Europas geteilter Himmel (eBook)

Warum der Westen den Osten nicht versteht
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2021 | 1. Auflage
304 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-492-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Europas geteilter Himmel - Norbert Mappes-Niediek
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Durch die Geschichte hindurch blickte der Westen auf den Osten herab. Mal war er der Burggraben, der die Festung Europa von den Weiten Asiens trennte, mal eine Art Vorzimmer, mal die Nachhut auf dem großen Weg in die Zukunft. Umgekehrt fühlte sich der Osten vom westlichen Vorbild verkannt und geringgeschätzt, ärgerte sich über dessen Gleichgültigkeit und Arroganz. Die Konflikte werden gerade wieder aktuell.
Norbert Mappes-Niediek beschäftigt sich seit Jahrzehnten als Korrespondent und Politikberater mit Osteuropa. In seinem Buch erklärt er, warum der Ost-West-Gegensatz nach dem Ende des Kalten Krieges nicht überwunden wurde, sondern sich neu aufgebaut hat. Und er zeigt Wege auf, wie man besser miteinander umgehen kann. Der Westen sollte den Osten nicht erziehen wollen, sondern einfach versuchen, ihn zu verstehen.



Norbert Mappes-Niediek, Jahrgang 1953; lebt seit 1992 als freier Korrespondent für Österreich und Südosteuropa in der Steiermark/Österreich, 1994/95 Berater des UNO-Sonderbeauftragten für das ehemalige Jugoslawien, Yasushi Akashi. Er schreibt u.a. für Frankfurter Rundschau, Standard (Wien) und NRC Handelsblad (Rotterdam).

Der Missionar und der Intrigant


Geschichte: Ein missglückter Besuch, sein Grund und seine Folgen


»Ich bin nicht gekommen, um mich verwirren zu lassen«, ließ der Gast aus dem Westen sich vernehmen, »sondern um euch zu bessern.« Die Angesprochenen waren wie vom Donner gerührt. Auf den Schrecken folgte Empörung. »Man kann gar nicht sagen«, schreibt einer, der dabei war, »wie viel Frechheit, Anmaßung und Überheblichkeit« die Fremden an den Tag gelegt hätten. »Hochnäsig« und »kühn« hätten sie dahergeredet. Grußlos seien sie dahergekommen. »Sie dachten gar nicht daran, nur ein kleines bisschen den Kopf zu senken.«

Dass der Gast in dem unglücklichen Treffen, von dem hier die Rede ist, so arrogant herüberkam, ist kein Zufall und auch keine reine Charakterfrage. Sein Auftrag war, in einem wichtigen Zentrum des europäischen Ostens für Ordnung zu sorgen und umfangreiche Reformen durchzusetzen. Für den Auftrag wurde ein Mann gebraucht, auf den man sich verlassen konnte und der sich von Einwänden nicht beirren ließ. Fremdsprachenkenntnisse und interkulturelle Kompetenz waren von Vorteil, aber nicht Bedingung. Wichtiger war, dass der Emissär sein Anliegen in aller Klarheit über die Rampe brachte. Längst nicht jeder war für diesen Job geeignet.

Der, um den es hier geht, brachte jedenfalls die besten Voraussetzungen mit. In seiner bisherigen Karriere hatte er ähnliche Herausforderungen schon bestanden. Seine Biografie versprach maximale Loyalität. Sehr früh schon im selben Betrieb sozialisiert, war er einem mächtigen Älteren aufgefallen, der ihn zu seinem persönlichen Sekretär machte. Als der Chef Jahre später zum Vorstandsvorsitzenden aufstieg, nahm er seinen Büroleiter mit in die Zentrale. Dort, in der Metropole des Westens, kamen beide in eine fremde und potenziell feindselige Umgebung. An Machthabern und Platzhirschen, an Domänen, Tabus und ungeschriebenen Gesetzen mangelte es am neuen Wirkungsort nicht. Wohin man auch trat war eine Falle aufgestellt. Lokale Details, Erinnerungen, Gerüchte, die er machtpolitisch hätte ausschlachten können, kannte der treue Sekretär nicht; um sich durchzusetzen, musste der Neuling besonders forsch auftreten, große Linien ziehen, strenge Vorgaben verordnen. Mit der Aufgabe, dem Chef unter solchen Bedingungen den Rücken freizuhalten, hätte jeder andere sich noch schwerer getan.

Kurz: Für die schwierige Mission im Osten schien der bewährte enge Weggefährte des Chefs genau der richtige Mann zu sein. Indes, es schien nur so. Seine Stärken: Durchsetzungskraft, Loyalität, Sendungsbewusstsein, wandelten sich in der fremden Umgebung zu Handicaps. Sie sollten sich fatal auswirken. In der östlichen Hauptstadt war der Emissär zunächst auf ein zögerndes Entgegenkommen gestoßen, das er prompt falsch deutete und das er, statt sich geschmeidig und kompromissbereit zu zeigen, als Einladung für ein besonders forsches Auftreten nahm – ein Fehler, dem auch seine Nachfolger in vergleichbarer Mission schockweise zum Opfer fielen. Auch vertat er sich gründlich in der Einschätzung der Machtverhältnisse an seinem Einsatzort. An der Spitze der formalen Hierarchie war er freundlich aufgenommen worden. Ein gutes Zeichen aber war das gerade nicht.

Auch sonst fehlte es nicht an Missverständnissen. Die Kritik, die östliche Fachleute an seinen Plänen und Ideen übten, war mehr formaler als inhaltlicher Art und schien dem Gast aus dem Westen deshalb – vollkommen zu Unrecht, wie sich bald herausstellen sollte – als leicht überwindbar. Mehr noch: Sein ärgster Widersacher war in der Materie, um die gestritten wurde, offensichtlich nicht besonders bewandert. Wo der Mann aus dem Westen komplizierte Debatten erwartet hatte, stieß er nur auf Machtpoker, Eitelkeiten und undurchsichtige Querelen. Seiner großen Reformidee in ihrer Kühnheit und logischen Stimmigkeit war hier niemand gewachsen, schloss er. Aber es nützte ihm alles nichts. Der Konflikt eskalierte, wurde heftig und endete im Desaster.

Dass die Geschichte des ersten Ost-West-Zusammenpralls nie als Problem von Verhandlungsstrategie, »Message«, Management-Qualitäten und Personalauswahl beschrieben wird, liegt am Timing. Die Begegnung fand im Jahre 1054 unserer Zeitrechnung statt. Erzählt wird sie in historischen und meistens in religions- oder kulturgeschichtlichen Kategorien. Das hat seinen triftigen Grund: Das Treffen ist als ost-westliche Kirchenspaltung in die Schulbücher eingegangen, ein Datum fast so prominent wie die Ermordung Cäsars, die Französische Revolution oder das Ende des Zweiten Weltkriegs. Ob das Treffen wirklich so ein historischer Einschnitt war, bezweifelt die Wissenschaft heute; offenbar war das große »morgenländische Schisma« im Osten schon nach einer Generation erst einmal wieder vergessen. Aber der Charakter der Mission, der Auftritt der westlichen Delegation, die östlichen Reaktionen, der Verlauf der mehrere Monate dauernden Auseinandersetzung, die Haltungen und selbst die Argumente halten noch für heutige Grenzgänger von West nach Ost wie von Ost nach West eine Lehre bereit.

Humbert hieß der Mann aus dem Westen.9 Er war schon als Kind von den Eltern ins Kloster geschickt und dort gründlich ausgebildet worden. Der tüchtige junge Mönch fiel dem Bischof im nahen Toul auf, der machte ihn tatsächlich zu seinem Sekretär. Als der Bischof Jahre später zum Papst gewählt wurde, nahm er Humbert zusammen mit einer kleinen Truppe jüngerer, engagierter Reformer mit sich in den Palast.

Das Karrieremuster formt Akteure, wie man sie auch heute kennenlernen kann. Nicht verändert haben sich auch die Schattenseiten einer solchen Laufbahn. Die römischen Adels familien betrachteten das Papstamt als ihre Domäne und hatten mit dem neuen »deutschen Papst«, einem Mann aus dem Elsass, wenig Freude. Moyenmoutier in den Vogesen, wo Humbert erzogen worden war, war ein sogenanntes Reformkloster. Anders als in vielen anderen Abteien, vor allem in Italien, wurde hier streng auf Disziplin, Bildung und wirtschaftliche Haushaltsführung geachtet, Tugenden, die allerdings nicht um ihrer selbst willen gepflegt wurden. Hinter der ordnenden Gewalt stand vielmehr eine große Idee.

Humberts Reise nach Konstantinopel ist gründlich dokumentiert.10 Sein Mentor, der sich jetzt Leo IX. nannte, hatte ihn an den Bosporus geschickt, um die dortige Kirche zur neuen römischen Räson zu bringen. Spannungen zwischen Rom und Konstantinopel, zwischen West und Ost, waren zwar nichts Neues. Die große Reform aber, die Papst Leo jetzt plante, musste besonders schwere Differenzen mit sich bringen. Die Kirche sollte nach der Idee zu einer unabhängigen, geistlichen Macht werden, kontrolliert nicht mehr von den lokalen Fürsten, sondern von einer energischen Zentrale in Rom. Es wurde ein schwieriger, langwieriger Kampf mit vielen Facetten und vielen Akteuren.

Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts sollten sich die Ideen Papst Leos und seines Sekretärs endgültig durchsetzen, allerdings nur im Westen des Kontinents. Es war eine Zeitenwende, die den Umbruch vom »realen Sozialismus« zu Demokratie und Marktwirtschaft an welthistorischer Bedeutung noch übertraf – die erste »Gewaltenteilung« nämlich: Weltliche und geistliche Macht gehorchten fortan ihren eigenen Gesetzen. Bis dahin war die Kirche vom Rest der mittelalterlichen Gesellschaft kaum zu unterscheiden. Adelige Familien pokerten in der ganzen Christenheit um einträgliche Bischofssitze und Abteien, und ihre Sprösslinge führten sich, wenn sie eine Position erobert hatten, nicht anders auf als ihre weltlichen Standesgenossen. Ein wichtiges Instrument, diese Praxis abzustellen und die Kirche unabhängig zu machen, war der Zölibat, ein Thema, dem sich der Reformer Humbert mit aller Leidenschaft widmete. Nur mit der Verpflichtung zur Ehelosigkeit ließen sich die Priester aus dem Machtsystem herauslösen. Solange sie Familie hätten, so der Gedanke, würden geistliche Würdenträger sich trotz noch so frommer Schwüre niemals wirksam daran hindern lassen, ihre Söhne in Ämter und Pfründen zu bugsieren und ihre Töchter strategisch zu verheiraten.

Durchsetzen mussten sich der neue Papst und seine Reformtruppe überall in der Christenheit, in Konstantinopel nicht weniger als in Frankreich oder Deutschland, wo Humbert, die harte rechte Hand des Papstes, nicht weniger als fünf »falsch geweihte« Bischöfe erfolgreich abgesetzt hatte. Nur sollte die disziplinierende Visite am Sitz des damals noch mächtigen oströmischen Kaisers und seines Patriarchen viel schwerer werden als jede andere.

Hier Anhänglichkeit an abstrakte Grundsätze und Treue zur Hierarchie, dort Korruption und totaler Machtkampf um alles und jedes: Das war aus westlicher Sicht das Setting der Begegnung. Entsprechend fielen die Rollen aus, die Gäste und Gastgeber einnahmen. Hier die...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2021
Zusatzinfo 6 Karten/Tabellen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Albanien • Balkan • Bosnien-Herzegowina • Bulgarien • Estland • Europäische Union • Kosovo • Kroatien • Kultur • Lettland • Litauen • Montenegro • Nordmazedonien • Orthodoxe Kirche • Osterweiterung • Osteuropa • Ost-West-Gegensätze • Polen • Rumänien • Russland • Serbien • Slowakei • Slowenien • Tschechien • Ungarn • Westeuropa • Wirtschaft
ISBN-10 3-86284-492-7 / 3862844927
ISBN-13 978-3-86284-492-0 / 9783862844920
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