Das lange 19. Jahrhundert (eBook)

Von Washington bis Wilhelm II.
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2021 | 2. Auflage
2 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7541-1836-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das lange 19. Jahrhundert -  Matthias von Hellfeld
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Das lange 19. Jahrhundert beginnt in der Mitte des 18. Jahrhunderts und dauert in seinen Auswirkungen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Dazwischen liegen atemberaubende Entwicklungen, die unser Leben bis heute prägen: technische Neuerungen und Erfindungen, die Bildung von Nationen auf dem europäischen Kontinent und das Ende der absolutistisch regierenden Monarchien, die Durchsetzung von Verfassungsstaaten und Parlamentarismus, die Entstehung von Interessensverbänden wie Arbeiter- und Frauenbewegung, Jugendbewegung und Arbeitgebervereinigungen. Der Anfang war geprägt von Romantik und Biedermeier, das Ende war in Deutschland von einer preußischen Militärmonarchie charakterisiert. Über allem standen die Auswirkungen der Industrialisierung, die von England ausgehend den Kontinent im 19. Jahrhundert vollkommen veränderten. Die ehemals in der Agrarwirtschaft Beschäftigten wanderten in die Städte ab, wo sie oft in Elendsquartieren der Vororte landeten. Sie hofften auf neue und stabile Arbeitsplätze, die durch die Industrialisierung entstehen sollten. Diese Entwicklung löse die Urbanisierung aus, an deren Ende viele Städte ihre Einwohnerzahl verzehnfacht hatten. Und mitten drin versuchten die Deutschen mit einer Revolution, einen demokratischen Verfassungsstaat etablieren, der zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine deutsche Einheit in der Mitte Europas herstellen sollte. Die Deutsche Revolution von 1848/49 scheiterte, aber das Ziel eines gemeinsamen deutschen Staates wurde 1871 nach drei Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich durch die Gründung des deutschen Kaiserreichs doch noch umgesetzt. Die nun folgenden Jahre waren geprägt von einer sozialen Spaltung (Katholiken- und Sozialistenverfolgungen) und dem Versuch durch ein ausgeklügeltes Bündnissystem den Frieden in Europa zu bewahren. Diese Politik war verknüpft mit dem ersten Reichskanzler Otto von Bismarck. Dessen Abschied leitete den Beginn einer aggressiveren Außenpolitik ein.

Matthias von Hellfeld ist promovierter Historiker und Journalist (WDR, VOX, Dt. Welle, ZDF, Deutschlandfunk, DRadioWissen), Autor zahlreicher historischer und politischer Sachbücher zur Geschichte Deutschlands und Europas und zum Rechtsextremismus. Zudem hat er zahlreiche TV- und Hörfunk-Beiträge zu historischen Themen verfasst. Er ist Dozent des Masterstudiengangs 'OnlineRadio' der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg und beim Kölner Campus für lebenslanges Lernen, sowie Vertrauensdozent einer politischen Studienstiftung.

Matthias von Hellfeld ist promovierter Historiker und Journalist (WDR, VOX, Dt. Welle, ZDF, Deutschlandfunk, DRadioWissen), Autor zahlreicher historischer und politischer Sachbücher zur Geschichte Deutschlands und Europas und zum Rechtsextremismus. Zudem hat er zahlreiche TV- und Hörfunk-Beiträge zu historischen Themen verfasst. Er ist Dozent des Masterstudiengangs "OnlineRadio" der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg und beim Kölner Campus für lebenslanges Lernen, sowie Vertrauensdozent einer politischen Studienstiftung.

1                Das 19. Jahrhundert als Epoche


 

Das „lange“ 19. Jahrhundert begann 1776 mit Revolution und Krieg in Amerika. Die Schlachtrufe der Amerikaner, die von französischen Soldaten unterstützt wurden, erreichten bald Europa und hallten 1789 während der Französischen Revolution wider. Die Ergebnisse der beiden Revolutionen zu Beginn des „langen“ 19. Jahrhunderts haben bis heute Bestand. Die unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechte, das Prinzip des Verfassungsstaats, die Trennung von Kirche und Staat und der Vorrang des Individuums vor den Ansprüchen des Staates gehören zum Wertekanon moderner Demokratien. Die Französische Revolution brachte einen prägenden Modernisierungsschub, der die Staaten Europas zwang, adäquate Organisationsstrukturen zu entwickeln. Napoleon verbreitete den Code Civil über den Kontinent, brachte mit seinen Soldaten die Ideen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ unter die Leute und löste damit eine Kettenreaktion aus. Im Bewusstsein der Menschen des beginnenden 19. Jahrhunderts brachte die Französische Revolution eine kaum zu bewältigende Beschleunigung in ihr Leben. Binnen kurzer Zeit veränderte diese Revolution die Lebenswelt der meisten Europäer. Als die Ära der „Franzosenzeit“ zu Ende ging, konnten die Ergebnisse der Revolution nicht mehr zurückgenommen werden. Zwar folgte nach 1814 eine Phase der Restauration in Europa. Aber die Ideen von bürgerlichen Rechten, nationaler Einheit und liberalem Verfassungsstaat waren vom europäischen Kontinent nicht mehr zu tilgen. Die Revolution in Frankreich hatte einen tiefen Mentalitätswechsel bei vielen Menschen ausgelöst. In nahezu allen Ländern des Kontinents entstieg der nationale Geist aus den bis dahin fest verkorkten Flaschen und sorgte neben dem aufkommenden Nationalismus für liberale Verfassungsbewegungen, die nach Beteiligung an der Macht in den Staaten Europas riefen. Die Französische Revolution war 1789 der Beginn einer Epoche, die nicht nur das Ende der Revolution und die militärische Niederlage vor den Toren Leipzigs im Oktober 1813 überlebte, sondern bis in die Moderne nachwirkt. 

 

Aus den Forderungen der Revolution entstanden die europäischen Nationalstaaten in England und Frankreich zuerst, dann in Griechenland, Belgien, Italien und Deutschland. Das „lange“ 19. Jahrhundert endete wie es begann: mit Revolution und Krieg, wozu die „inzwischen voll entfesselte“ Dynamik der Nationalstaaten entscheidend beitrug (Kocka, 2001). Die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts ebneten den Weg von der Vielstaaterei des Mittelalters in eine moderne Organisation des Kontinents. Zu Lebzeiten des protestantischen Religionsstifters Martin Luther existierten knapp 500 eigenständige politische Einheiten in Europa. Sie alle pochten auf überkommene Rechte, eigene Zölle, Währungen und Gesetze. Von diesem geopolitischen Flickenteppich blieben am Ende des „langen“ 19. Jahrhunderts noch 25 übrig.

 

Für das „lange“ 19. Jahrhundert waren zwei Entwicklungen besonders prägend. Tragender Pfeiler des wirtschaftlichen Aufschwungs, der sich bis zum Ende des Jahrhunderts einstellte, war die Industrialisierung. Sie veränderte die Produktionsbedingungen, marginalisierte die bisherigen Familienstrukturen, löste die strukturelle Armut während des Pauperismus und mehrere Auswanderungswellen aus, war der Beginn der Urbanisierung Europas und gleichzeitig Ursache für soziale Bewegungen, die all das nicht wollten. Die zweite prägende Entwicklung war die Gründung der Nationalstaaten, deren negative Wirkmacht ins 20. Jahrhundert hineinragte und als ursächlich für den Ersten Weltkrieg gilt. Die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts versprachen ihren Bürgern Gleichheit und Teilhabe an den gesellschaftlichen Entwicklungen. Nach und nach wollten sie „ihre“ Bürger am Wohlstand beteiligen, Verfassungen erlassen und Freiheit und Fortschritt garantieren. Diese hohen Ansprüche waren verbunden mit kultureller Homogenität und Identität mit einer gemeinsamen Geschichte, die zum Bezugspunkt über die sozialen Grenzen hinweg wurde. Gleichzeitig versprach der Nationalstaat „Abgrenzung und Behauptung gegen äußere Gegner“ (Janz, 2013) und entblößte damit die zweite Seite der Medaille, denn „Abgrenzung und Behauptung“ hatten natürlich auch ein kriegerisches Element. Nach der gescheiterten deutschen Revolution 1848/49 und der Reichsgründung 1871 griff die Nationalstaatsidee immer mehr auf Ost- und Südosteuropa über. Beim Berliner Kongress erhielten 1878 Serbien, Montenegro und Rumänien ihre nationalstaatliche Eigenständigkeit, während Bulgarien teilweise autonom wurde. Mit der Ausdehnung der Nationalstaaten ging das Ende der multiethnischen Superstaaten einher. Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich waren vor Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr in der Lage, als regionale Ordnungsmacht die ethnischen Konflikte in ihren Herrschaftsbereichen zu beruhigen.

 

Der Nationalstaatsgedanke des 19. Jahrhunderts verband sich mit der Zeit mit den Ideen des Liberalismus. Nun waren staatliche Einheit, Verfassungsstaat und individuelle Freiheiten der Dreiklang, der das überkommene System absoluter Monarchien erschütterte. Der Gedanke, in einer Nation mit gleichen Rechten für alle und einem an die Verfassung gebundenen Herrscher zu leben, erreichte mehr als nur die intellektuellen Eliten. In Deutschland war die Revolution 1849 gescheitert, aber die Ideen blieben erhalten – wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen. Der Nationalismus wurde mehr und mehr eine „konservative, auf den bestehenden Staat, seine Institutionen und Symbole bezogene Kraft – von der Obrigkeit gezielt gefördert“ (Janz, 2013). Er wurde schließlich zum sozialen Kitt, der als Antwort auf die Unwägbarkeiten, die die Industrialisierung mit der Binnenwanderung und der Urbanisierung nach sich zog, diente. Äußeres Erscheinungsbild waren Zeremonien, die mehrmals im Jahr die nationale Gemeinsamkeit zur Schau stellten. In Deutschland war das besonders der 2. September, an dem alljährlich an den Sieg im deutsch-französischen Krieg 1870 erinnert wurde. Jener „Tag von Sedan“ brachte Paraden, Schulfeiern, landesweite Beflaggung und national-patriotische Reden hervor, die allerdings oft in Hasstiraden gegenüber dem „französischen Erbfeind“ endeten. Frankreich erinnerte jedes Jahr an die glorreiche Revolution von 1789 und stellte dabei mitunter mehr als notwendig französisches Selbstbewusstsein zur Schau. Neben den Feiertagen wurden Staatsbegräbnisse aufwändig in Szene gesetzt. Das Pariser Panthéon, Westminster Abbey in London oder die Walhalla bei Regensburg gaben die geschichtsmächtige Umgebung derartiger Ereignisse ab. Der öffentliche Raum wurde mehr und mehr zu einer Feierstätte für Monarchen, Militärs und Staatsmänner. Allen voran gab der deutsche Kaiser Wilhelm II. den ersten Medienstar in der Geschichte. Seine öffentlichen Auftritte waren sorgsam inszeniert, für die anwesenden Photographen warf sich seine kaiserliche Hoheit auch schon mal in Pose. All das diente dem inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft, die in den zurückliegenden Jahrzehnten vieles hatte ertragen müssen.  

 

Neben dem inneren Spektakel, das für jeden sichtbar, die eigene Nation zur Schau stellte, war die Industrialisierung für die Ausbildung des Nationalstaatsgedankens von großer Bedeutung. Sie verursachte die Konkurrenz zwischen die Nationalstaaten und etablierte das Ringen um wirtschaftliche Macht zwischen Europas Nationen. Aus einem geregelten Nebeneinander wurde spätestens mit dem Beginn des kalendarischen 20. Jahrhunderts eine heftige Konkurrenz. Großbritannien war als Kolonialmacht und durch die früh einsetzende Industrialisierung schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum weltweiten Wirtschaftsimperium aufgestiegen. Amsterdam hatte seine Stellung als zentraler Handelsplatz Europas an London verloren. Die Gründung des deutschen Kaiserreichs im Januar 1871 geschah auch als Ausdruck eines Aufholprozesses gegenüber dem industrialisierten und hochgerüsteten Großbritannien. Mit dem Ende der Ära Otto von Bismarcks änderte sich das außenpolitische Augenmerk Deutschlands auf den Erwerb von Kolonien, um mit dem ungeheuren Reichtum und den ökonomischen Möglichkeiten der europäischen Kolonialmächte mithalten zu können. Damit einher gingen die Debatten um militärische Aufrüstung und die Anschaffung einer deutschen Flotte. Beides mündete schließlich in waffenstarrenden Militärblöcken, die sich im Sommer 1914 gegenüberstanden. Doch bevor es soweit war, verlagerten die europäischen Großmächte ihr Augenmerk auf die Aufteilung der Welt, die vor allem in Afrika verheerende Folgen bis weit in das 20. Jahrhundert nach sich zog. Bei der „Eroberung des schwarzen Kontinents“ wurden Pseudonationen geschaffen, Grenzen mit dem Lineal auf einer Landkarte gezogen und in die Tat umgesetzt. Afrikanische Gebiete wurden so aufgeteilt, wie es den Europäern praktisch erschien. Als diese künstlich geschaffenen Gebiete in der Mitte des 20. Jahrhunderts in die Unabhängigkeit entlassen wurden, entwickelten diese Staaten eine Sprengkraft, die nach wie vor den gesamten Kontinent erschüttern. 

 

Die Militärpotenziale der europäischen Nationen trafen nicht nur in Afrika aufeinander. Auch in Asien waren die Kolonialmächte vertreten und eroberten Teile dieses Kontinents als wesentliche Station...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 19. Jahrhundert • Deutsches Kaiserreich • Erster Weltkrieg • Französische Revolution • Geschichte Europas • Industrialisierung • Urbanisierung
ISBN-10 3-7541-1836-6 / 3754118366
ISBN-13 978-3-7541-1836-8 / 9783754118368
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