Denn wir sind anders (eBook)

Die Geschichte des Felix S.

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491533-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Denn wir sind anders -  Jana Simon
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Das extreme Leben eines Wendekindes Dies ist die Geschichte von Felix, der als Schwarzer 1970 in Ostberlin geboren wurde. In der DDR ist er von Beginn an ein Exot. Der kleine, schmale Junge wird häufig von anderen Kindern verprügelt. Mit 13 Jahren lernt er Karate, was in der DDR verboten ist. Er trainiert wie besessen, um nie mehr wehrlos zu sein. Nach dem Mauerfall wird Felix deutscher Kickboxmeister. Er verdient sein Geld als Türsteher, zieht mit den Hooligans vom BFC Dynamo herum und prügelt sich in der »dritten Halbzeit«, zugleich liebt er die Musik von Bach, will Psychologie studieren und meditiert täglich mehrere Stunden. Im November 1999 wird Felix verhaftet. In Berlin beginnt der erste Prozess gegen eine Gruppe von Hooligans, Türstehern und Kampfsportlern, die mit allem handeln, was Geld bringt. Felix ist einer der Angeklagten. Das Urteil wird über sein Leben entscheiden. »Spannend bis zur letzten Seite« Frankfurter Rundschau

Jana Simon schreibt für die »ZEIT« über IS-Rückkehrer, die AfD und globale Friedensvermittler und hat den Fall Dieter Wedel, dem mehrere Frauen sexuelle Belästigung vorwerfen, mit aufgedeckt. Bekannt ist sie für ihre einfühlsamen Porträts und Reportagen, die durch ihre Intensität beeindrucken. Von 1998 bis 2004 war sie Reporterin beim »Tagesspiegel«. Seit 2004 ist Simon Autorin bei der »ZEIT« in Berlin. Für ihre Reportagen erhielt sie zahlreiche Preise, u.a. den Theodor-Wolff-Preis, den Axel-Springer-Preis und den Deutschen Reporterpreis 2015, 2018 und 2020. Vom medium magazin ist sie in der Kategorie »Reportage« zur Journalistin des Jahres 2018 gewählt worden. Ihr Buch »Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf« (2013) war ein Bestseller. 

Jana Simon schreibt für die »ZEIT« über IS-Rückkehrer, die AfD und globale Friedensvermittler und hat den Fall Dieter Wedel, dem mehrere Frauen sexuelle Belästigung vorwerfen, mit aufgedeckt. Bekannt ist sie für ihre einfühlsamen Porträts und Reportagen, die durch ihre Intensität beeindrucken. Von 1998 bis 2004 war sie Reporterin beim »Tagesspiegel«. Seit 2004 ist Simon Autorin bei der »ZEIT« in Berlin. Für ihre Reportagen erhielt sie zahlreiche Preise, u.a. den Theodor-Wolff-Preis, den Axel-Springer-Preis und den Deutschen Reporterpreis 2015, 2018 und 2020. Vom medium magazin ist sie in der Kategorie »Reportage« zur Journalistin des Jahres 2018 gewählt worden. Ihr Buch »Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf« (2013) war ein Bestseller. 

Der erste Schlag traf ihn genau in den Magen, etwas unter dem Solarplexus. Felix atmete aus, laut, es hörte sich an wie ein Luftstoß aus dem Inneren seines Körpers. Der nächste Schlag. Jörn stand ihm gegenüber mit nacktem Oberkörper und sah ihn an. Er wartete ein paar Sekunden, dann zielte er wieder auf Felix’ Bauch.

Es war kalt hier im Keller, es roch nach alten Matratzen, feuchter Erde, Schweiß und schlecht getrockneten Kleidern. Sie war zu spät, hatte ihre Jacke anbehalten und sich auf die Holzbank an der Wand gesetzt, die einzige Zuschauerin dieser Karate-Trainingsstunde im Frühjahr 1987. Seit sie den Raum betreten hatte, fragte sie sich, was sie hier eigentlich wollte. Jörn hatte es für eine gute Idee gehalten, dass sie vorbeischaute, damit sie und Felix sich kennen lernen könnten. Jetzt saß sie in diesem kalten Keller unter Jörns Haus und sah zwei sechzehnjährigen Jungs in Judohosen dabei zu, wie sie sich gegenseitig die Fäuste in den Magen rammten.

Felix war klein, hatte kurze schwarze Haare, die ein bisschen wild von seinem Kopf abstanden, schön geschwungene dunkle Augenbrauen und lange Wimpern wie ein Mädchen. Seine Bauchmuskeln waren zu kleinen übereinander liegenden Quadraten ausgeformt. Jörn war etwas größer, seine Haare waren blond und seine Muskeln harrten noch der Vollendung. Der Kellerboden war mit Matten ausgepolstert, die einmal weiß gewesen sein mussten. Sie wusste das genau, weil ihre Augen die meiste Zeit nach unten gerichtet waren, während Jörns Faust immer wieder in den Bauch von Felix knallte, zehn-, zwanzigmal. Dann wechselten sie. Nun knallte Felix’ Faust in Jörns Bauch. Manchmal sprangen ihre Körper beim Aufprall ein Stück zurück, als verlören sie für einen kurzen Moment den Boden unter den Füßen.

Von ihrer Bank aus konnte sie ihre Gesichter beobachten, während sie zuschlugen. Felix hatte die Augen zusammengekniffen, die Lippen presste er fest aufeinander, als hätte er Schmerzen. Jörn bereitete es große Anstrengungen, die Maske des harten Kämpfers zu bewahren, ab und zu zuckte ein Muskel unter seinem linken Auge unkontrolliert. Nach dem gegenseitigen Auf-den-Magen-Schlagen machten die beiden Liegestütze in allen Variationen – auf den Fäusten, auf zwei Fingern, auf den Knöcheln – und übten Seilspringen nach Zeit. Felix und Jörn trainierten jetzt seit zwei Stunden, und es sah nicht danach aus, als wollten sie bald aufhören. Sie war damals 14 und hatte sich ihr erstes Rendezvous irgendwie anders vorgestellt.

Als Felix und Jörn endlich fertig waren, entstand peinliche Stille. Sie gingen dann hoch in Jörns Wohnung; er hatte ein paar Donald-Duck-Hefte aus dem Westen. Zu dritt saßen sie auf dem Boden von Jörns Zimmer, blätterten verlegen in den Heften, sahen zur Decke und mussten schließlich lachen. Ihr erstes Gespräch führten sie über eine Ente. Es war der Beginn ihrer Freundschaft.

Später gingen sie und Felix zusammen nach Hause, durch die Straßen von Johannisthal, im Süden von Ostberlin, kurz vor der Mauer. Sie hatten den gleichen Weg, wohnten in derselben Straße, nur durch ein paar Häuser und eine Kirche voneinander getrennt. Sie liefen an den Straßenbahnschienen entlang, über den betonierten Platz mit den eingelassenen quadratischen Blumeninseln bei der Bushaltestelle. Dort gegenüber wohnte sie in einem Altbau ganz oben. Felix verabschiedete sich von ihr, grinste sie an und lud sie für den nächsten Tag zu sich nach Hause ein, er wollte ihr seine Donald-Duck-Sammlung zeigen. Dann ging er weiter, an der Kirche vorbei zu der Villa, die »Bella Vista« hieß, Schöne Aussicht. Es war ein Backsteinbau mit Fachwerk und Spitzdach, der von einem Garten umschlossen wurde. Sie kannte das Haus gut: Einer aus ihrer Klasse wohnte hier, ihre Eltern waren mit seinen Eltern befreundet, ihr Vater kannte Felix’ Stiefvater, und ihr Bruder spielte täglich in diesem Garten. Sie hatte Felix schon viele Male gesehen und fand, dass er sehr gut aussah. Er fiel auf, weil er nicht weiß war, ein »Mulatte«, wie die Menschen damals sagten. Ein Exot im weißen ausländerarmen Osten.

Felix wohnte im ersten Stock gleich rechts zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder. Sein Stiefvater lebte eine Etage höher unterm Dach. Wenn sie Felix besuchte, musste sie erst die steinernen Stufen zur Eingangstür zurücklegen, dann stieg sie die Holztreppe hinauf, die bei jedem ihrer Schritte laut ächzte. Sie konnte ihr Herz in den Ohren pochen hören, wenn sie oben ankam. Oft wartete sie noch ein paar Minuten, bevor sie klingelte. Die Stimmung war nicht besonders gut hinter der Tür zwischen Felix’ Mutter und seinem Stiefvater.

Seine Mutter war eine zierliche Frau mit dunklen Augen. Felix’ Stiefvater, ein schlanker Mann mit rötlich blonden Locken, sah aus wie der Hauptdarsteller aus einem Märchenfilm, in der Rolle des ein wenig weltfremden, verträumten Prinzen. Sie mochte die beiden, aber es herrschte eine merkwürdige Atmosphäre in dieser Familie: Sehr nett und offen nach außen hin, dahinter schwelte aber noch etwas anderes, vage Kompliziertes. Es war, als laste auf allen eine unerklärbare Schwere.

Felix hatte ihr gegenüber die Schwierigkeiten angedeutet, mit knappen Sätzen, es war ihm nicht angenehm, darüber zu reden. Er war gern der Starke, scheinbar Unberührbare, der anderen bei ihren Problemen half. Sie hatte trotzdem verstanden, schon weil sie ganz ähnlich war und Ähnliches in ihrer Familie erlebt hatte, wenn auch viel weniger dramatisch. Trennungskinder scheinen eine Art Sensor füreinander zu haben, sie spüren im anderen die gleiche tief sitzende Verunsicherung und das Bemühen, bloß niemanden etwas merken zu lassen.

Felix und sie »gingen miteinander«, wie man das damals nannte. Das hieß, sie besuchten sich öfter, meist abends, knutschten im Hausflur, probierten die Wirkung von Zungenküssen aus. Sie konnten stundenlang über verschiedene Trainingsprogramme und Strategien diskutieren, sie erzählte vom Ballett, er vom Karate. Oft ging es darum, wie viel eine Sehne verträgt, bis sie gezerrt ist oder reißt. Felix stellte in seinem Zimmer zwei Stühle einen Meter voneinander entfernt auf, und sie übten Spagat mit Durchhängen. Er machte Liegestütze auf zwei Fingern und auf den Knöcheln des Zeige- und Mittelfingers, bis sie dick anschwollen. Als Unterlage bevorzugte er Bastmatten, weil es so noch mehr wehtat. Danach hielt er ihr seine Knöchel vors Gesicht: »Wer diese zwei Huckel nicht hat, trainiert nicht richtig«, sagte er.

Und sie rauften sich, einfach so zum Spaß. Felix versuchte sie festzuhalten und ihr gelang es immer wieder, sich seinem Griff zu entwinden, wofür er ihr wie einem kleinen Kind Anerkennung zollte. Sie sah zu, wie er Unmengen von gebratenen Eiern in sich versenkte und ihr versicherte, das sei gut für die Muskeln. Er machte sich darüber lustig, dass sie Michael Jackson und Prince verehrte, Black Music mochte er nie; sie zog ihn mit seiner Vorliebe für alles Militärische und dämliche Rambofilme auf. Sie konnte mit ihm wunderbar über seinen »Do« philosophieren, was in den asiatischen Kampfsportarten so viel hieß wie sein Weg, seine Lebensgrundsätze. Diese Grundsätze waren allesamt sehr ehrbar. Er erklärte ihr, er dürfe niemals jemanden schlagen, der nicht seine Fähigkeiten besitze. Und er wollte die vollkommene Weisheit und Klarheit erlangen, was immer das auch heißen mochte, so richtig hatte sie es nie nachvollziehen können. Aber es machte Spaß, sich darüber zu unterhalten. Außerdem war Karate in der DDR verboten, was ihren Gesprächen etwas Subversives verlieh.

Sie sahen sich nicht jeden Tag, dafür waren sie beide zu beschäftigt und zu stolz. Wer wen wann anrief, war immer die heimliche Frage im Hintergrund, ein Messen der Kräfte. Oft sprachen sie sich tagelang nicht und drehten beide immer engere Kreise ums Telefon, keiner wollte sich eine Blöße geben. Es waren diese kleinen Machtspiele, die ihre Teenagerfreundschaft manchmal anstrengend machten, ihr eine gewisse Schwere gaben. Aber er war der Erste, mit dem sie sich nicht nach einer Woche langweilte und nicht darüber nachdachte, wie sie ihn am schnellsten wieder loswürde. Außerdem wusste sie nie genau, was er dachte oder fühlte, es ging etwas Düsteres, Geheimnisvolles von ihm aus, etwas, das sie zu ergründen reizte.

Felix zog sich oft auf sein Hochbett zurück, es war groß, fast wie eine zweite halbe Etage im Zimmer. Unten spielte sein Bruder, oben hatte er sich eine eigene kleine Welt geschaffen: Am Kopfende seines Bettes stand ein Kassettenrekorder, ein Ghettoblaster, überdimensioniert, wie sie in den achtziger Jahren modern waren. Über seinem Bett hing ein Plakat mit einem roten Drachen darauf, daneben war in schwarzen Buchstaben Karate geschrieben, an der anderen Wand klebte ein Bild, auf dem ein Mann mit hochgerissenem Bein gegen einen anderen sprang. Die größte Fläche aber nahmen Poster von seinem Idol Bruce Lee ein. Einige Bilder hatte er aus dem Fernsehen abfotografiert, andere aus Westzeitungen ausgerissen.

Felix verehrte Bruce Lee, er war klein und drahtig wie er selbst. Lee wurde in den USA geboren und wuchs in Hongkong auf. Schon mit zwölf Jahren war er Anführer einer Straßenbande und lernte Kung-Fu. Biographen beschreiben ihn als fanatischen, besessenen Kämpfer, der explosionsartige Wutanfälle hatte. Felix konnte sich damit ganz gut identifizieren. Später wurde Bruce Lee von Hollywood entdeckt und drehte Filme wie Todesgrüße aus Shanghai, Der Mann mit der Todeskralle oder Die Todeskralle schlägt wieder zu. In seinen Filmen sah es aus, als vermeide er jede überflüssige Bewegung, er tänzelte durch die Kulissen mit kurzen Schritten, konzentriertem Blick, die Arme vor seinem Körper in...

Erscheint lt. Verlag 28.4.2021
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antidiskriminierung • Biographie • Black lives matter • DDR • Diskriminierung • Gastarbeiter • Journalismus • Porträt • Rassismus • Reportage • Sozialismus • Wende • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-10-491533-4 / 3104915334
ISBN-13 978-3-10-491533-3 / 9783104915333
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