Mehr vom Leben (eBook)

Wie mich die Begleitung Sterbender verändert

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
160 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-27998-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mehr vom Leben -  Johanna Klug
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Der Tod bringt uns das Leben nah
Für Johanna Klug werden in der Begegnung mit Sterbenden die existenziellsten Themen des Lebens deutlich. Das Bedürfnis dieser jungen und klugen Autorin nach direkten, aufrichtigen und echten Begegnungen mit Menschen, die ihr mehr über das wirkliche Leben nahebringen als viele für sie häufig oberflächlich empfundene Antworten der Gesellschaft, brachte sie dazu, Zeit mit Sterbenden zu verbringen. Hier wird ihre Suche nach Wahrheit befriedigt. Sie schreibt mitreißend und nachdenklich über ihre Erfahrungen mit Sterbenden, über Themen, die uns alle im Leben beschäftigen. So geht es um Essen und Trinken, Schönheit, Gesundheit - und alles in Relation zu den absurden Forderungen des modernen Lebens vom Ende des Lebens her betrachtet. Eine Autorin, die mit ihrem Anspruch auf Wahrheit und Reduktion auf das Wesentliche einen besonderen Text geschrieben hat und die Leser*innen mit einem neuen Blick auf die eigene Wirklichkeit entlässt.

Johanna Klug, geb. 1994, ist ausgebildete Sterbe- und Trauerbegleiterin und hat sich nach langjähriger Erfahrung im Hospiz- und Palliativbereich in Deutschland und Südafrika auf die Begleitung Sterbender auf Palliativstationen und die Betreuung von (Kinder-)Trauergruppen spezialisiert. Sie studierte Medienmanagement mit Schwerpunkt Journalismus (B.A.) in Würzburg und Groningen, sowie Digitale Kommunikation (M.A.) in Hamburg und Oslo. Von 2019 bis 2021 war Johanna Klug Studienkoordinatorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim interdisziplinären Masterstudiengang 'Perimortale Wissenschaften' an der Universität Regensburg, der sich mit den Themen rund um Sterben, Tod und Trauer auseinandersetzt. Auch auf ihrem Blog 'endlich endlos' beschäftigt sie sich mit diesen Schwerpunkten.

Beweglich bleiben bis zum Schluss

»Tok, tik, tok« machte es und nochmal »tok, tik, tok«. Verdutzt wandte ich meinen Blick ab von den Rosen, die ich gerade noch einmal neu anschnitt, und blickte zum anderen Ende des Ganges, woher das seltsame Geräusch kam. Eine Frau in einem schicken Jogginganzug tippelte langsam auf mich zu. Mit jedem Schritt zog sie ihren linken Fuß ein bisschen nach und stützte sich dabei auf ihren Stock, der dieses eigenartig hallende »Tok, tik, tok« von sich gab. Als sie bei mir angekommen war, nickte sie mir zu, drehte sich in einer fließenden Bewegung auf dem Absatz um und tippelte zurück. Erstaunt beobachtete ich ihre immer kleiner werdende Gestalt, bis sie um die Ecke verschwunden war. Nur noch das gleichmäßige Geräusch ihres Stocks hallte durch die Gänge.

Ich schnitt die Rosenstiele zu, steckte die Blumen in die Vasen und startete meine Besuche. Immer wieder begegnete mir die Frau auf dem Flur. Und jedes Mal grüßten wir uns mit einem freundlichen Nicken.

Ganz bewusst besuchte ich sie in ihrem Zimmer erst ganz zum Schluss. Denn ich wollte sie auf ihrem Spaziergang auf der Palliativstation nicht stören, und ich hoffte wohl auch auf eine Gelegenheit, mit ihr ins Gespräch zu kommen.

»Und, bekomme ich denn keine Rose?« Ich fuhr herum, hinter mir stand die Frau mit dem Tippelschritt und schaute mich an. Ihr Gesichtsausdruck wirkte starr, fast leblos. Dann fiel ihr Blick auf die dunkelrote Rose in meiner Hand, und in ihrem Gesicht machte sich ein Lächeln breit. »Doch natürlich«, sagte ich, »aber ich wollte Sie bei Ihrem Spaziergang nicht unterbrechen.«

»Aaaah.« Sie atmete geräuschvoll aus und schien erleichtert. »Ja, jeden Tag laufe ich den Flur zehnmal auf und ab. Manchmal behindere ich dabei die Schwestern, aber irgendwie muss ich mich ja bewegen.« Ilse stützte sich auf ihren Stock. Ihre Hände zitterten leicht. »Kommen Sie, wir setzen uns auf die Bank«, sagte ich, und deutete dabei auf die Sitzgelegenheit. »Tok, tik, tok«, und Ilse ließ sich auf die Bank plumpsen. Dabei streckte sie die Beine aus und schaute mich aufmerksam an. »Seien Sie mal froh, dass Sie noch so jung sind«, erwiderte sie auf einmal barsch, »irgendwann macht der Körper einfach nicht mehr mit. Ich bin ja froh, dass ich noch laufen kann.« Und auf einmal war der barsche Unterton einem leisen, traurigen Murmeln gewichen. »Das gibt mir das Gefühl, bei allem, was passiert ist, zumindest noch ein bisschen lebendig und mir selbst nicht ganz so fremd zu sein.«

»Daheim sind meine Katzen, um die sich gerade meine Nachbarin kümmert. Ich wohne allein auf einem Hof mit lauter Blumen, liebe meine Tiere und die Einsamkeit. Jetzt wird das zum Problem, weil ich Hilfe brauche. Laufen geht schon, aber wie lange noch?«, sagte sie und schaute mich mit ihren haselnussbraunen Augen an. Aus ihrer Hosentasche zog sie ein kleines Bild, das ihr Anwesen zeigte. »Wenn ich nicht mehr bin, wird auch davon nichts mehr sein«, sagte sie und steckte das Foto zurück. »Also dann«, und mit einem Ruck stand sie auf, und »tok, tik, tok« setzte sie ihren Spaziergang entschlossen fort.

Ich bewege mich, also bin ich

Sterbende fühlen sich – wie Ilse – oft fremd im eigenen Körper, wenn sie die vielen Einschränkungen spüren. Nicht nur, dass der Körper als kontrollierendes Instrument nicht mehr so funktioniert, wie man es als gesunder Mensch erlebt hat. Sondern dabei findet auch eine Entfremdung des eigenen Selbst statt. Die Chemotherapie hat auch bei Ilse ihre Spuren hinterlassen: Der Körper ist aufgedunsen, Übelkeit und Erbrechen wechseln sich ab, und die Zerstörung der kranken und gesunden Zellen lassen den Körper regelrecht auf null herunterfahren. Die dadurch verursachte Blutarmut zeigt sich durch Müdigkeit und Erschöpfung. Vielfache Studien haben belegt, dass körperliche Aktivität hier helfen kann. Sogar die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls kann minimiert und das Tumorwachstum gehemmt werden, betont die deutsche Krebsgesellschaft. Aber auch die Physiotherapeut*innen auf der Palli versuchen, die Menschen immer wieder zu individuell angepassten Körperübungen zu animieren. Sport – ohne sich selbst zu unter- oder überlasten – macht den Körper widerstandsfähiger, verbessert die Schlafqualität und vermindert Schmerzen. Aber vor allem stärkt es die Psyche und wie bei Ilse sogar die Resilienz – also die psychische Fähigkeit, besonders schwere Lebenssituationen zu überstehen. Denn Bewegung heißt letztlich auch Leben.

Den Körper nochmal spüren

Bewegung ist gleichzeitig Kraftquelle und Antrieb im Leben und kann auch am Ende vieles zum Positiven verändern: Der Körper wird aktiv spürbar und nicht mehr als »passives Medium« im Bett erfahren. Sterbende Menschen können sich kraftvoll und stark fühlen, wenn sie noch ein paar Schritte alleine gehen können. Gerade dann, wenn der Körper sich durch die Krankheit verändert hat und wir von alten, liebgewonnenen Gewohnheiten Abschied nehmen müssen. Das gilt vor allem dann, wenn ein Mensch früher sehr beweglich war.

Mit dem Rollator und auf drei Beinen

Mein Opa Alfons starb über einen Zeitraum von ungefähr einem Jahr. Ein einziger Sturz war es, der sein Leben schlagartig veränderte. Er hangelte sich von Krankenhausaufenthalt zu Reha und wieder zurück, immer in der Hoffnung, wieder nach Hause zu kommen. Seine Parkinson-Erkrankung verschlechterte sich durch die vielen Ortswechsel und Medikamente immens. Mein Opa war Landwirt von ganzem Herzen. Er kannte nichts anderes, als täglich draußen sein Getreide zu säen und später die Ernte einzufahren, Kartoffeln im Frühjahr zu setzen und im Herbst wieder zu lesen. Noch im hohen Alter von 82 Jahren war er in der Lage, selbst sein Brennholz zu hacken. Von einem Tag auf den anderen war das nicht mehr möglich, und obwohl er ein »zäher Brocken« war, wirkte es, als würde buchstäblich die Lebenskraft aus ihm herausfließen.

Irgendwann fing Opa Alfons plötzlich an zu halluzinieren. Er sah überall schwarze Männer und Würmer, die ihn und andere auffressen wollten. Mein Opa kam in die Psychiatrie, gefangen in seinem eigenen Körper mithilfe eines monströsen Medikamentencocktails. Die Ärzte dachten, er sei verrückt, ich zweifelte stark, aber konnte auch keine Erklärung für seine plötzlichen Halluzinationen finden.

Als schließlich mein Onkel herausfand, was eigentlich vor sich ging, bekam mein Opa schon mehrere Monate fälschlicherweise die dreifache Dosierung seiner Parkinson-Medikamente. Niemand hatte etwas bemerkt. Die Medikation wurde umgehend, aber langsam abgesetzt, und auf einmal war er wieder klarer im Kopf, und auch sein Körper gehorchte ihm wieder. Doch irreversible Schäden blieben. Glücklicherweise kam seine Bewegungsfähigkeit für kurze Zeit wieder zurück. Es war wie ein Aufblühen, auch wenn sein dringlichster Wunsch, nochmal nach Hause zu können, nie erfüllt werden konnte.

Meine Schwester und ich besuchten Opa Alfons also in dem Pflegeheim, so oft es ging. Eines Nachmittags saß er bei Kaffee und Kuchen. Nicht nur er selbst war voller Kuchenbrösel, auch auf und unter dem Tisch befanden sich unzählige Krümel. »Opa«, riefen wir beide, und er streckte uns seine Hände entgegen. Seine Augen strahlten vor Freude. »Wollen wir auf dein Zimmer gehen?«, fragte meine Schwester, »dort haben wir ein bisschen mehr Ruhe.« Opa Alfons nickte, schluckte, zog seinen Stuhl weg und umschloss die Griffe seines Rollators. Kaum hatte er den ersten Schritt getan, hatte er uns auch schon mit seinem neuen Gefährt weit hinter sich gelassen. Wir Schwestern schauten uns nur kurz an und mussten beide grinsen – ja, Opa Alfons hatte sich wieder zurückgekämpft ins Leben und war seitdem nicht mehr nur auf zwei Beinen, sondern zusätzlich noch mit vier Rollen unterwegs. Er war nun auf eine andere Art und Weise beweglich, aber das war für ihn ein großes »Plus« an Bewegungsfähigkeit.

Eine Mobilisierung am Ende des Lebens ist nicht zu unterschätzen. Wenn Schwerkranke feststellen, dass sie noch ein paar Schritte zu Fuß gehen können, ist das für viele eine intensive Erfahrung: den Körper nochmal spüren, die Füße auf dem Boden, die Beine anheben und Schritt für Schritt nach vorne gehen. Zum Beispiel vom Rollstuhl zum Bett oder ein paar Stufen hinauf und hinunter. Das alles sind Erfolgsmomente und Lichtblicke für viele Sterbende!

Auch passive Bewegung tut gut

Wie können Momente geschaffen werden, wenn der sterbende oder schwerkranke Mensch nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu bewegen? Die Physiotherapeut*innen, die nicht nur auf der Palliativstation arbeiten, sondern meistens in dem gesamten Krankenhaus unterwegs sind, sind genau dafür ausgebildet. Sicherlich ist das nicht meine Expertise, aber ich bin sehr froh darüber, dass ich ab und an mal bei diesen Behandlungen dabei sein darf.

Ich begleitete Physiotherapeut Markus, der für eine Lymphdrainage, einer medizinischen Massage, bei Rosemarie vorbeischaute. Ihr waren aufgrund einer Chemotherapie alle Haare ausgefallen. Ein blaues Kopftuch mit roten Punkten schmückte ihren Kopf und ihren Körper ein knallroter Jogginganzug. »Ich liebe Farben«, sagte sie und strahlte mich an. Mir fiel mal wieder auf, wie anders ein Mensch aussieht, so ohne Wimpern und Augenbrauen. Die Schönheitsindustrie lebt uns vor, wie viel »besser« ein Leben ohne Haare ist, wenn man dann aber gar keine mehr hat, passt es auch wieder nicht. Sofort gehen die Alarmglocken mit...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Schlagworte 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen • Abschied • Bewusst leben • eBooks • Eric Wrede • Gesundheit • Hospiz • Lebensfreude • Persönlichkeitsentwicklung • Ratgeber • Sterbebegleitung • Sterbehilfe • tod trauer • Trauer
ISBN-10 3-641-27998-4 / 3641279984
ISBN-13 978-3-641-27998-1 / 9783641279981
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