Verschwörungsmythen. Wie wir mit verdrehten Fakten für dumm verkauft werden. -  Holm Gero Hümmler

Verschwörungsmythen. Wie wir mit verdrehten Fakten für dumm verkauft werden. (eBook)

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2021 | 2. Auflage
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-3175-2 (ISBN)
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Verschwörungsglaube hat Konjunktur, sogar in der Weltpolitik findet er heute Anhänger. Könnte hinter den Vorstellungen der 'Verschwörungstheoretiker' vielleicht doch mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit stecken? Wer für seine Behauptungen überprüfbare Belege anführt, verdient, damit ernst genommen zu werden. Um zu prüfen, ob Mythen oder Fakten hinter den 'Theorien' stehen, sollte sich jemand mit entsprechender Fachkompetenz damit befassen. Das vorliegende E-Book hat sich dies zur Aufgabe gemacht - es geht verschiedenen Behauptungen im Bereich Naturwissenschaft und Technik auf den Grund. Die Ergebnisse sind verblüffend, die Erklärungen oft erstaunlich einfach. Wer ehrliche Antworten und Anstöße für eigene Recherchen und Überlegungen sucht, wird sie ganz besonders zu schätzen wissen.

Dr. Holm Gero Hümmler ist seit 20 Jahren eine prominente Figur der deutschen Skeptikerszene. Seit 2023 ist er im Kernteam des Podcasts 'WTF-Talk'. Er hat Physik (mit Nebenfach Meteorologie) studiert und arbeitet als Management-Berater.

Einleitung: Unter falscher Flagge


„Großmutter gestorben.“

Die Mitteilung am Telefon ist knapp und wenig pietätvoll. Von Alfred N. erwartet auch niemand, dass er trauert. Seit Wochen wartet er mit seinem Team auf genau dieses Codewort, den herbeigesehnten und gleichzeitig befürchteten Einsatzbefehl. Das Team besteht aus insgesamt sieben Personen, von Alfred N. selbst mit großer Sorgfalt ausgewählt – ein Teil wohltrainierte Kämpfer, ein Teil die benötigten Experten, alle loyal und verschwiegen.

Angespannte und dennoch langweilige Wochen haben sie in der grenznahen Kleinstadt verbracht, aufgeteilt auf zwei kleine Hotels, um nicht als Gruppe aufzufallen. Zwischenzeitlich hatte N. sogar schon einmal darum gebeten, wegen der langen Wartezeit ins Ausbildungslager zurückkehren zu dürfen, bekam aber den Befehl, mit seiner Einsatzgruppe weiter vor Ort abzuwarten. Jetzt ist der entscheidende Moment gekommen, der Moment, an dem sie Geschichte schreiben werden – allerdings eine Geschichte, von der niemand jemals wird erfahren dürfen.

Mit ihrer Unterkunft haben N. und seine Männer noch Glück. Entlang der Grenze warten noch zwei weitere geheime Kommandoeinheiten auf ihren Einsatz. Beide Teams sind deutlich größer als das von N., und ihre Einsatzorte sind kleine Dörfer, so dass es unmöglich ist, sie unauffällig in Hotels unterzubringen. An einem der beiden Orte mussten zeitweise 130 Männer im abgeschirmten Lager einer Brauerei campieren, in dem es nicht einmal Waschgelegenheiten gab. Inzwischen sind es nur noch 40, und es gibt einen Schlauch, um sich notdürftig zu waschen.

Alfred N. und sein kleines Kommando haben ihre Uniformen schon im Ausbildungslager zurückgelassen und die letzten Wochen als Geschäftsreisende in zivilen Anzügen verbracht. Auf den Einsatzbefehl hin wechseln sie in einfachere, alte, aber ebenfalls zivile Kleidung, schlüpfen in die Rolle bewaffneter Untergrundkämpfer. Ausweise, andere Papiere und persönliche Gegenstände müssen sie zurücklassen: Falls sie von der Polizei verhaftet werden, müssen sie wenigstens so lange unerkannt bleiben, bis jemand von ganz oben die Ermittlungen an sich ziehen und sie diskret verschwinden lassen kann. Die beiden anderen Kommandos wechseln auf dem Weg zum Einsatzort sogar in Militäruniformen des Nachbarlandes.

In zwei Autos fahren Alfred N. und sein Team zum Einsatzort. Ein drittes Auto kommt direkt von der Polizeistation und bringt die „Konserve“. Die „Konserve“ ist ein Mensch, ein Angehöriger der ethnischen Minderheit, der sich in der Vergangenheit an Unruhen beteiligt hat. Schon im Polizeigewahrsam wurde er mit Medikamenten betäubt; am Ende der Aktion wird er erschossen zurückbleiben, als angeblich im Kampf getöteter Angreifer und als nicht mehr lebender Beweis, dass der Angriff tatsächlich von Aufständischen ausgeführt wurde. Zwei Männer aus dem Kommando nehmen den Betäubten in Empfang, während der Wagen, der ihn abgeliefert hat, sofort wieder verschwindet. Daran, wer genau den Mann erschossen hat, wird sich später niemand mehr erinnern wollen.

Alfred N. und die vier anderen Männer seines Kommandos beginnen sofort mit dem Angriff auf das Zielobjekt. Hinter einem mehr als mannshohen Gitterzaun erheben sich in der Dunkelheit drei Betriebsgebäude, dahinter ein großer stählerner Sendemast. Normalerweise wird der Komplex rund um die Uhr von der örtlichen Polizei bewacht, aber vor wenigen Tagen wurden die Polizisten abgezogen und die Bewachung von Beamten einer Spezialeinheit aus der Hauptstadt übernommen. Heute haben diese Beamten besondere Befehle erhalten und sind rechtzeitig vor der Ankunft von Alfred N. und seinem Kommando spurlos verschwunden. Alfred N. weiß, dass er nicht mit Widerstand zu rechnen hat. Mit vorgehaltenen Pistolen und Maschinenpistolen stürmen seine Männer das Hauptgebäude des Senders. Sie treffen nur auf vier unbewaffnete Mitarbeiter, die sie schnell gefesselt und im Keller untergebracht haben.

Damit fangen aber die Probleme des Einsatzes erst an. Dass der Sender kein eigenes Studio für Live-Übertragungen hat, war bekannt, aber selbst der eigens mitgebrachte Nachrichtentechniker des Kommandos findet nicht einmal die notwendige Ausstattung, um das laufende Programm für eine Durchsage zu unterbrechen. Die Mitarbeiter des Senders werden wieder aus dem Keller gezerrt und befragt; die Zeit wird knapp. Nach einer Viertelstunde, kurz bevor die Aktion hätte abgebrochen werden müssen, findet sich endlich ein Notfallmikrofon für Durchsagen. Der Dolmetscher des Kommandos kann endlich die vorbereitete Rede live im Radio verlesen:

„Achtung, Achtung! Hier ist Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand. Die Stunde der Freiheit ist gekommen.“ Die knapp vierminütige Durchsage in polnischer Sprache endet mit den Worten: „Hoch lebe Polen!“ Sie ist nur im äußersten Osten Schlesiens zu hören.

Als die örtliche Polizei beim Radiosender in Gleiwitz eintrifft, sind SS-Offizier Alfred Naujocks und sein Kommando verschwunden. In derselben Nacht überfallen andere SS-Kommandos in Uniformen des polnischen Militärs eine deutsche Zollstation im nahen Dorf Hochlinden und ein Forsthaus im rund 100 Kilometer nordwestlich gelegenen Pitschen. Auf diese angeblich polnischen Überfälle beruft sich am folgenden Morgen Adolf Hitler zur Rechtfertigung des deutschen Angriffs auf Polen: „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!“[1]

Die inszenierten Überfälle auf grenznahe Einrichtungen in Oberschlesien am Vorabend des Kriegsbeginns 1939 sind ein geradezu idealtypischer Fall einer sogenannten False-Flag-Operation. Bei einem solchen Einsatz unter falscher Flagge handeln Regierungsstellen gegen die zumindest vordergründigen Interessen eigener Bürger, mitunter buchstäblich unter Vortäuschung einer fremden Nationalität, auf jeden Fall aber im Geheimen. Es handelt sich also in gewisser Weise um eine Verschwörung der Regierung oder von Teilen der Regierung gegen die eigene Bevölkerung.

Am „Unternehmen Tannenberg“, wie die Überfälle offiziell bezeichnet wurden, zeigen sich auch einige typische Merkmale echter False-Flag-Operationen:

  • Für bestmögliche Geheimhaltung werden möglichst wenige und nur sehr zuverlässige Personen beteiligt. Sofern sich bis heute rekonstruieren lässt, dürften die drei Überfälle einschließlich der Logistik und der Bereitstellung der „Konserven“ aus Gefängnissen und Konzentrationslagern wenig mehr als 200 Mitwisser gehabt haben. Fast alle waren Angehörige der SS, und fast alle Führungs- und Organisationsaufgaben wurden von Mitgliedern des Sicherheitsdienstes (SD), des SS-eigenen Geheimdienstes, wahrgenommen. Jeder Beteiligte erfuhr nur, was für seine Aufgabe unmittelbar erforderlich war, und auch das möglichst erst im letzten Moment. Wer die „Konserven“ brachte, wusste nicht, wofür sie gebraucht wurden, und die Beteiligten an den Überfällen waren selbst überrascht, auf ihrem Rückzug über Tote zu stolpern.
  • Befehle kommen unmittelbar von höchster Stelle. Angeordnet wurde das Vortäuschen von Überfällen als Kriegsgrund von Hitler persönlich. Der Befehl ging an SS-Reichsführer Heinrich Himmler, der den Leiter des SD, Reinhard Heydrich, mit der Umsetzung beauftragte. Unter Heydrich gab es nur noch einen SS-Oberführer (entsprechend einem heutigen Brigadegeneral), der alle drei Scheinüberfälle gemeinsam befehligte. Es war Heydrich persönlich, der Alfred Naujocks in Gleiwitz per Telefon den Einsatzbefehl „Großmutter gestorben“ gab.[2]
  • Es geht eigentlich immer etwas schief. Planmäßig verlief beim Unternehmen Tannenberg nur das Verwüsten des Forsthauses in Pitschen, dessen Bewohner rechtzeitig in den Urlaub geschickt worden waren, so dass niemand da war, der Widerstand hätte leisten können. In Gleiwitz wäre die Radiodurchsage fast daran gescheitert, dass das Mikrofon für Notfalldurchsagen nicht zu finden war. Der Scheinüberfall auf die deutsche Zollstation Hochlinden wäre schon im Vorfeld mehrmals um ein Haar aufgeflogen.
  • Am Ende bleiben Fragen offen. In Gleiwitz waren Zeugen unter den Überfallenen hinterher sicher, es sei tatsächlich einer der Angreifer erschossen worden.[3] Die Aussagen der Angreifer selbst schließen das jedoch aus.[4] Derlei Unklarheiten sind nicht spezifisch für False-Flag-Operationen, sondern eher ein allgemeines Problem bei unübersichtlichen, unvorhergesehenen Ereignissen, die aus Zeugenaussagen rekonstruiert werden müssen, weil Dokumente in Bild oder Schrift fehlen oder verschollen sind.

Dass das Unternehmen Tannenberg trotz aller Pannen erst nach dem Krieg in den Nürnberger Prozessen aufgedeckt wurde und viele Details erst in staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in den 1960er Jahren ans Licht kamen, ist nur mit den besonderen Bedingungen der Zeit zu erklären. In den Wirren des bereits am folgenden Morgen einsetzenden Krieges waren gerade SS-Angehörige und mögliche Zeugen im Grenzgebiet zur Genüge mit anderen Themen und schließlich mit dem nackten Überleben beschäftigt. Ansonsten hätten vermutlich selbst die drakonischen Strafandrohungen und die gleichgeschaltete Presse der NS-Ära kaum so lange verhindern können, dass Gerüchte über die Täuschung an die Öffentlichkeit gelangt wären. In der pluralen Welt einer heutigen westlichen Gesellschaft würden derart plumpe Täuschungsmanöver unmöglich so lange unentdeckt bleiben.

Dennoch hat es auch im modernen Westen nachweislich False-Flag-Operationen gegeben. Im Watergate-Skandal gaben 1972 enge Mitarbeiter von US-Präsident Nixon den Auftrag zu einem Einbruch ins Hauptquartier der oppositionellen Demokraten, um deren Wahlkampf auszuforschen. Nachdem die Einbrecher auf frischer Tat ertappt worden...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik
Technik
Schlagworte Fake News • Fakt oder Fake • Geschichte • Mythos • Naturwissenschaft • Sachbuch • Verschöwrung • Verschwörungstheorien
ISBN-10 3-7776-3175-2 / 3777631752
ISBN-13 978-3-7776-3175-2 / 9783777631752
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