, dass Jugendliche sportlich und kreativ oft so erfolgreich sind? Warum entstehen neue Musikstile und Subkulturen wie die der Hipster oder Skater gerade oft in der Adoleszenz? Welche Rolle spielen die sozialen Medien im Leben Jugendlicher und warum sind Influencer bei ihnen so populär?
Diese Fragen wurden mir in den vergangenen Jahren bei meinen Vorträgen zur Funktionsweise des Gehirns von Pubertierenden in Schulen und andernorts immer wieder von Eltern und Lehrern gestellt. Bei diesen Vorträgen stellte sich heraus, dass Eltern von Heranwachsenden manchmal völlig ratlos sind und nicht verstehen können, warum ihr Kind, das früher vergnügt plaudernd am Küchentisch saß und erzählte, was es in der Schule alles erlebt hatte, sich nun plötzlich in seinem Zimmer einschließt und absolut keine Lust hat, auch nur ein Wort mit ihnen zu wechseln. Es kommt ihnen vor, als hätte das früher so offene Kind eine Metamorphose durchlaufen und läge nun ständig mit seinen Eltern und sich selbst im Clinch. Gleichzeitig werden die Probleme während der Adoleszenz oft übertrieben. Manche meinen, dass alle Teenager in Schwierigkeiten geraten, dabei ist das gewiss nicht der Fall. Die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen durchläuft die Adoleszenzphase ohne größere Probleme, obwohl fast alle von ihnen während dieser persönlichen Suche nach dem Erwachsensein Phasen der Unsicherheit durchleben.
Auch wenn wir alle wissen, dass sich in der Pubertät die Art, wie Jugendliche über sich selbst und ihre Eltern denken, grundlegend verändert, bleibt es doch schwer zu verstehen, warum das geschieht. Eltern werden weniger ins Vertrauen gezogen, Jungen und Mädchen beginnen, sich füreinander zu interessieren, doch jetzt völlig anders als bei ihren Kinderfreundschaften. Alles wird viel komplizierter. Das ist verwirrend für die Eltern, aber vor allem natürlich für die Heranwachsenden selbst. Auch wenn wir diese Veränderungen sehr wohl kennen, bleibt es doch ein Mysterium, was in diesen Köpfen genau vor sich geht.
Im Brain & Development Research Center der Universität Leiden erforschen wir seit fast zwei Jahrzehnten, wie sich das Gehirn in der Adoleszenz verändert. Für diese Studien laden wir Kinder ab 6 Jahren, Jugendliche sowie junge Erwachsene bis zu 30 Jahren zur Teilnahme an unseren Experimenten ein. Wir lassen sie bestimmte Aufgaben lösen, Computerspiele spielen und stellen Fragen nach ihren Interessen und ihren alltäglichen Aktivitäten. Sie leisten damit einen bedeutsamen wissenschaftlichen Beitrag, denn durch ihre Teilnahme lernen wir mehr über diese besondere Zeit der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen. Während dieser Untersuchungen machen wir Aufnahmen von ihrem Gehirn – nicht nur, um zu sehen, wie ihr Gehirn aussieht, sondern auch, wie es arbeitet, während die Aufgaben gelöst werden. Wir blicken also direkt unter die Schädeldecke. Wir sehen, wie das Gehirn pubertierender Jugendlicher in der Lage ist, zu planen, kreativ Aufgaben zu lösen, wie diese Jugendlichen ihre Gefühle in den Griff bekommen und Freundschaften schließen. Diese Beobachtungen eröffnen eine völlig neue Sichtweise auf das Verhalten und die Motivationen von Jugendlichen. Sie verhalten sich anders als Erwachsene, weil ihr Gehirn anders arbeitet. In den vergangenen 20 Jahren hat man weltweit viel über die Funktionsweise des Gehirns bei Jugendlichen herausgefunden, und diese Erkenntnisse finden heute auch ihren Weg in die breite Öffentlichkeit. Nicht nur interessierte Eltern und Lehrer machen sich dieses neue Wissen zunutze, auch Lehrpläne berücksichtigen, was die Gehirne Jugendlicher verkraften können. Die Jugendhilfe ist durch das Wissen über die Gehirnentwicklung ebenfalls immer besser informiert. Neue Unterrichtsmethoden berücksichtigen heute beispielsweise immer stärker, was die Gehirne von Teenagern leisten können und was nicht. Auch das Jugendstrafrecht wurde aufgrund der Erkenntnisse der Hirnforschung angepasst. Dies sind wichtige Schritte, weil nun tatsächlich die einzigartigen Möglichkeiten Jugendlicher, aber auch ihre Verletzlichkeiten Berücksichtigung finden.
Gelegentlich werden Forschungsergebnisse auch zu schnell in die Praxis umgesetzt, was schwerwiegende Folgen nach sich ziehen kann, etwa wenn sie nicht angemessen in die Unterrichtsplanung implementiert werden. Und wenn ein Neuromythos erst einmal in die Gesellschaft Einzug gehalten hat, ist es oft schwierig, ihn wieder zu entkräften. Denken Sie nur an den weitverbreiteten Irrglauben, dass wir nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen würden (was jeglicher Wahrheit entbehrt, denn wir nutzen ständig alle Teile unseres Gehirns!).
In dieser Neuauflage meines Buches versuche ich, Schritt für Schritt unsere neuesten Erkenntnisse darzustellen. Ich beschreibe sie in einer Reihe von Kapiteln, die sich auf die verschiedenen Verhaltensaspekte Jugendlicher, auf ihr lernendes, emotionales, soziales Gehirn und dessen einzigartige Möglichkeiten beziehen. Mein besonderes Augenmerk gilt dabei den neuesten Erkenntnissen über die sozialen Medien – einer Herausforderung, der sich gerade die heutige Generation stellen muss. Sie bieten Chancen, bringen aber auch Probleme mit sich.
Das Buch ist nicht als Elternratgeber für den richtigen Umgang mit Pubertierenden gedacht, es möchte vielmehr zu einem besseren Verständnis des Gehirns Pubertierender und der in ihm ablaufenden Veränderungsprozesse beitragen. Sicherlich wird sich das Verhalten Ihres pubertierenden Kindes nicht schlagartig ändern, nachdem Sie das Buch gelesen haben; ein schwieriger Jugendlicher ist nach der Lektüre dieses Buches noch genauso schwierig! Aber vielleicht können Sie danach besser verstehen, warum sich der Teenager so unmöglich benimmt, so unsicher ist oder so schlecht planen kann. Ich werde auch zeigen, dass gerade die Adoleszenz eine Zeit einmaliger Möglichkeiten ist, in der sich Jugendliche noch optimal formen können und ihren speziellen Weg zu ihrem eigenen Platz in unserer Gesellschaft zurücklegen. Das letzte Kapitel schließe ich mit einer Reihe von Anregungen und Empfehlungen für Eltern, Schule und Politik.
Wenn Jugendliche an einer unserer Untersuchungen teilnehmen, beobachten die Eltern oft verblüfft, wie ihr Kind, das eben noch mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter schweigend im Auto saß, zu einem Sonnenscheinchen mutiert und fröhlich mit dem Versuchsleiter plaudert. Für Eltern ist das oft verwirrend. Wieso verändert sich die Laune ihres Kindes so schlagartig und warum verhält es sich zu Hause nicht so aufmerksam? Forschern ist diese Reaktion sehr geläufig. Eines unserer wichtigsten Forschungsergebnisse, auf das ich in diesem Buch immer wieder Bezug nehmen werde, ist die Erkenntnis, dass das Gleichgewicht zwischen den Aktivitäten der unterschiedlichen Hirnregionen bei pubertierenden Jugendlichen schnell nach der einen oder anderen Seite kippt. Während man früher nur darüber spekulierte, ob gewisse Hirnregionen bei Jugendlichen noch nicht völlig ausgereift seien, konnten wir nachweisen, dass auch die Kommunikation zwischen den Hirnregionen, die bei Jugendlichen in der Pubertät noch nicht optimal abläuft, von Bedeutung ist. Es kann also sein, dass auf der Fahrt zum Labor eine bestimmte Hirnregion dominant ist, bei der Ankunft aber schon eine andere. Kein Wunder, dass Jugendliche in der Pubertät so unberechenbar sind.
Bevor wir über diese Veränderungen des Gehirns sprechen, müssen wir uns zunächst von einem weitverbreiteten Irrtum über die Adoleszenz verabschieden. Es hält sich hartnäckig das Missverständnis, mit der Jugend sei heute schwerer auszukommen als früher. Doch schon seit Jahrhunderten gelten Jugendliche als leichtsinnig, impulsiv, von Freunden leicht beeinflussbar und ihren Eltern gegenüber respektlos. Denken Sie nur an das klassische Pubertätsdrama Romeo und Julia. In dieser shakespeareschen Liebesgeschichte, die auf einer spätmittelalterlichen Legende beruht, entbrennt Romeo so sehr in Liebe zu Julia, dass er sich trotz der Missbilligung der Eltern weiterhin mit ihr trifft. Und die verwegenen Taten, die darauf folgen, haben nur eines zum Ziel: sich der leidenschaftlichen Liebe hinzugeben. Die Geschichte endet in einem katastrophalen Akt: Julia täuscht ihren Tod vor, um so die Flucht mit Romeo zu ermöglichen. Doch Romeo, der sich offenbar nicht in Julia hineinversetzen kann, denkt, sie sei wirklich tot, und vergiftet sich. Impulsiv und unbesonnen, entspricht er ganz unserer heutigen Vorstellung von der Jugend. Die Geschichte von Romeo und Julia macht deutlich, dass die heutige Generation von Teenagern nicht mehr Probleme verursacht als frühere Generationen; zu allen Zeiten haben Jugendliche diesen Eindruck hinterlassen. Ihr unbesonnenes Verhalten kennzeichnet eher eine bestimmte Entwicklungsphase als eine gesellschaftliche Entwicklung.
Dennoch sieht sich jede Generation vor ihre eigenen Herausforderungen gestellt. Im Mittelalter manifestierte sich pubertäres Verhalten darin, tollkühne Gefechte anzuzetteln, während es zu Zeiten von Romeo und Julia eher in verbotenen Begegnungen zum Ausdruck gekommen sein mag. In den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts machte man sich...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2022 |
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Übersetzer | Bärbel Jänicke |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Schlagworte | Adoleszenz Gehirn • Adoleszenz Ratgeber • Buch für Eltern • Buch für Erzieher • buch für lehrer • Das pubertierende Gehirn • das soziale Gehirn • Elternratgeber Teenager • Eltern Teenager • Emotionen verstehen • entwicklung gehirn • Entwicklungspsychologie • Erasmus Universität Rotterdam • Erziehungsratgeber • Eveline Crone • Familie • Gehirn Buch • Gehirnforschung • Gehirn Psychologie • Hirnentwicklung • Hirnforschung • Hormone Pubertät • Kindererziehung Psychologie • Kinder richtig verstehen • Mein Kind ist in der Pubertät • Neuroscience • Neurowissenschaften • Professorin • psychologie bücher • Psychologie verstehen • Pubertät • Pubertät Elternratgeber • Pubertier • Pubertierende • Ratgeber Eltern • Ratgeber Erziehung • Ratgeber für Eltern • Ratgeber Kinder • Ratgeber Psychologie • Ratgeber Pubertät • Sachbuch Psychologie • Teenager • Teenager erziehen • Teenager Gehirn • Teenager Ratgeber • Teenager verstehen • Umgang mit Pubertät • wie Kinder erwachsen werden |
ISBN-10 | 3-426-46383-0 / 3426463830 |
ISBN-13 | 978-3-426-46383-3 / 9783426463833 |
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Größe: 2,5 MB
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