Freundschaft und Verbundenheit durch Scherzbeziehungen (eBook)
136 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-347-05726-5 (ISBN)
Ulla Fels, born in Stuttgart in 1952, studied ethnology (MA) and worked as a documentary filmaker and journalist. She lives in Hamburg / Germany. www.felsfilm.de www.taiji-qigong-hh.de
Ulla Fels, geb. 1952, lebt in Hamburg, ist Ethnologin, freie Autorin und arbeitete als Dokumentarfilmerin in verschiedenen Ländern der Welt. Ihr großes Interesse ist die Lebensweise, Kommunikation und soziokulturelle Prägung von Menschen in anderen Gesellschaften. Ihr Spetialgebiet ist Westafrika.
Scherzbeziehungen? Noch nie gehört!
Ich kann mich nicht genau erinnern, wer mir die folgende Geschichte erzählte. Vielleicht war es der Ethnologe Tirmiziou Diallo, ein Freund aus Guinea Conacry. Dorthin begab sich nämlich der französische Ministerpräsident Charles de Gaulle kurz vor der Unabhängigkeit des Landes 1958. Zu seiner Begrüßung gab es ein großes Fest. Nach einer Militärparade und verschiedenen Redebeiträgen trat auch das nationale Tanzensemble auf. Die Damen des Ensembles hatten ihre nackten Brüste mit der französischen Trikolore bemalt. Dazu trugen sie - um allen kolonialen Vorurteilen gerecht zu werden - kurze Baströckchen, ganz entgegen ihrer meist muslimischen Tradition sich zu kleiden. Hinter dieser provokativen Darbietung stand eine humorvoll gemeinte Absicht. Es handelte sich um ein nonverbales Angebot der guineischen Gastgeber*innen, die bisher recht angespannte Beziehung mit Frankreich gegen eine gleichberechtigte, konfliktärmere einzutauschen. De Gaulle verstand dieses Anliegen jedoch nicht. Er war überhaupt nicht belustigt. Vielmehr fühlte er sich durch die in seinen Augen schamlose Darbietung in seiner französischen Ehre gekränkt, stand entrüstet auf und verließ die Tribüne. So wurde die Chance verpasst, eine Scherzbeziehung zwischen Guinea Conacry und Frankreich zu etablieren.
Wieso wusste de Gaulle nichts über Scherzbeziehungen? Die Kenntnis darüber hätte doch bei einer so wichtigen, internationalen Begegnung sehr hilfreich sein können. Vermutlich aber fiel das tatsächlich schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorhandene ethnologische Wissen über diese kulturelle Besonderheit der Kolonisierten dem alltäglichen, mehr oder minder latenten Rassismus zum Opfer. Für den französischen Ministerpräsidenten standen wichtigere Themen wie z. B. die ökonomischen und politischen Interessen Frankreichs im Vordergrund.
Bereits 1912 führte Robert Lowie den etwas unscharfen Begriff „Joking Relationship“ - Scherzverwandtschaft oder -beziehung in den ethnologischen Sprachgebrauch ein. Einige Jahre später benutzten Denise Paulme und Marcel Griaule den Begriff „Alliance à Plaisanterie“, wenn es sich um Verbindungen zwischen Nicht-Verwandten handelt. D. h. der Begriff Alliance à Plaisanterie - Scherzbeziehung beschreibt in allgemeiner Form das gesamte Phänomen. Entsprechende Verbindungen mit Nichtverwandten können im Deutschen auch Scherzallianzen oder -partnerschaften genannt werden. Nur bei Blutsverwandten kann man von Scherzverwandtschaft sprechen.
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte der Ethnologe Alfred Radcliffe-Brown bei den Bewohnern der vor Myanmar gelegenen Andaman Inseln und bei den australischen Aboriginals, dass Scherzbeziehungen häufig respektvollen Beziehungen gegenübergestellt sind. Beide Formen drücken nach Aussage seiner Informanten Gefühle starker Freundschaft aus. Später sammelte er in Afrika, Ozeanien, Indien und bei nordamerikanischen indigenen Völkern weiteres Material zu den Scherzpartnerschaften. 1940 veröffentlichte er schließlich seine Erkenntnisse über die allgemeine Struktur und Funktion der Scherzbeziehungen unter dem Titel „On Joking Relationships“. Mit diesem Werk schuf er eine theoretische Grundlage, der viele spätere Autoren nur ethnographische Details hinzufügen konnten.
Eine Ausnahme bildete sein französischer Kollege Marcel Griaule mit einem ganz eigenen Forschungsansatz, der von manchen anderen Ethnologen als unwissenschaftlich kritisiert wurde. Viele seiner philosophisch anmutenden Erkenntnisse stammten nämlich aus Gesprächen mit nur einem Hauptinformanten im Norden Malis, einem alten Dogon namens Ogotemmeli, der ihm die verschiedenen Aspekte seiner Kultur als ein in sich geschlossenes Weltbild vermittelte. Im Gegensatz zu Radcliffe-Brown versuchte Griaule deshalb, die Scherzallianzen im Rahmen der Gesamtkultur - insbesondere der Dogonmetaphysik - zu betrachten. Für ihn ließ sich das Scherzbeziehungskonzept nicht von dem sozialen, religiösen und moralischen Weltbild der untersuchten Gesellschaft trennen. Seine Herangehensweise führte zu Schlussfolgerungen über die reinigende und schlichtende Wirkung der Scherzpartnerschaften, die er 1948 in einem Artikel zur Scherzbeziehung der Dogon und Bozo mit dem Titel „L`Alliance Cathartique“ – „Kathartische Allianz“ veröffentlichte. Dem strukturellen Ansatz Radcliffe-Browns wirft er darin vor, verschiedene, von außen betrachtet, ähnliche Phänomene unter dem Namen Scherzbeziehung in einen Topf zu werfen, ohne deren gemeinsame Natur bewiesen zu haben. „Glocken läuten bei Trauerfeiern und bei Hochzeiten. Aber trotzdem käme niemand auf die Idee, so zu tun, als ließen sich Beerdigungen und Hochzeitsfeiern in einer Reihe von Glockenzeremonien unter einen Hut bringen.“18
Die meisten späteren Autoren ergänzen entweder die von Radcliffe-Brown aufgestellten Thesen mit ethnographischen Details aus ihrem Forschungsgebiet oder suchen seinen Strukturfunktionalismus mit derartigen Details zu widerlegen. In Hinblick auf die Scherzbeziehungsforschung beziehen sich jedoch englisch- und französischsprachige Ethnologen fast nie aufeinander. So scheint es auch hier immer noch die Kluft zwischen den akademischen Herangehensweisen zu geben, die schon 1968 von der englischen Anthropologin Mary Douglas kritisiert wurde. Damals äußerte sie den ironischen Wunsch, die außerordentliche, metaphysische Subtilität der Franzosen möge sich mit der niedrigen soziologischen List der Anglosachsen verbinden.19
1968 untersuchte Mary Douglas die Phänomene Scherz und Gelächter mit dem Anspruch, eine umfassendere Analyse der Scherzriten und - beziehungen zu erstellen. Sie erkannte, dass es für die Ethnologen Anfang des Jahrhunderts noch keinesfalls selbstverständlich war, Sigmund Freud, Henri Bergson oder sogar die Surrealisten in ihre Überlegungen mit einzubeziehen. Sie wollten in erster Linie die ernsthafte Wissenschaftlichkeit ihres Untersuchungsgebietes etablieren. So schrieb Radcliffe-Brown über die Scherzbeziehungen aus einer ganz und gar humorlosen, trockenen Perspektive, und Stefaniszyn übersetzte Beispiele obszöner, beleidigender Scherze moralinsauer ins Latein.20
Der guineische Ethnologe Sory Camara war der erste afrikanische Wissenschaftler, der in seiner 1976 veröffentlichten Untersuchung über Griots21 bei den Malinke, die Scherzbeziehungen in die konsequente Analyse des sozialen und politischen Beziehungsgeflechts seiner gesamten Gesellschaft einordnete. Sory Camara unterschied wie auch schon Griaule und Paulme vor ihm, ob Scherzbeziehungen eine Verbindung überhaupt erst begründen – „Alliance à Plaisanterie“, oder ob sie eine vorhandene, verwandtschaftliche Beziehung durch diesen Aspekt bereichern – „Parenté à Plaisanterie“.
Vermutlich angeregt durch das neu entfachte Interesse an Scherzbeziehungen im politischen Geschehen westafrikanischer Länder, veröffentlichte die Edition EHESS der Elitehochschule für Sozialwissenschaften in Paris 2006 einen Band mit dem Titel „Parentés, Plaisanteries et Politique“ – „Verwandtschaftsbeziehungen, Scherze und Politik“. Allerdings findet sich unter den europäischen und amerikanischen Autor*innen nur ein einziger afrikanischer Wissenschaftler, obwohl seit dem Ende des letzten Jahrhunderts verschiedene Artikel und wissenschaftliche Arbeiten afrikanischer Autoren zu diesem Thema publiziert wurden.
Je nach Forschungsgebiet und Schwerpunkt legen die Wissenschaftler*innen auf unterschiedliche Aspekte der Scherzbeziehungen wert: Manche sehen in ihnen eine besondere kommunikative Technik, um mit Interessenskonflikten umzugehen. Andere wiederum betrachten die Mediation als wichtigsten Aspekt, weil durch sie der soziale und politische Frieden aufrechterhalten werden kann. Und für wieder andere besteht in den Scherzpartnerschaften die Möglichkeit, eigenen ökonomischen und sozialen Interessen nachzugehen. In Erweiterung all dieser verschiedenen Standpunkte sehe ich selbst die Scherzbeziehungen als Methode, sich mit einer Gemeinschaft emotional verbunden und mit allen menschlichen Facetten in ihr aufgehoben zu fühlen. Die Scherzpartnerschaften befriedigen durch gemeinsames Gelächter das grundlegende Bedürfnis der Menschen nach Augenblicken von Entspannung und Glücksgefühl.
Scherzbeziehungen kommen in unterschiedlichsten Situationen und sozialen Strukturen vor und sind dadurch vielfältig und schwer zu fassen. Trotzdem wecken sie seit mehr als hundert Jahren bei französisch- und englischsprachigen Wissenschaftler*innen immer wieder großes Interesse. Ihre Arbeiten und Ergebnisse regten weitere Sozialforscher*innen an, humorvolle Provokationen in den Industrienationen zu untersuchen22. In der deutschen Ethnologie werden Scherzbeziehungen jedoch kaum erwähnt. Und auch de Gaulle wusste nichts von ihnen.
Ich selbst habe in den neunziger und Anfang zweitausender Jahren ausführliche Recherchen zu den Scherzbeziehungen der Mandinka und anderer Volksgruppen in Senegambia...
Erscheint lt. Verlag | 17.3.2021 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alliance Cathartique • Dissen • Humor • Humor in Afrika • Humorvolle Kommunikation • joking relationship • Kommunikation in Westafrika • Lachen • Lachen in Afrika • Parenté á Plaisanterie • Playing the Dozen • Scherzbeziehung • Scherzbeziehungen in Afrika • Scherzbeziehungen in Europa • Scherzbeziehungen in Westafrika • scherzhafte Beleidigung • scherzhafte Beleidigung in Afrika • scherzhafte Kommunikation • scherzhafte Provokation • Scherzkommunikation • Solidarsystem in Westafrika • soziale Praxis mit Humor |
ISBN-10 | 3-347-05726-0 / 3347057260 |
ISBN-13 | 978-3-347-05726-5 / 9783347057265 |
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