Ein Weg nach Rom -  Hermann Schulte-Vennbur,  Bettina Dürr

Ein Weg nach Rom (eBook)

Auf der Via Francigena durch Italien wandern
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
322 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7543-7599-0 (ISBN)
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Die Via Francigena führt von Canterbury nach Rom und ist der älteste europäische Pilgerweg. Sie wurde um die Jahrtausendwende in Italien neu erschlossen und gekennzeichnet. Im Jahr 2004 wurde sie vom Europarat als "Großer Kulturweg Europas" ausgezeichnet. Wer diesen Weg als Pilger oder Wanderer geht, lernt ein Italien abseits der großen Touristenzentren kennen - ein gastfreundliches und ursprüngliches Land. Landschaften und Städte, Begegnungen und Gespräche, historische und kulturelle Informationen sind Themen dieses Reiseberichtes. Der Autor sucht die Spuren des mittelalterlichen Pilgerweges und informiert über aktuelle Initiativen und Aktivitäten. Eingeflochten sind praktische Hinweise und Anregungen, aber der Bericht ist kein Wanderführer im engeren Sinne, sondern ein Erlebensbericht mit praktischem Nutzen.

Hermann Schulte-Vennbur hat bis 2010 als Coach Institutionen und Unternehmen zu Fragen der Kommunikation beraten. Heute sind die Klienten in seiner Praxis Einzelpersonen und Paare. Er reist seit seiner Studienzeit in Bologna durch Italien und schreibt auch über italienische Politik.

Von Rovarey an Saint Vincent vorbei nach Verres

Morgens um sechs Uhr aufzustehen und in der Morgendämmerung loszulaufen, ist mittlerweile mein normaler Tagesrhythmus. Ich liebe diese kühlen Morgenstunden, in denen der Tag offen ist und ich ihm entgegen gehe. Und zudem ist es das beste Licht, um zu fotografieren, Landschaften wirken plastischer und strahlen irgendwie von innen. Bereits am frühen Morgen sind die Bewässerungsanlagen in Betrieb und in deren Sprühnebeln bildet die Morgensonne Regenbögen.

Der Weg führt an einem alten Bahnhofsgebäude vorbei, dessen klassischausgewogene Fassade mir gefällt. Ich gehe um den Bahnhof herum und studiere den Fahrplan. Weil mein Zeitbudget begrenzt ist, lege ich gelegentlich kurze Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln ein, vorwiegend in der Nachmittagshitze. Der Fahrplan gibt einen etwa stündlichen Zug Takt an. Ich lese das Kleingedruckte und stelle fest, dass der Plan vier Jahre alt und der Bahnhof stillgelegt ist. Das Gebäude wird jetzt von der Kommune für Büros genutzt.

Hier öffnet sich das Tal und es läuft sich eine Weile angenehmer und zügiger. Die Nebenstraße, auf der hier die Via Francigena verläuft, ist wenig befahren und ich genieße den Blick auf Dörfer – Fagnan, Fenis, Miseregne- mit den Häusern aus Bruchstein und den steinschindelgrauen Dächern, oft überragt von einem Festungsturm oder Kastell.

Es gibt nicht nur lebendige Dörfer, auch tote. Ein kleiner Abstecher führt zu einem verlassenen Dorf. Eines der grauen Bruchsteinhäuser ist noch nahezu intakt, Fenster und Türen müssten eingesetzt werden, dann wäre es schon fast wieder bewohnbar. Von den übrigen stehen noch halb eingefallene Seitenwände, im inneren liegen Trümmer und wächst Gebüsch – ein Denkmal für Zeiten, die härter waren als unsere.

Der Weg führt in großem Bogen um Chatillon herum und öffnet herrliche Ausblicke auf das im Süden sich erhebende 3000er Massiv des Mont Avic. Die Via Francigena nutzt bis zur nächsten Ortschaft Saint Vincent den örtlichen Panoramaweg auf der linken Seite der von zahlreichen Gebirgsbächen gespeisten Dora Baltea.

Der Thermalkurort Saint-Vincent hat sich im 19. Jahrhundert zur mondänen Ville d‘ Eau des wohlhabenden Turiner Bürgertums entwickelt. Unterhalb des Panoramaweges thront über dem Ort, vom Weg aus gut zu sehen, ein um die vorige Jahrhundertwende erbautes Luxushotel. Eine schnelle Recherche mit dem Smartphone kann ich mir nicht versagen: zwei Übernachtungen dort würden so viel kosten wie alle meine Übernachtungen auf meinem Pilger-Weg nach Rom. Die Bewertungen des Hotels sind eher lau, der Luxus scheint nicht zu halten, was er verspricht. Im Grunde schade, wenn Reichtum keinen Spaß mehr macht…

Ich habe – nicht nur finanzielle- Freude mit meiner Entscheidung für die „ospitalita povera“, für die sogenannte „einfache/arme Gastfreundschaft“. Sehr einfach mitunter, was die Ausstattung von Zimmern oder Schlafsälen anbelangt, aber oft reich an Herzlichkeit, mit der ich aufgenommen werde.

Auch für diese Etappe gilt, dass das Auf und Ab der Via Francigena durch Seitentäler sehr mühsam werden kann und viel Zeit in Anspruch nimmt. Ich weiche deswegen streckenweise auf die SS 26 (Strada Statale 26) aus. Der Seitenstreifen ist breit und den Verkehr kann ich für einige Kilometer aushalten; als Entschädigung komme ich zügig voran. Zudem kann man annehmen, dass die Talstraße der alte Pilgerweg ist. Ohne besondere Gründe - wie etwa Überschwemmungen- wird sich kein Pilger diesen anstrengenden Weg oberhalb des Talgrundes zugemutet haben. Die jetzige Führung des Weges – die natürlich den Verkehr meiden soll - dürfte in einigen Abschnitten etwa doppelt so lang sein wie die SS 26 im Tal.

Und Vorsicht! Wer sich auf einer belebten Straße zu seinem Mitwanderer umdreht, sollte den Rucksack immer auf die dem Verkehr abgewandte Seite drehen. Es gibt in Ortschaften mitunter nicht zu umgehende Engstellen, die bei einer falschen Bewegung zu lebensgefährlichen Kollisionen führen können.

Um die Mittagszeit melde ich mich telefonisch im Konvent des Hl. Aegidius in Verres an. Anmeldungen werden auf der ganzen Via Francigena in der Regel erwartet und empfehlen sich, wenn man sicher sein möchte, dass in den oft recht kleinen Pilgerunterkünften ein Platz frei ist. Leider führt dieses Verfahren, anders als auf dem Jakobsweg, zu der manchmal unglücklichen Situation, dass später kommende Pilger quasi den früheren bei der Belegung vorgezogen werden, weil sie eben „reserviert“ haben. Aber diesmal bekam ich die telefonische Auskunft, die mir am liebsten ist: Du bist willkommen, aber wir reservieren nicht!

Die Via Francigena führt hier durch eine Kette mittelalterlicher Dörfer, die alle in etwa gleicher Höhe einige hundert Meter oberhalb des Talgrundes an den Hang gebaut sind. Es geht an den ersten Weinbergen vorbei, unterhalb hochgemauerter Terrassen und durch kleine Laubwälder, und ich habe immer wieder Ausblicke auf Burgen und Wehrtürme.

Wer das Val d’ Aosta bisher nur von der raschen Durchfahrt auf dem Weg in den Süden oder zurück nach Deutschland kennt, sieht wenig von der Schönheit dieses Tales. Das gilt letztlich für den ganzen Weg, zumindest viele seiner Abschnitte: auch darum gehe ich zu Fuß.

Ich bleibe vor einer Kapelle stehen. Die zur Straße gewandte Seite trägt eine französische Inschrift. Während ich versuche, die Zeilen zu verstehen, kommt eine Frau aus dem Nachbarhaus und fragt, ob sie mir die Kapelle zeigen soll. Sie möchte dies wohl gerne, wie ihr freundlich drängender Ton nahelegt. Sie ist die Tochter des Stifters und Erbauers der Kirche. Die Kapelle ist ein geweihtes Haus und all den ungelebten Leben derjenigen gewidmet, die ihres im Krieg vor der Zeit lassen mussten. Im inneren ist das Gotteshaus mit Steinen aus der Dora Baltea ausgekleidet, das sei in der Gegend üblich – auf mich wirkt es sehr verspielt.

Christina ist die einzige Tochter ihres Vaters und hütet sein Erbe. Der Vater war im Krieg Bürgermeister des Ortes und hat versucht, dessen Bewohner so unbeschadet wie möglich durch die Kriegs- und Besatzungsjahre zu bringen. Er hat eine Fülle von Aufzeichnungen und Dokumenten hinterlassen und Christina erzählt, dass man sie dränge, dies Material dem Ortsarchiv zu übergeben. Sie weigert sich: das Material würde selektiv publiziert und mithin missbraucht. Ihr Vater habe eine Veröffentlichung nicht gewollt, solange noch Zeugen und Akteure dieser Zeit lebten. Ich frage nach dem Verhalten der deutschen Soldaten und bekomme zur Antwort: Schlechtes ist von allen Seiten getan worden.

Der Wunsch ihres Vaters war: Die Schuld der Väter soll nicht über die Söhne kommen. Und das Archiv bleibt geschlossen, bis die Vergangenheit Geschichte geworden ist.

All dies erfahre ich nicht während der Führung, sondern später als Beifahrer. Ich vergesse meinen Wanderstock in der Kirche und muss nach einigen 100 Metern wieder umkehren. Christina öffnet noch einmal, sieht mich erschöpft und verschwitzt und fragt, ob sie mich nach Verres mitnehmen soll. Es ist bereits Nachmittag, drückend heiß und der Weg noch weit. Quasi per Anhalter zu pilgern entspricht zwar nicht ganz der Idee einer Pilgerschaft, aber auch die katholische Kirche verlangt für den Ablass nur die letzten 100 Kilometer vor Rom als Fußgang.

So bin ich relativ früh in Verres und ich frage mich in der spätnachmittäglichen Hitze zum Konvent durch, den ich auf meiner Karte nicht finden kann. In Deutschland erkundige ich mich nur ungern nach dem Weg, aber hier nutze ich die Chance, mein Italienisch zu trainieren und ein wenig ins Gespräch zu kommen.

Ich umrunde das auf einem kleinen Hügel über Verres liegende kirchlich-klösterliche Anwesen, schaue in die Kirche und klingele dann an einer Pforte, die ich für den Eingang des Pfarrhauses halte. Es öffnet niemand und ein Recht darauf habe ich auch nicht. Ich stehe nicht vor einem Hotel. Nach einem Rundgang durch Verrres probiere ich es ein zweites mal und werde vom Pfarrer, übrigens in ziviler Kleidung, freundlich empfangen. Er weist mich in die Gemeinschaftsunterkunft ein und meint, es hätte sich gestern noch jemand angemeldet, aber er hätte nichts mehr gehört. Ich belege ein Bett und dusche sofort, solange ich die Unterkunft und das Bad für mich habe. Im Gegensatz zur Erwartung des Pfarrers füllt sich der Schlafsaal nach und nach und am Abend sind fast alle Betten belegt.

Wenn ich in einem Konvent übernachte, besuche ich, wenn es irgendwie passt, den Abendgottesdienst meiner Gastgeber, auf den sie mitunter aufmerksam machen. Gefragt nach meinen Motiven für die Pilgerreise werde ich nie. Die kirchlichen Gastgeber sind diskret und tolerieren sicherlich auch Motive, die nicht in ihrem Sinn gläubig-religiös sind. Jeder Pilger wird gut aufgenommen und jeder kann sich wohltuend angenommen fühlen. Selbst das Credenziale ist oft nicht verpflichtend.

Am Abend haben wir Pilger Glück: Verres feiert das Fest seines Schutzpatrons...

Erscheint lt. Verlag 21.10.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
ISBN-10 3-7543-7599-7 / 3754375997
ISBN-13 978-3-7543-7599-0 / 9783754375990
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