Wie meine Großmutter ihr Ich verlor (eBook)

Demenz – Hilfreiches und Wissenswertes für Angehörige

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
256 Seiten
Kösel-Verlag
978-3-641-27874-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wie meine Großmutter ihr Ich verlor - Sarah Straub
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Hilfreiche Unterstützung bei Demenzerkrankungen
Sarah Straub weiß, was es heißt, mit einem an Demenz erkrankten Angehörigen zusammenzuleben. Im Alter von 20 Jahren erlebte sie, wie ihre Großmutter dement wurde. Dies prägte sie so sehr, dass sie neben ihrem eingeschlagenen Weg zur erfolgreichen Musikerin Psychologie studierte, sich auf Demenzerkrankungen spezialisierte und heute engagiert darüber aufklärt.

Dr. Sarah Straub zeigt mit vielen Beispielen, was es bedeutet, wenn aus Vergesslichkeit Demenz wird, welche Aufgaben, aber auch Hilfsmöglichkeiten mit dieser Diagnose verbunden sind, wie der Lebensalltag mit einem Demenz-Erkrankten geregelt und das Endstadium dieser Erkrankung würdevoll gestaltet werden kann.

»Dieses großartige Buch wird dazu beitragen, die Herzen der Menschen zu öffnen für eine Krankheit, die so unermesslich viel Leid mit sich bringen kann. Ich bin mir sicher, dieses Buch wird seinen Weg gehen und von vielen Menschen gelesen werden.« Konstantin Wecker

Sarah Straub, geboren 1986, ist promovierte Diplom-Psychologin und arbeitet als wissenschaftliche Angestellte am Universitätsklinikum Ulm. Sie hält für unterschiedliche Organisationen regelmäßig Vorträge zum Thema »Frontotemporale Demenz«. Daneben ist sie leidenschaftliche Musikerin und erfolgreiche Liedermacherin. Sie veröffentlichte bis jetzt vier Alben, die letzten beiden »Alles das und mehr« und »Tacheles« in Zusammenarbeit mit Konstantin Wecker.

Wie meine Großmutter ihr Ich verlor und ich dabei mich selbst fand

Meine Großmutter war siebenundsiebzig Jahre alt, als sie eines Nachts fast ihr Leben und komplett ihr Ich verlor. Was damals wirklich geschehen ist, weiß bis heute niemand so genau. Fakt ist, dass sie ihr Bett verlassen hatte, um die Treppe ins Erdgeschoss zu nehmen. Vielleicht wollte sie in die Küche, um etwas zu trinken. Vielleicht wurde sie von ihrer Katze geweckt, die, verwöhnt wie sie war, rund um die Uhr um Futter bettelte. Vielleicht trieben meine Großmutter aber auch ihre finanziellen Sorgen um; trotz Jahrzehnten voller harter Arbeit war sie tatsächlich bettelarm. Dies sollte ich aber erst nach ihrem Tod erfahren, da meine Großmutter das Prekäre ihrer Lage über Jahre außerordentlich effektiv geheim gehalten hatte. Sie war eine stolze Frau und hatte lieber im Verborgenen nach und nach ihr Hab und Gut verkauft als ihre Familie um Hilfe zu bitten.

Kein Mensch stand mir in meiner Kindheit näher als sie. 1930 geboren, erlebte sie als Kind und Jugendliche die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, lernte früh, mit wenig auszukommen und genügsam zu sein, und widmete ihr ganzes Leben der Sorge um ihre Familie. Ich habe heute noch ihren Lieblingsspruch im Ohr: »Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und sah, das Leben war Pflicht. Ich handelte und siehe, die Pflicht war Freude.« Dieses Zitat passt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, wir ließen es später für ihre Beerdigung sogar auf die Trauerbilder drucken. Dass meine Großmutter das Dritte Reich miterlebt hatte, spielte in unserer Familie keine große Rolle, sie sprach nicht gern darüber. Erzählungen über ihre Jugend blieben stets kryptisch, ließen jedoch durchaus erkennen, dass sie unter dem Eindruck einer Ideologie aufgewachsen war, welche wir hoffentlich nie wieder erleben müssen. Es waren eher kleine, unbedeutende Alltagsgegebenheiten, die mich immer wieder mal daran erinnerten, zu welcher Zeit sie erwachsen geworden war: So schmierte sie immer fast zentimeterdick Butter auf unser Abendbrot. Wie sollten wir uns auch sicher sein, dass wir morgen noch genug zu essen hätten?

Das Leben meiner Großmutter war ein Leben für ihre Familie, vor allem für meinen Bruder und mich. Wir waren jeden Tag bei ihr, lebte sie schließlich nur etwa fünfzig Meter von unserem Elternhaus entfernt. Meine Eltern waren beruflich immer viel unterwegs, sodass meine Großmutter einen großen Anteil an der Erziehung ihrer Enkelkinder hatte. Sie machte uns zu essen, half uns bei den Hausaufgaben und brachte uns oft abends ins Bett. Sie war neben unseren Eltern unsere wichtigste Bezugsperson und wir liebten sie über alles.

In jener Nacht, die ihr und mein Leben für immer verändern sollte, muss sie also am Rande der Treppe gestanden haben, um nach unten zu gehen. Vielleicht wurde ihr in diesem Moment schwindelig, vielleicht stolperte sie – all das ist nicht zu rekonstruieren. Sie verlor irgendwie den Halt und stürzte achtzehn Stufen hinab, schlug mit ihrem Kopf am Fuße der Treppe auf und zog sich dabei eine schwere Hirnblutung zu, die dann zu spät versorgt wurde.

Sie lebte nicht allein in ihrem Haus, ihr Sohn, der Bruder meines Vaters, wohnte bei ihr. Er bemerkte erst am nächsten Morgen, dass etwas nicht stimmte. Meine Großmutter muss am Fuße der Treppe irgendwann aufgewacht sein. Schwer verletzt und verwirrt wanderte sie stundenlang orientierungslos durchs Haus, bis ihr Sohn sah, dass sie aus den Ohren blutete und nicht reagierte, wenn er sie ansprach. Sie wurde in ein Klinikum gebracht, konnte nicht mehr sprechen, verstand nicht, wo sie war und was geschehen ist. Im Nachhinein kann ich sagen, sie wirkte wie eine Demenzpatientin in einem späten Stadium. Die Ärzte veranlassten eine Computertomografie (CT), sahen die schwere Hirnblutung und taten offenkundig: nichts. Aufgrund des Alters der Patientin und ohne Wissen darüber, dass meine Großmutter bis zu diesem Tag ihr Leben eigenständig gemeistert hatte, gingen die Mediziner davon aus, dass die Patientin schon vor dem Sturz dement gewesen sei. Sie versorgten also die Platzwunde und beließen es dabei. Ich war zu dem Zeitpunkt zwanzig Jahre alt und zum ersten Mal mit einer solchen Situation konfrontiert. Die Ärzte besprachen kurz und sachlich den Gesundheitszustand meiner Großmutter mit der Familie und ich versuchte meinerseits recht unbeholfen, zu erklären, dass sie vor dem Unfall geistig fit gewesen sei. Ich fand kein Gehör. Und so wurde sie nach kurzem stationärem Aufenthalt in ein Pflegeheim entlassen. Als Schatten ihrer selbst.

Wie genau sich die Hirnblutung damals dargestellt hat, kann ich bis heute nicht beurteilen, da kein Arzt sich die Mühe gemacht hatte, es zu erklären. Heute weiß ich, dass so eine Blutung das Gehirn quetscht und dadurch schwere Folgeschäden auslösen kann. Bei einem Patienten in jüngerem Alter hätte man wahrscheinlich versucht, die angestaute Flüssigkeit mithilfe eines neurochirurgischen Eingriffs abzulassen, um die Schwellung im Inneren des Schädels zu verringern und Langzeitfolgen zu minimieren. Da meine Großmutter aber als dement abgestempelt war, passierte dies nicht.

Die Situation im Pflegeheim empfand ich als verheerend. Meine Großmutter erholte sich zwar langsam, sprach mit der Zeit auch wieder einige floskelhafte Sätze, litt aber unter einem ausgeprägten Gedächtnisverlust. Verließ ich ihr Zimmer und kam eine Minute später zurück, begrüßte sie mich, als wäre ich nie dagewesen. Außer meinen Bruder und mich erkannte sie grundsätzlich kaum mehr jemanden. Wir, ihre Enkel, waren in ihrem verletzten Gehirn so »eingebrannt«, dass sie uns als vertraut erlebte. Ihre Söhne hingegen, meinen Vater und meinen Onkel, sah sie oft an wie Fremde. Sie war auch nicht orientiert und litt unter einer großen inneren Unruhe. »Weglauftendenzen« nannte man das dann, wenn sie rastlos und suchend auf den Gängen umherging. Ich hasse dieses Wort, es klingt, als sei der Wunsch, sich von so einem Ort entfernen zu wollen, ein pathologischer, also krankheitswertiger Zustand. Aber ist es nicht absolut nachvollziehbar, dass meine Großmutter aus dem Heim wegwollte? Dass sie nach Hause wollte? Ihre durch die Hirnblutung verursachte Demenz machte es unmöglich, ihr zu erklären, warum sie in einem kargen, kleinen Zimmer bleiben musste, in einem Haus voller fremder Menschen, die ihr nicht immer wohlgesonnen schienen. Ich empfand das Pflegepersonal als genervt, weil sie meine Oma ständig wieder »einfangen« mussten, wenn diese mal wieder den Ausgang suchte. Einmal hat sie es sogar geschafft, sich unbemerkt aus dem Gebäude zu schleichen und ein Auto auf der Straße anzuhalten, um sich mitnehmen zu lassen. Sie muss sehr verzweifelt gewesen sein.

Meine Großmutter war also eine Heimbewohnerin mit »herausforderndem Verhalten«. Und wie in vielen stationären Pflegeeinrichtungen waren die Arbeitsbedingungen dort schwierig, es war keine Zeit, sich um solche Bewohner hinreichend zu kümmern. Ich machte mir große Sorgen und fuhr so oft es ging zu ihr. Ich traf sie stets auf dem Gang an, während sie den Ausgang suchte. Sie roch streng, war ungewaschen und trug manchmal fünf Pullover und Hemden übereinander. Oft schien sie den ganzen Tag nichts getrunken zu haben. Mir wurde dabei immer wieder gesagt, dass das Pflegepersonal keine Zeit habe, die Bewohner ständig ans Trinken zu erinnern. Da seien schon die Angehörigen in der Pflicht, sich – als Teil des pflegerischen Versorgungskonzepts – einzubringen.

Ich verstehe das. Die Pflegekräfte stehen unter enormem Druck und Angehörige wie ich, die dann auch noch mit Vorwürfen aufwarten, machen die Situation noch angespannter. Das Personal gab sein Bestes. Und ich auch. Nur studierte ich zu der Zeit in Regensburg, fast drei Autostunden von meiner Großmutter entfernt, und konnte nicht jeden Tag bei ihr sein. Und so baute sie vor unser aller Augen jeden Tag ein bisschen mehr ab, vor allem körperlich. Ich hielt das irgendwann nicht mehr aus. Eines Tages setzte ich sie ins Auto und fuhr sie nach Hause. Ich merkte sofort, als sie an der Haustür stand, dass sie trotz der schweren Demenz wusste, wo sie war. Sie strahlte mich an, sagte: »Ich mach uns jetzt eine Suppe«, und lief zielgerichtet in ihre Küche. Ich war geschockt, überglücklich und weinte. Ich hatte ihr eine Riesenfreude gemacht, und dieser kleine, von ihr gesprochene Satz war so »typisch Oma«, dass ich tatsächlich die vage Hoffnung hatte, »sie würde noch mal werden«.

Natürlich war dem nicht so. In der Küche stellte sie eine Tupperdose auf den Herd und schaltete ihn ein. Die Dose schmolz bereits, als ich dazukam. Dieser Ort weckte mit Sicherheit bestimmte Erinnerungen in meiner Großmutter, jedoch lösten sie nur vollkommen wirres Verhalten aus. Die Toilette fand sie gar nicht mehr, sodass ich sie am Abend erst mal wie ein kleines Kind duschen und stundenlang das Haus putzen musste. Sie hatte ihr Geschäft in mehreren Zimmern verrichtet. Nachts schlief sie nicht und lief verwirrt umher, schon nach einem Tag war ich fix und fertig. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie zurück ins Heim zu bringen, brach mir das Herz. Aber es ging nicht anders. Ich musste wieder zur Uni und ließ meine Großmutter in diesen fremden Räumen zurück, die sie vermutlich wie ein Gefängnis empfand.

Meine Familie bekam damals keine Beratung. Wir wussten nicht, welche Möglichkeiten es gegeben hätte, ihr zu helfen. Wir waren völlig allein gelassen und ich mit zwanzig nicht weitsichtig genug, um selbst aktiv werden zu können....

Erscheint lt. Verlag 20.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie
Schlagworte Alzheimer • Demenz • Demenzformen • demenz stadien • Demenz Symptome • eBooks • frontotemporale Demenz • Gesundheit • Gesundheitssystem • Medizin • Ratgeber • Umgang mit Demenz • vaskuläre Demenz • Vergesslichkeit
ISBN-10 3-641-27874-0 / 3641278740
ISBN-13 978-3-641-27874-8 / 9783641278748
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