Leben und Werk der Hetty Beauchamp (eBook)

Roman

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
240 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8233-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leben und Werk der Hetty Beauchamp -  J.L. Carr
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Ostengland, Ende der 80er-Jahre: Die 18-jährige Hetty steht kurz vor dem Schulabschluss. Für die Zeit danach hat sie große Pläne: Sie will Literatur studieren, etwas aus ihrem Leben machen! In ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus schlägt ihr wenig Verständnis entgegen - das gilt vor allem für ihren cholerischen Vater. Als sie erfährt, dass sie adoptiert worden ist, läuft Hetty davon. Ihr Weg führt sie nach Birmingham, wo sie ihre leiblichen Eltern finden will. Sie kommt in der Pension der exzentrischen Rose Gilpin-Jones unter. Die hilfsbereite Landlady unterstützt sie bei der Suche nach ihrer wahren Familie. Doch bald begreift Hetty: Es ist nicht wichtig, woher wir kommen, sondern wohin wir gehen wollen.

J.L. CARR wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag Quince Tree Press und verfasste acht Romane. >Ein Monat auf dem Land< (DuMont 2016) war 1980 für den Booker-Preis nominiert. Bei DuMont erschienen außerdem >Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten< (2017), >Ein Tag im Sommer< (2018) und >Die Lehren des Schuldirektors George Harpole< (2019).

Eine erstaunliche Enthüllung

So sieht also das Leben aus, wenn es ans Eingemachte geht, dachte ich. Völlig anders als Miss Braceburns literarische Rhapsodien. Nun, je früher man es begreift, desto besser. Leb wohl, Robert Browning.

»So«, sagte ich ziemlich laut, »mit diesem sentimentalen Schmalz ist es vorbei. Jetzt kann getrost der Himmel einstürzen …«

Nachdem ich einen erneuten Schwall Tränen der Wut hinuntergeschluckt hatte, glitt ich zurück in den Schlaf.

Als ich wieder zu mir kam, hörte ich Mum auf dem Flur draußen erbärmlich flehen. »So sag doch etwas, Ethel. Nur ein Wort. Sag einfach nur, dass alles in Ordnung ist mit dir. Hat er dir sehr wehgetan? Du darfst nicht gegen mich grollen. Ich habe immer für dich getan, was ich konnte: Er hätte dich schon vor zwei Jahren aus der Schule genommen, wenn ich nicht gewesen wäre. Nun sag doch endlich etwas.«

Nach einer Pause und zweifelsohne mit einem Ohr an die Tür gepresst: »Ich könnte dir so manches erzählen. Aber dafür bist du noch zu jung. Über deinen Dad und mich. Um ehrlich zu sein, habe ich selbst auch ein bisschen Angst vor ihm.«

(Ein bisschen!, dachte ich. Das ist ein Witz.)

»Er kann wirklich sehr grob sein«, fuhr sie fort. »Wenn du älter wärst, könnte ich dir gewisse Dinge erzählen. Jedenfalls, als er mir den Hof machte, konnte er kein Wässerchen trüben. Damals war ich ganz anders als jetzt. Ich war nur ein Jahr älter, als du es heute bist. Bist du da drin, Ethel? Ich glaube, es hat angefangen, als der Doktor ihm sagte, wir könnten keine Kinder bekommen. Nur dass er nicht weiß, dass ich es weiß. Deine Tante Phyllis sagte zu mir, ich solle durchblicken lassen, ich wüsste, an wem es liegt, und zwar nicht an mir, aber dann hätte er nur seine Wut an mir ausgelassen.«

(Es dauerte ein Weilchen, bis diese erstaunliche Information in mein Bewusstsein drang, und gern hätte ich sie nochmals vernommen.)

»Kannst du mich hören, Ethel?«, rief sie ängstlich.

»Ja klar kann ich dich hören«, erwiderte ich genervt. »Ich liege nicht in einer Blutlache und hänge auch nicht von der Stabilisatorstange.«

Sie schloss die Tür auf.

»Er weiß nicht, dass ich diesen Schlüssel habe«, sagte sie selbstzufrieden. »Und das ist nicht das Einzige, was er nicht weiß. Was hat er dir angetan, Liebes?«

Ich erzählte es ihr.

»Oh!«, rief sie aus. »Also das hat er gemacht, hm? Er hat dich übers Knie gelegt, was? Oh!« Sie nickte wie eine Aufziehpuppe, doch der Ausdruck in ihrem aufgedunsenen Gesicht war alles andere als puppenhaft.

»Und ist das alles, oder hat er noch was anderes gemacht?«, fragte sie ängstlich. »Etwas, worüber du nicht reden möchtest? Du bist dir sicher, er hat nur das gemacht, was du mir erzählt hast?«

Sie machte sich daran, die Scherben der zu Bruch gegangenen Schallplatten aufzusammeln. Dann sagte sie mehr zu sich selbst: »Jetzt verstehe ich etwas, was mir beim Wäschesortieren aufgefallen ist, nachdem er zur Arbeit fuhr. Nun, wer hätte das gedacht! Hm!« Sie ging zum Fenster und nickte unerklärlicherweise.

Dann drehte sie sich zu mir um und sagte: »Du kannst nicht mehr hierbleiben, Liebes. Du musst weg. Sofort, und du kannst nicht wiederkommen. Aber versprich mir, dass du niemandem erzählst, dass ich dir das gesagt habe. Niemals! Dies ist kein geeigneter Ort mehr für dich. Solange du mich nicht verrätst, behaupte ich, du bist aus dem Fenster geklettert und über das Außenküchendach hinuntergerutscht. Wie dein Kater immer.«

»Mein Kater?«

»Ja. So kommt er doch immer rein und raus, nicht wahr?«

»So so, dann weißt du also auch über meinen Kater Bescheid?«

»Ich habe eine gute Nase«, sagte sie. »Und ich kann meinen Mund halten, wenn du von hier weg bist.«

»Weg?«, rief ich aus. »Aber wohin? Wo soll ich denn hingehen? Schließlich ist das hier mein Zuhause.«

Sie ignorierte meinen verzweifelten Aufschrei. Ich bezweifle sogar, dass sie ihn überhaupt vernommen hatte. Sie ging hinaus und kam mit einer Handvoll Bargeld zurück. »Hier sind sechzehn Pfund. Die habe ich nach und nach vom Haushaltsgeld abgezwackt«, säuselte sie (sie heischte nach Anerkennung für ihre List). »Er hat nie was gemerkt. Du kannst das Geld haben, für den Anfang. Damit kannst du dir irgendwo ein Zimmer suchen. Und mit deiner ganzen Schulbildung wirst du überall eine Stelle finden.«

»Ich! Eine Stelle!«

»Nun, du hättest so oder so eine annehmen müssen, ob es dir gepasst hätte oder nicht. Und zwar in der Bezirksverwaltung, die Sache war so gut wie abgemacht: Schon nächste Woche hättest du angefangen. Sie wollten dich in die Telefonzentrale stecken.«

»In die Telefonzentrale!«

»Hier, nimm deinen Seesack, und was du nicht hineinkriegst, kommt in diese große Einkaufstüte hier.«

Sie hatte bereits angefangen, die Schubladen auszuleeren und meine Sachen planlos in den alten Army-Seesack zu stopfen, den ich bei Millets’ Surplus ergattert hatte. Es war alles ziemlich beunruhigend, aber wenigstens lenkte es mich ab.

»Deine Platten sind fast alle zerbrochen«, sagte sie traurig. »Und die, die nicht zerbrochen sind, scheinen verbogen zu sein. Am besten hat mir diese ausländische gefallen. Wenn niemand da war, habe ich sie mir hin und wieder angehört. Natürlich habe ich die Worte nicht verstanden. Von dieser ausländischen Platte, meine ich. Trotzdem hat sie mich an die Zeit vor meiner Heirat erinnert, als ich ein junges Mädchen war, so wie du. An die Zeit, als ich morgens oft im Bett lag und ich mich fragte, was wohl aus mir werden wird.«

Eine Weile brütete sie über dieser Erinnerung.

»Um ehrlich zu sein, konnte ich mir beim besten Willen keinen Mann vorstellen, der so war wie dein Vater.«

Sie quasselte und quasselte. »Komm, hilf mir«, sagte sie plötzlich aufgeregt. »Gleich kommt Sonny zum Mittagessen zurück.« (Ihr schien gar nicht bewusst zu sein, wie sehr das, was sie mir zuvor durch die Tür hindurch erzählt hatte, in mir arbeitete.)

»Jetzt hör mal zu, Mum!«, sagte ich entschieden. »Und hör um Himmels willen auf, den Seesack vollzustopfen, der platzt doch schon aus allen Nähten. Nicht das da: Da passe ich nicht mehr rein. Nein, ich meine nicht den Seesack, ich meine das Kleid. Dieses Kleid da! Warte doch mal. Bin ich … Hast du gesagt, dass ich nicht seine Tochter bin? Dass er nicht mein Vater ist?«

»Natürlich ist er das nicht!« Sie feixte. »Wie könntest du seine Tochter sein? Habe ich dir nicht eben erzählt, was der Doktor gesagt hatte? Er kann niemandes Vater sein.«

»Hat es dann einen anderen Mann gegeben?«

»Was für einen anderen Mann?«

»Hast du mich mit einem anderen Mann gezeugt?«

»O Ethel! Wenn ich das getan hätte – und das habe ich nicht –, hätte er mich umgebracht.«

»Und was ist mit Sonny? Ist er nicht mein Bruder?«

»Natürlich nicht, du Dummerchen. Wie könnte er auch? Wir haben ihn aus einem Kinderheim in Balham. Und du kommst aus einer vornehmen Entbindungsklinik in Birmingham. Die Leiterin meinte, er wäre vor einem Polizeirevier abgelegt worden. Er hatte nur die paar wenigen Fetzen am Leib, in denen wer immer die Frau war ihn zurückgelassen hatte. Du hingegen warst von Kopf bis Fuß ausstaffiert. Ganz anders als das arme Kerlchen.«

Das war alles absolut unglaublich.

»Und du bist dir wirklich sicher, er hat dir sonst nichts getan?«

»Wer?«

»Dein Dad. Er hat dir einfach nur den Hintern versohlt? Sonst nichts?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Du musst dich mit Händen und Füßen gewehrt haben«, sagte sie bewundernd. »Dieser rote Fleck an seinem Hals war noch da, als er heute Morgen zur Arbeit aufgebrochen ist, auch wenn er versucht hat, ihn unter seinem Schal zu verbergen. Und er hat furchtbar gestöhnt letzte Nacht. Hast du ihn getreten, Liebes?«

Ein, zwei Momente lang focht diese entmutigte Frau einen inneren Kampf aus. In der Tat musste er ziemlich heftig gewesen sein, denn als sie wieder das Wort ergriff, schlug sie einen überaus feierlichen Ton an. »Das hier gehört dir, Ethel.« Sie schob mir ein straff mit Seidenpapier umwickeltes kleines Päckchen hin. Es war eine Silberbrosche in Form eines Blumenkranzes, in den ein wunderschöner Aquamarin eingefasst war. »Die Leiterin sagte mir im Vertrauen, dass sie dich damit übergeben hat. Ich meine, damit hat sie das Tuch zusammengefasst, in das sie dich gewickelt hatte. Er hat sie nie zu Gesicht bekommen. Er weiß nicht, dass ich sie seit Jahren aufbewahre, was ein Wunder ist, wo er doch ständig in meinen Sachen herumwühlt, wenn ich nicht da bin. (Und das weiß er auch nicht – dass ich es weiß.) Sonny hatte nichts bei sich, als er abgegeben wurde, also bis auf die paar Fetzen.«

Dieses schmeichelnde und romantische Fragment aus meiner Vergangenheit zu vernehmen, munterte mich ungemein auf. Genau wie Miss Braceburn schien ich bessere Tage gesehen zu haben.

»Und du bist dir sicher, du weißt nicht, wer ich bin?« Ich sah sie forschend an.

»Natürlich weiß ich es. Du bist, wer du schon immer warst – unsere Ethel.«

»Wer ich wirklich bin, meine ich! Und hör bitte auf, mich ›Ethel‹ zu nennen: Ich hasse das.«

Es war ihr anscheinend noch nie in den Sinn gekommen, dass ich als jemand ganz anderes ins Leben gestartet war.

»O nein«, erwiderte sie. »So etwas halten sie streng geheim. Sie setzen ihre Anstellung aufs Spiel, wenn sie es verraten. Selbst als er fragte, haben sie es ihm nicht gesagt. Aber immerhin hat er aus ihnen herausgebracht, dass du aus einem vornehmen Haus stammst, und deinen Sachen nach zu...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2022
Übersetzer Monika Köpfer
Sprache deutsch
Original-Titel What Hetty Did
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Schlagworte Barbara Pym • Bildungsroman • Bildungswesen • Britisch • College • Coming-of-age • die lehren des george harpole • Ein Monat auf dem Land • Ein Tag im Sommer • Humor • Identität • Jane Austen • Selbstermächtigung • steeple sinderby
ISBN-10 3-8321-8233-0 / 3832182330
ISBN-13 978-3-8321-8233-5 / 9783832182335
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