Erfülltes Leben (eBook)
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27169-2 (ISBN)
Wir leben nur einmal - und was zählt wirklich in diesem Leben? Friedemann Schulz von Thun, Kommunikationspsychologe, Coach und Bestsellerautor, blickt bei dieser Frage immer wieder auch auf sein eigenes Leben zurück. Besonders beschäftigt er sich mit Erlebnissen, die als Beispiele für sein neues Modell dienen. Wir werden dazu angeregt, unser Leben aus fünf Blickwinkeln zu betrachten, zu würdigen und womöglich zu verändern. Das große Ganze setzt sich am Ende aus Wunscherfüllung, Sinnerfüllung, biografischer Erfüllung, Daseinserfüllung und Selbsterfüllung zusammen. Auf diese Weise können wir unsere eigene Biografie neu verstehen - wo sie gelungen ist und wo wir Enttäuschungen zu verkraften haben. Ein lebenskluges Buch, verständlich, persönlich, konkret.
Friedemann Schulz von Thun, Jahrgang 1944, war bis 2009 Professor für Psychologie an der Universität Hamburg. Seine Trilogie Miteinander reden gilt als Standardwerk. Er leitet das Schulz von Thun-Institut für Kommunikation und ist als Berater und Trainer sowie als Herausgeber der Reihe Miteinander reden - Praxis tätig. Bei Hanser erschienen Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik (2020, mit Bernhard Pörksen) und Erfülltes Leben. Ein kleines Modell für eine große Idee (2021). schulz-von-thun.de
3 Erfüllung vom Typus Alpha: Wunscherfüllung
Wie ist das Leben wunderbar, denn manche Träume werden wahr!
Das ist der erste und (scheinbar) banale Zugang zu der Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht. In keiner Trauerrede wird fehlen, was die oder der Verstorbene vom Leben gehabt hat, welche Träume in Erfüllung gegangen sind — sei es durch ein gnädiges Schicksal zuteilgeworden (Glück gehabt!), sei es als Frucht eigenen Strebens erreicht und geerntet (Glück geschmiedet!). Dieses will mit Anerkennung, jenes mit Dankbarkeit gewürdigt werden, meist kommt beides zusammen. Und wenn es hier Bemerkenswertes zu entdecken und zu berichten gibt, dann spendet dies für alle Trauergäste einen großen Trost, der über die erschütternde Allgewalt des Todes hinweghelfen kann. Hier endet nämlich die Allmacht des Todes: Er kann nicht verhindern und zunichtemachen, dass dieser Mensch ein erfülltes Leben gelebt hat. Und wer dies auch schon zu Lebzeiten weiß, kann dem Tod leichter entgegensehen.
Doch dieser erste Zugang erscheint nur auf den ersten Blick banal. Was sind denn meine Wünsche an das Leben? Wie komme ich ihnen auf die Spur? Gewiss, es gibt Sehnsüchte, die so allgemein menschlich sind, dass sie quasi auf der Hand liegen: unversehrt und geborgen ein Leben in Liebe zu führen, mit erfüllender Arbeit, auskömmlich, anerkannt und zugehörig, in Frieden und Harmonie, ohne Not und Elend, ohne Schmerzen und Angst — und all dies bei bester Gesundheit bis ins hohe Alter. So weit, so gut, und es ist eine schier endlose Menschheitsaufgabe, dies für möglichst viele Menschen (und Mitgeschöpfe) jedenfalls ansatzweise möglich zu machen. Und wer hier nach einem Sinn in seinem Leben sucht, wird unweigerlich seine Aufgaben finden. Und wem irgendwann irgendwo sein kleines Himmelreich auf Erden vergönnt war, hat schon aus diesem Grund nicht umsonst gelebt.
Nicht alle wollen nach Rom.
Aber weiß ich denn, wohin ich will?
Viele Wege führen nach Rom — aber nicht alle wollen nach Rom. Der Satz »Es war schon immer mein Traum …« kann höchst Individuelles zutage fördern. Was für dich eine Glücksvorstellung ist, kann für mich unerheblich oder sogar gruselig sein. Dies zum einen: Wir dürfen und müssen mit großen Unterschieden rechnen. Und zum anderen: Weiß ich überhaupt, welche Art von Lebensglück meiner Seele guttut und wofür ich geschaffen bin? Oder liegt mir das verborgen — und ich bin angewiesen auf vorgefertigte Verheißungen von außen, vom Vater oder aus Hollywood, oder was in meiner Peergroup als cool gilt? »Mit 17 hat man noch Träume, da wachsen noch alle Bäume in den Himmel der Liebe«, sang Peggy March 1976, da war ich 32 Jahre alt und hielt das für ein kitschiges Klischee. Ich konnte mich nicht erinnern, als 17-Jähriger Träume gehabt zu haben. Ängste, Sorgen und jede Menge Selbstzweifel ja, aber Träume? Nicht, dass ich wüsste!
Eher stand mir alles bevor, im doppelten Sinne dieser Redewendung: Abitur wollte / sollte ich machen, aber das war, nach dem Sitzenbleiben in der Schule, ein Albtraum, der mich manchmal noch heute nachts heimsucht: Der Prüfungstermin rückt näher — und ich weiß von nichts. Eine Freundin sollte man haben, fanden meine Klassenkameraden, und der eine oder andere hatte schon etwas vorzuweisen. Die »Tanzstunde« war für mich ein einziges Trauma — offenbar war ich ungeeignet für derlei aufregendes Vergnügen. Nach dem Abitur würde der Wehrdienst kommen — ach du Schreck, auch das noch! Ich als Soldat? Ich als »Friedemann« und eher unsportlich? Es wird eine Qual werden — damals war das Wort »Herausforderung« noch nicht in aller Munde. Und danach? Studieren — ja, aber was? Mein Vater, ein Rechtsanwalt, wusste Rat: Ich sollte Jura studieren, aber nicht wie er ein freiberuflicher Anwalt werden — da habe man permanent Existenzängste, ob genug Mandanten kämen und man genug Geld verdienen würde. Stattdessen legte er mir eine Karriere als Richter nahe — die hätten es nämlich gut, schwebten über allem, ohne Weisung von oben, und herrlich verbeamtet auf Lebenszeit. Also gut, der Vorschlag war plausibel — ein »Traum« aber wollte und wollte nicht daraus werden.
Warum erzähle ich aus dieser Zeit? Ich bin mir sicher, dass die Wünsche, Sehnsüchte und Träume eines Menschen nicht immer offen zutage liegen. Vielleicht wohnen sie tief in seinem Herzen, aber trauen sich nicht heraus. Oder sie sind noch im Werden.
Sie trauen sich nicht heraus? Braucht es dafür Traute? Ja, braucht es. Denn wenn ich mir eine Sehnsucht eingestehe, die ich von vornherein für unerfüllbar halte (eine Freundin? Vergiss es!), dann bringt das ein schmerzliches und beschämendes Gefühl hervor, das mir noch den Rest an Lebensfreude vergällen kann. Und die Seele ist dafür geschaffen, sich vor solchen Verwundungen und Beschämungen zu schützen. Also bleibt die Sehnsucht unbewusst, unbelichtet, gleichsam in Schutzhaft. Und die Schutzwächter im Inneren Team1 tun alles, um den Häftling vergessen zu machen. Ein »Realist« betritt die innere Bühne und sagt: »Vergiss es! Bei Frauen, die du attraktiv findest, hast du keine Chance!« — Oder in dir ist eine Sehnsucht nach der »großen Liebe«? Schon ist auch hier ein »Realist« zur Stelle (»Das gibt es nur in Hollywood!«) und will dich vor Enttäuschungen beschützen. Oder in dir keimt eine Sehnsucht auf, als Sängerin im Rampenlicht zu stehen? Gleich interveniert eine »Bescheidene« in dir und erinnert dich an die Verse im Poesiealbum: »Sei wie das Veilchen im Moose / bescheiden, sittsam und rein / und nicht wie die stolze Rose / die immer bewundert will sein!« Auch ein Familien-Loyaler kann zum Wächter werden: »Angesichts dessen, was mein Vater erlitten hat, darf es mir nicht allzu gut gehen!« Die Wächter schützen den Häftling vor schmerzhafter Niederlage oder schlechtem Gewissen, gleichzeitig schützen sie das ganze System, damit es weiter funktionieren kann. Denn es könnte ins Schleudern kommen, wenn die Sehnsucht sich Bahn bricht.
Sehnsüchte als Wegweiser
Psychotherapie ist der Versuch, den Häftling behutsam zu befreien. Zuweilen gelingt ihm das auch selbst. Und zwar dann, wenn ein Hoffnungsschimmer aufkommt. Als ich Jahre später, inzwischen gestärkt in meinem Selbstwertgefühl, in einer Gruppe bekannte: »Ich würde mich gerne einmal verlieben!« — da konnte ich mir das endlich eingestehen, da war die Verwirklichung nicht mehr weit entfernt. So verstehe ich auch den Satz von Goethe:
Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen — Vorboten dessen, was wir zu leisten imstande sein werden … Wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im Stillen besitzen.2
Dabei muss ich an den jungen, 23-jährigen Thomas Mann denken, der seine Wünsche und »Vorgefühle« in ein Gedicht fassen konnte3:
Ich bin ein kindischer und schwacher Fant*1,
Und irrend schweift mein Geist in alle Runde,
Und schwankend fass’ ich jede starke Hand.
Und dennoch regt die Hoffnung sich im Grunde,
Dass etwas, was ich dachte und empfand,
Mit Ruhm einst gehen wird von Mund zu Munde.
Schon klingt mein Name leise in das Land,
Schon nennt ihn mancher in des Beifalls Tone, —
Und Leute sind’s von Urteil und Verstand.
Ein Traum von einer schmalen Lorbeerkrone
Scheucht auf den Schlaf mir, unruhvoll, zur Nacht,
Die meine Stirn einst zieren wird zum Lohne
Für dies und jenes, was ich gut gemacht.
Was diesen Traum angeht, stand dem Literaturnobelpreisträger wahrlich ein erfülltes Leben bevor. Wenn Goethe recht hat, lohnt es sich also, sehr achtsam die eigenen Wünsche aufzuspüren. Als »Vorgefühle von Fähigkeiten«, als »Vorboten von Leistungen« können sie dem Lebenskompass eine stimmige Richtung geben. Und offenbar erlauben sie einen intimen und tiefen Zugang zum inneren Selbst. Bei der Schweizer Psychologin Verena Kast lese ich:
Die Sehnsucht ist eine gute Wegweiserin auf dem Weg zu wirklich zentralen Lebensthemen, zum eigenen Weg, zu dem, was wirklich zu uns selbst gehört, was uns unabdingbar wichtig ist.4
...Erscheint lt. Verlag | 26.7.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | Biografie • Coaching • Dasein • Enttäuschung • Erfahrung • Kommunikationspsychologie • Leben • Modell • #ohnefolie • ohnefolie • Psychologie • Selbst • Sinn • Werte • Wunsch |
ISBN-10 | 3-446-27169-4 / 3446271694 |
ISBN-13 | 978-3-446-27169-2 / 9783446271692 |
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